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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Rückzug von Ligny.
taillons umkehren; lachend sehen die Westphalen mit an, wie die schweren
Reiter sich unter ihren gefallenen Pferden hervorwinden und, den Küraß
mit beiden Händen haltend, zu Fuß das Weite suchen. Die Uhlanen
und die Landwehrreiter sammeln sich wieder, dringen von Neuem vor-
wärts; herüber und hinüber fluthen die Massen der Kämpfer. Mitten
in dem wilden Getümmel trabt Gneisenau, zieht den Säbel, sagt fröhlich
zu Major Bardeleben, der wehrlos, den Arm in der Binde, neben ihm
reitet: "halten Sie Sich nur an mich; ein Hundsfott, wenn ich Sie nicht
heraushaue!" Zugleich drängen sich die aus Ligny vertriebenen Regimenter
gegen Brye zurück, langsam, unablässig feuernd, aber in ungeordneten
Schwärmen. Die Mitte der Schlachtstellung ist schon nahezu durchbrochen.

Auch St. Amand la Haye wird endlich geräumt; unaufhaltsam dringt
der Feind gegen die Höhe von Bussy. Kurz vor Einbruch der Nacht
braust ein Gewitter über das Schlachtfeld; das Rollen des Donners und
das Geheul des Sturmes übertäubt während einer halben Stunde den
Lärm der Schlacht. Doch mitten in der Finsterniß des Unwetters tobt
der Kampf weiter; die erschöpften Soldaten athmen auf bei dem frischen
Luftzuge. Die Geschlagenen sammeln sich um Brye und den Hügel von
Bussy, das Vorrücken des Feindes geräth hier ins Stocken. Währenddem
war der Feldmarschall verschwunden. Schon bei jener ersten Attake der
Uhlanen hatte eine Kugel sein Pferd getroffen, und er lag nun lange
fast bewußtlos unter dem schweren Thiere; ohne ihn zu bemerken stürmten
Freund und Feind mehrmals dicht an ihm vorüber, nur sein getreuer
Adjutant Graf Nostitz hielt bei ihm aus, bis endlich Major v. d. Busche
von den Elb-Landwehrreitern herbeikam und den Betäubten auf einem
Soldatenpferde hinwegführte. Aber in der Verwirrung der Nacht ver-
gingen mehrere Stunden bevor die Rettung des Feldherrn bekannt wurde.

Die Führung des Heeres lag für jetzt allein auf den Schultern
Gneisenaus, der eine Weile schweigend in der Nähe von Brye hielt. Die
ihn so sahen in seiner majestätischen Ruhe ahnten nicht, welche schweren
Gedanken ihm Kopf und Herz bestürmten. Er hatte, wie Blücher und
Grolman, der Zusage Wellingtons volles Vertrauen geschenkt, noch vor
einer Stunde sicher auf den Sieg gerechnet und dachte mit Unmuth an
den englischen Feldherrn, der sein Wort so schlecht gehalten. Was schien
natürlicher, als dem Beispiel des Briten zu folgen, nur für die Sicherheit
des eigenen Heeres zu sorgen und den gefahrlosen Weg nach der deutschen
Grenze einzuschlagen? Die alte Römerstraße, die im Rücken des Schlacht-
feldes nordostwärts in das Maasthal führte, bot den Geschlagenen die
bequemste Rückzugslinie; hier mußte man bald mit Bülow, der von Osten
herankam, zusammentreffen und konnte später Verstärkungen aus Deutsch-
land an sich ziehen. Unwillkürlich hatte bereits ein Theil der Truppen
diesen Weg eingeschlagen, der auf den ersten Blick als der einzig mög-
liche erschien. Aber nahm die Armee die Richtung nach der Maas, so

Rückzug von Ligny.
taillons umkehren; lachend ſehen die Weſtphalen mit an, wie die ſchweren
Reiter ſich unter ihren gefallenen Pferden hervorwinden und, den Küraß
mit beiden Händen haltend, zu Fuß das Weite ſuchen. Die Uhlanen
und die Landwehrreiter ſammeln ſich wieder, dringen von Neuem vor-
wärts; herüber und hinüber fluthen die Maſſen der Kämpfer. Mitten
in dem wilden Getümmel trabt Gneiſenau, zieht den Säbel, ſagt fröhlich
zu Major Bardeleben, der wehrlos, den Arm in der Binde, neben ihm
reitet: „halten Sie Sich nur an mich; ein Hundsfott, wenn ich Sie nicht
heraushaue!“ Zugleich drängen ſich die aus Ligny vertriebenen Regimenter
gegen Brye zurück, langſam, unabläſſig feuernd, aber in ungeordneten
Schwärmen. Die Mitte der Schlachtſtellung iſt ſchon nahezu durchbrochen.

Auch St. Amand la Haye wird endlich geräumt; unaufhaltſam dringt
der Feind gegen die Höhe von Buſſy. Kurz vor Einbruch der Nacht
brauſt ein Gewitter über das Schlachtfeld; das Rollen des Donners und
das Geheul des Sturmes übertäubt während einer halben Stunde den
Lärm der Schlacht. Doch mitten in der Finſterniß des Unwetters tobt
der Kampf weiter; die erſchöpften Soldaten athmen auf bei dem friſchen
Luftzuge. Die Geſchlagenen ſammeln ſich um Brye und den Hügel von
Buſſy, das Vorrücken des Feindes geräth hier ins Stocken. Währenddem
war der Feldmarſchall verſchwunden. Schon bei jener erſten Attake der
Uhlanen hatte eine Kugel ſein Pferd getroffen, und er lag nun lange
faſt bewußtlos unter dem ſchweren Thiere; ohne ihn zu bemerken ſtürmten
Freund und Feind mehrmals dicht an ihm vorüber, nur ſein getreuer
Adjutant Graf Noſtitz hielt bei ihm aus, bis endlich Major v. d. Buſche
von den Elb-Landwehrreitern herbeikam und den Betäubten auf einem
Soldatenpferde hinwegführte. Aber in der Verwirrung der Nacht ver-
gingen mehrere Stunden bevor die Rettung des Feldherrn bekannt wurde.

