Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.II. 2. Belle Alliance. nungen gestört. Er erfuhr um 1 Uhr durch einen aufgefangenen Brief,daß General Bülow auf dem Marsche sei gegen die rechte Flanke der Franzosen; und während er auf der Höhe bei Rossomme, im Rücken des Centrums, an seinem Kartentische stand, glaubte er auch schon fern im Osten bei dem hochgelegenen Dorfe Chapelle St. Lambert dunkle Trup- penmassen zu bemerken, die alsbald zwischen den Wellen des Bodens wie- der verschwanden. Ein sofort ausgesendeter Adjutant bestätigte die Vermu- thung. Gewaltsam suchte der Kaiser sich zu beruhigen und sendete vorläufig zwei Cavalleriedivisionen ostwärts über den rechten Flügel der Schlacht- stellung hinaus. Es war ja doch sicher nur das eine Corps Bülows, vielleicht nur ein Theil davon, und ehe die Preußen in die Schlacht ein- greifen konnten, mußte Wellington geschlagen sein. Seinen Offizieren aber sagte Napoleon mit zuversichtlicher Miene, Marschall Grouchy ziehe zur Unterstützung der rechten Flanke herbei: die Armee durfte von der Gefahr nichts ahnen. Währenddem war Erlon mit seinen vier Schlacht- haufen vorgerückt; schon während des Anmarsches erlitt er schwere Ver- luste, ganze Reihen in den tiefen Colonnen wurden von den englischen Kanonenkugeln niedergerissen. Es gelang zuerst eine niederländische Bri- gade in die Flucht zu schlagen; nur ein Theil der Truppen des jungen Königreichs bewährte sich; der alte Blücher hatte ganz recht gesehen, als er meinte, diese Belgier schienen "keine reißenden Thiere" zu sein. Dann aber brach das englische und hannoversche Fußvolk hinter den schützenden Hecken hervor, umfaßte mit seinen langen Linien die unbehilflichen Klumpen der Franzosen. Nach einem mörderischen Gefechte, bei dem der tapfere Picton den Tod fand, mußten die Angreifer zurückgehen. Ponsonbys schottische Reiter setzten nach, sprengten die Weichenden auseinander, drangen in unaufhaltsamem Laufe bis in die große Batterie der Franzosen; hier erst wurden sie durch französische Cavallerie zur Umkehr genöthigt. Der große Schlag war mißlungen. Und jetzt ließ sich schon nicht II. 2. Belle Alliance. nungen geſtört. Er erfuhr um 1 Uhr durch einen aufgefangenen Brief,daß General Bülow auf dem Marſche ſei gegen die rechte Flanke der Franzoſen; und während er auf der Höhe bei Roſſomme, im Rücken des Centrums, an ſeinem Kartentiſche ſtand, glaubte er auch ſchon fern im Oſten bei dem hochgelegenen Dorfe Chapelle St. Lambert dunkle Trup- penmaſſen zu bemerken, die alsbald zwiſchen den Wellen des Bodens wie- der verſchwanden. Ein ſofort ausgeſendeter Adjutant beſtätigte die Vermu- thung. Gewaltſam ſuchte der Kaiſer ſich zu beruhigen und ſendete vorläufig zwei Cavalleriediviſionen oſtwärts über den rechten Flügel der Schlacht- ſtellung hinaus. Es war ja doch ſicher nur das eine Corps Bülows, vielleicht nur ein Theil davon, und ehe die Preußen in die Schlacht ein- greifen konnten, mußte Wellington geſchlagen ſein. Seinen Offizieren aber ſagte Napoleon mit zuverſichtlicher Miene, Marſchall Grouchy ziehe zur Unterſtützung der rechten Flanke herbei: die Armee durfte von der Gefahr nichts ahnen. Währenddem war Erlon mit ſeinen vier Schlacht- haufen vorgerückt; ſchon während des Anmarſches erlitt er ſchwere Ver- luſte, ganze Reihen in den tiefen Colonnen wurden von den engliſchen Kanonenkugeln niedergeriſſen. Es gelang zuerſt eine niederländiſche Bri- gade in die Flucht zu ſchlagen; nur ein Theil der Truppen des jungen Königreichs bewährte ſich; der alte Blücher hatte ganz recht geſehen, als er meinte, dieſe Belgier ſchienen „keine reißenden Thiere“ zu ſein. Dann aber brach das engliſche und hannoverſche Fußvolk hinter den ſchützenden Hecken hervor, umfaßte mit ſeinen langen Linien die unbehilflichen Klumpen der Franzoſen. Nach einem mörderiſchen Gefechte, bei dem der tapfere Picton den Tod fand, mußten die Angreifer zurückgehen. Ponſonbys ſchottiſche Reiter ſetzten nach, ſprengten die Weichenden auseinander, drangen in unaufhaltſamem Laufe bis in die große Batterie der Franzoſen; hier erſt wurden ſie durch franzöſiſche Cavallerie zur Umkehr genöthigt. Der große Schlag war mißlungen. Und jetzt ließ ſich ſchon nicht <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0766" n="750"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 2. Belle Alliance.</fw><lb/> nungen geſtört. 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II. 2. Belle Alliance.
