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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
den anderen Vorwitzigen, die sich früherhin der Empörung gegen die alte
Kaisermacht erdreistet hatten. Auch König Friedrich wußte, daß der letzte
entscheidende Waffengang noch bevorstand. Er versuchte einmal während der
kurzen Friedensjahre, den Sohn Maria Theresias von der Kaiserwürde
auszuschließen, für die Zukunft mindestens das Reich von dem Hause
Oesterreich zu trennen; der Plan scheiterte an dem Widerspruche der
katholischen Höfe. Der unversöhnliche Gegensatz der beiden führenden
Mächte Deutschlands bestimmte auf lange hinaus den Gang der euro-
päischen Politik, entzog dem heiligen Reiche die letzte Lebenskraft. Die
Nation sah in banger Ahnung einen neuen dreißigjährigen Krieg herauf-
ziehen. Was in der stillen Arbeit schwerer Jahrzehnte langsam gereift
war erschien dem nächsten Menschenalter nur als ein wundersamer Zu-
fall, als das glückliche Abenteuer eines genialen Kopfes. Ganz einsam
steht in dem diplomatischen Briefwechsel des Zeitraums jenes Seherwort
des Dänen Bernstorff, der im Jahre 1759 traurig an Choiseul schrieb:
"Alles was Sie heute unternehmen um zu verhindern, daß sich in der
Mitte Deutschlands eine ganz kriegerische Monarchie erhebe, deren eiserner
Arm bald die kleinen Fürsten zermalmen wird -- das Alles ist verlorene
Arbeit!" Alle Nachbarmächte im Osten und im Westen grollten dem
Glücklichen, der aus den Wirren des österreichischen Erbfolgekrieges allein
den Siegespreis davongetragen, und wahrlich nicht nur der persönliche
Haß mächtiger Frauen wob an dem Netze der großen Verschwörung, das
sich über Friedrichs Haupte zusammenzuziehen drohte. Europa fühlte,
daß die altüberlieferte Gestalt der Staatengesellschaft ins Wanken kam,
sobald die sieghafte Großmacht in der Mitte des Festlands sich befestigte.
Der römische Stuhl sah mit Sorgen, wie die verhaßte Heimath der
Ketzerei ihren eigenen Willen wiederfand; nur durch Roms Mithilfe ist es
gelungen, daß die alten Feinde, die beiden katholischen Großmächte
Oesterreich und Frankreich zum Kampfe gegen Preußen sich vereinten.
Es galt, die Ohnmacht Deutschlands zu verewigen.

Durch einen verwegenen Angriff rettete der König seine Krone vor
dem sicheren Verderben, und als er nun durch sieben entsetzliche Jahre
seinen deutschen Staat am Rhein und Pregel, an der Peene und den
Riesenbergen gegen fremde und halbfremde Heere vertheidigt hatte und im
Frieden den Bestand seiner Macht bis auf das letzte Dorf behauptete, da
schien Preußen wieder an derselben Stelle zu stehen wie beim Beginn des
mörderischen Kampfes. Kein Fußbreit deutscher Erde war ihm gewonnen,
das halbe Land lag verwüstet, die reiche Friedensarbeit dreier Geschlechter
war nahezu vernichtet, die unglückliche Neumark begann die Arbeit der
Cultur zum vierten male von vorn. Der König selber konnte niemals ohne
Bitterkeit jener schrecklichen Tage gedenken, da das Unglück alle Pein, die ein
Mann ertragen mag, bis über das Maß des Menschlichen hinaus, auf
seine Schultern häufte; was er damals gelitten erschien ihm wie die sinnlos

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
den anderen Vorwitzigen, die ſich früherhin der Empörung gegen die alte
Kaiſermacht erdreiſtet hatten. Auch König Friedrich wußte, daß der letzte
entſcheidende Waffengang noch bevorſtand. Er verſuchte einmal während der
kurzen Friedensjahre, den Sohn Maria Thereſias von der Kaiſerwürde
auszuſchließen, für die Zukunft mindeſtens das Reich von dem Hauſe
Oeſterreich zu trennen; der Plan ſcheiterte an dem Widerſpruche der
katholiſchen Höfe. Der unverſöhnliche Gegenſatz der beiden führenden
Mächte Deutſchlands beſtimmte auf lange hinaus den Gang der euro-
päiſchen Politik, entzog dem heiligen Reiche die letzte Lebenskraft. Die
Nation ſah in banger Ahnung einen neuen dreißigjährigen Krieg herauf-
ziehen. Was in der ſtillen Arbeit ſchwerer Jahrzehnte langſam gereift
war erſchien dem nächſten Menſchenalter nur als ein wunderſamer Zu-
fall, als das glückliche Abenteuer eines genialen Kopfes. Ganz einſam
ſteht in dem diplomatiſchen Briefwechſel des Zeitraums jenes Seherwort
des Dänen Bernſtorff, der im Jahre 1759 traurig an Choiſeul ſchrieb:
„Alles was Sie heute unternehmen um zu verhindern, daß ſich in der
Mitte Deutſchlands eine ganz kriegeriſche Monarchie erhebe, deren eiſerner
Arm bald die kleinen Fürſten zermalmen wird — das Alles iſt verlorene
Arbeit!“ Alle Nachbarmächte im Oſten und im Weſten grollten dem
Glücklichen, der aus den Wirren des öſterreichiſchen Erbfolgekrieges allein
den Siegespreis davongetragen, und wahrlich nicht nur der perſönliche
Haß mächtiger Frauen wob an dem Netze der großen Verſchwörung, das
ſich über Friedrichs Haupte zuſammenzuziehen drohte. Europa fühlte,
daß die altüberlieferte Geſtalt der Staatengeſellſchaft ins Wanken kam,
ſobald die ſieghafte Großmacht in der Mitte des Feſtlands ſich befeſtigte.
Der römiſche Stuhl ſah mit Sorgen, wie die verhaßte Heimath der
Ketzerei ihren eigenen Willen wiederfand; nur durch Roms Mithilfe iſt es
gelungen, daß die alten Feinde, die beiden katholiſchen Großmächte
Oeſterreich und Frankreich zum Kampfe gegen Preußen ſich vereinten.
Es galt, die Ohnmacht Deutſchlands zu verewigen.