Die Führung des Heeres lag für jetzt allein auf den Schultern
Gneiſenaus, der eine Weile ſchweigend in der Nähe von Brye hielt. Die
ihn ſo ſahen in ſeiner majeſtätiſchen Ruhe ahnten nicht, welche ſchweren
Gedanken ihm Kopf und Herz beſtürmten. Er hatte, wie Blücher und
Grolman, der Zuſage Wellingtons volles Vertrauen geſchenkt, noch vor
einer Stunde ſicher auf den Sieg gerechnet und dachte mit Unmuth an
den engliſchen Feldherrn, der ſein Wort ſo ſchlecht gehalten. Was ſchien
natürlicher, als dem Beiſpiel des Briten zu folgen, nur für die Sicherheit
des eigenen Heeres zu ſorgen und den gefahrloſen Weg nach der deutſchen
Grenze einzuſchlagen? Die alte Römerſtraße, die im Rücken des Schlacht-
feldes nordoſtwärts in das Maasthal führte, bot den Geſchlagenen die
bequemſte Rückzugslinie; hier mußte man bald mit Bülow, der von Oſten
herankam, zuſammentreffen und konnte ſpäter Verſtärkungen aus Deutſch-
land an ſich ziehen. Unwillkürlich hatte bereits ein Theil der Truppen
dieſen Weg eingeſchlagen, der auf den erſten Blick als der einzig mög-
liche erſchien. Aber nahm die Armee die Richtung nach der Maas, ſo

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[741/0757] Rückzug von Ligny. taillons umkehren; lachend ſehen die Weſtphalen mit an, wie die ſchweren Reiter ſich unter ihren gefallenen Pferden hervorwinden und, den Küraß mit beiden Händen haltend, zu Fuß das Weite ſuchen. Die Uhlanen und die Landwehrreiter ſammeln ſich wieder, dringen von Neuem vor- wärts; herüber und hinüber fluthen die Maſſen der Kämpfer. Mitten in dem wilden Getümmel trabt Gneiſenau, zieht den Säbel, ſagt fröhlich zu Major Bardeleben, der wehrlos, den Arm in der Binde, neben ihm reitet: „halten Sie Sich nur an mich; ein Hundsfott, wenn ich Sie nicht heraushaue!“ Zugleich drängen ſich die aus Ligny vertriebenen Regimenter gegen Brye zurück, langſam, unabläſſig feuernd, aber in ungeordneten Schwärmen. Die Mitte der Schlachtſtellung iſt ſchon nahezu durchbrochen. Auch St. Amand la Haye wird endlich geräumt; unaufhaltſam dringt der Feind gegen die Höhe von Buſſy. Kurz vor Einbruch der Nacht brauſt ein Gewitter über das Schlachtfeld; das Rollen des Donners und das Geheul des Sturmes übertäubt während einer halben Stunde den Lärm der Schlacht. Doch mitten in der Finſterniß des Unwetters tobt der Kampf weiter; die erſchöpften Soldaten athmen auf bei dem friſchen Luftzuge. Die Geſchlagenen ſammeln ſich um Brye und den Hügel von Buſſy, das Vorrücken des Feindes geräth hier ins Stocken. Währenddem war der Feldmarſchall verſchwunden. Schon bei jener erſten Attake der Uhlanen hatte eine Kugel ſein Pferd getroffen, und er lag nun lange faſt bewußtlos unter dem ſchweren Thiere; ohne ihn zu bemerken ſtürmten Freund und Feind mehrmals dicht an ihm vorüber, nur ſein getreuer Adjutant Graf Noſtitz hielt bei ihm aus, bis endlich Major v. d. Buſche von den Elb-Landwehrreitern herbeikam und den Betäubten auf einem Soldatenpferde hinwegführte. Aber in der Verwirrung der Nacht ver- gingen mehrere Stunden bevor die Rettung des Feldherrn bekannt wurde. Die Führung des Heeres lag für jetzt allein auf den Schultern Gneiſenaus, der eine Weile ſchweigend in der Nähe von Brye hielt. Die ihn ſo ſahen in ſeiner majeſtätiſchen Ruhe ahnten nicht, welche ſchweren Gedanken ihm Kopf und Herz beſtürmten. Er hatte, wie Blücher und Grolman, der Zuſage Wellingtons volles Vertrauen geſchenkt, noch vor einer Stunde ſicher auf den Sieg gerechnet und dachte mit Unmuth an den engliſchen Feldherrn, der ſein Wort ſo ſchlecht gehalten. Was ſchien natürlicher, als dem Beiſpiel des Briten zu folgen, nur für die Sicherheit des eigenen Heeres zu ſorgen und den gefahrloſen Weg nach der deutſchen Grenze einzuſchlagen? Die alte Römerſtraße, die im Rücken des Schlacht- feldes nordoſtwärts in das Maasthal führte, bot den Geſchlagenen die bequemſte Rückzugslinie; hier mußte man bald mit Bülow, der von Oſten herankam, zuſammentreffen und konnte ſpäter Verſtärkungen aus Deutſch- land an ſich ziehen. Unwillkürlich hatte bereits ein Theil der Truppen dieſen Weg eingeſchlagen, der auf den erſten Blick als der einzig mög- liche erſchien. Aber nahm die Armee die Richtung nach der Maas, ſo

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 741. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/757>, abgerufen am 22.11.2024.