Durch einen verwegenen Angriff rettete der König ſeine Krone vor
dem ſicheren Verderben, und als er nun durch ſieben entſetzliche Jahre
ſeinen deutſchen Staat am Rhein und Pregel, an der Peene und den
Rieſenbergen gegen fremde und halbfremde Heere vertheidigt hatte und im
Frieden den Beſtand ſeiner Macht bis auf das letzte Dorf behauptete, da
ſchien Preußen wieder an derſelben Stelle zu ſtehen wie beim Beginn des
mörderiſchen Kampfes. Kein Fußbreit deutſcher Erde war ihm gewonnen,
das halbe Land lag verwüſtet, die reiche Friedensarbeit dreier Geſchlechter
war nahezu vernichtet, die unglückliche Neumark begann die Arbeit der
Cultur zum vierten male von vorn. Der König ſelber konnte niemals ohne
Bitterkeit jener ſchrecklichen Tage gedenken, da das Unglück alle Pein, die ein
Mann ertragen mag, bis über das Maß des Menſchlichen hinaus, auf
ſeine Schultern häufte; was er damals gelitten erſchien ihm wie die ſinnlos

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[58/0074] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. den anderen Vorwitzigen, die ſich früherhin der Empörung gegen die alte Kaiſermacht erdreiſtet hatten. Auch König Friedrich wußte, daß der letzte entſcheidende Waffengang noch bevorſtand. Er verſuchte einmal während der kurzen Friedensjahre, den Sohn Maria Thereſias von der Kaiſerwürde auszuſchließen, für die Zukunft mindeſtens das Reich von dem Hauſe Oeſterreich zu trennen; der Plan ſcheiterte an dem Widerſpruche der katholiſchen Höfe. Der unverſöhnliche Gegenſatz der beiden führenden Mächte Deutſchlands beſtimmte auf lange hinaus den Gang der euro- päiſchen Politik, entzog dem heiligen Reiche die letzte Lebenskraft. Die Nation ſah in banger Ahnung einen neuen dreißigjährigen Krieg herauf- ziehen. Was in der ſtillen Arbeit ſchwerer Jahrzehnte langſam gereift war erſchien dem nächſten Menſchenalter nur als ein wunderſamer Zu- fall, als das glückliche Abenteuer eines genialen Kopfes. Ganz einſam ſteht in dem diplomatiſchen Briefwechſel des Zeitraums jenes Seherwort des Dänen Bernſtorff, der im Jahre 1759 traurig an Choiſeul ſchrieb: „Alles was Sie heute unternehmen um zu verhindern, daß ſich in der Mitte Deutſchlands eine ganz kriegeriſche Monarchie erhebe, deren eiſerner Arm bald die kleinen Fürſten zermalmen wird — das Alles iſt verlorene Arbeit!“ Alle Nachbarmächte im Oſten und im Weſten grollten dem Glücklichen, der aus den Wirren des öſterreichiſchen Erbfolgekrieges allein den Siegespreis davongetragen, und wahrlich nicht nur der perſönliche Haß mächtiger Frauen wob an dem Netze der großen Verſchwörung, das ſich über Friedrichs Haupte zuſammenzuziehen drohte. Europa fühlte, daß die altüberlieferte Geſtalt der Staatengeſellſchaft ins Wanken kam, ſobald die ſieghafte Großmacht in der Mitte des Feſtlands ſich befeſtigte. Der römiſche Stuhl ſah mit Sorgen, wie die verhaßte Heimath der Ketzerei ihren eigenen Willen wiederfand; nur durch Roms Mithilfe iſt es gelungen, daß die alten Feinde, die beiden katholiſchen Großmächte Oeſterreich und Frankreich zum Kampfe gegen Preußen ſich vereinten. Es galt, die Ohnmacht Deutſchlands zu verewigen. Durch einen verwegenen Angriff rettete der König ſeine Krone vor dem ſicheren Verderben, und als er nun durch ſieben entſetzliche Jahre ſeinen deutſchen Staat am Rhein und Pregel, an der Peene und den Rieſenbergen gegen fremde und halbfremde Heere vertheidigt hatte und im Frieden den Beſtand ſeiner Macht bis auf das letzte Dorf behauptete, da ſchien Preußen wieder an derſelben Stelle zu ſtehen wie beim Beginn des mörderiſchen Kampfes. Kein Fußbreit deutſcher Erde war ihm gewonnen, das halbe Land lag verwüſtet, die reiche Friedensarbeit dreier Geſchlechter war nahezu vernichtet, die unglückliche Neumark begann die Arbeit der Cultur zum vierten male von vorn. Der König ſelber konnte niemals ohne Bitterkeit jener ſchrecklichen Tage gedenken, da das Unglück alle Pein, die ein Mann ertragen mag, bis über das Maß des Menſchlichen hinaus, auf ſeine Schultern häufte; was er damals gelitten erſchien ihm wie die ſinnlos

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/74>, abgerufen am 09.11.2024.