nungen geſtört. Er erfuhr um 1 Uhr durch einen aufgefangenen Brief,
daß General Bülow auf dem Marſche ſei gegen die rechte Flanke der
Franzoſen; und während er auf der Höhe bei Roſſomme, im Rücken
des Centrums, an ſeinem Kartentiſche ſtand, glaubte er auch ſchon fern
im Oſten bei dem hochgelegenen Dorfe Chapelle St. Lambert dunkle Trup-
penmaſſen zu bemerken, die alsbald zwiſchen den Wellen des Bodens wie-
der verſchwanden. Ein ſofort ausgeſendeter Adjutant beſtätigte die Vermu-
thung. Gewaltſam ſuchte der Kaiſer ſich zu beruhigen und ſendete vorläufig
zwei Cavalleriediviſionen oſtwärts über den rechten Flügel der Schlacht-
ſtellung hinaus. Es war ja doch ſicher nur das eine Corps Bülows,
vielleicht nur ein Theil davon, und ehe die Preußen in die Schlacht ein-
greifen konnten, mußte Wellington geſchlagen ſein. Seinen Offizieren
aber ſagte Napoleon mit zuverſichtlicher Miene, Marſchall Grouchy ziehe
zur Unterſtützung der rechten Flanke herbei: die Armee durfte von der
Gefahr nichts ahnen. Währenddem war Erlon mit ſeinen vier Schlacht-
haufen vorgerückt; ſchon während des Anmarſches erlitt er ſchwere Ver-
luſte, ganze Reihen in den tiefen Colonnen wurden von den engliſchen
Kanonenkugeln niedergeriſſen. Es gelang zuerſt eine niederländiſche Bri-
gade in die Flucht zu ſchlagen; nur ein Theil der Truppen des jungen
Königreichs bewährte ſich; der alte Blücher hatte ganz recht geſehen, als er
meinte, dieſe Belgier ſchienen „keine reißenden Thiere“ zu ſein. Dann aber
brach das engliſche und hannoverſche Fußvolk hinter den ſchützenden Hecken
hervor, umfaßte mit ſeinen langen Linien die unbehilflichen Klumpen der
Franzoſen. Nach einem mörderiſchen Gefechte, bei dem der tapfere Picton
den Tod fand, mußten die Angreifer zurückgehen. Ponſonbys ſchottiſche
Reiter ſetzten nach, ſprengten die Weichenden auseinander, drangen in
unaufhaltſamem Laufe bis in die große Batterie der Franzoſen; hier erſt
wurden ſie durch franzöſiſche Cavallerie zur Umkehr genöthigt.
Der große Schlag war mißlungen. Und jetzt ließ ſich ſchon nicht
mehr verkennen, daß jedenfalls ein beträchtlicher Theil der preußiſchen
Armee im Anmarſch war, und zwar in der Richtung auf das Dorf
Plancenoit, das im Rücken des rechten Flügels der Franzoſen lag. Noch
ſtand es dem Imperator frei die Schlacht abzubrechen, aber wie hätte
der Stolze einen ſo kleinmüthigen Entſchluß faſſen können? Er ſendete
das Corps Lobaus über Plancenoit hinaus, ſo daß ſeine Schlachtſtellung
ſtatt einer einfachen Linie nunmehr einen auf der Rechten rückwärts ge-
bogenen Haken bildete. Die Preußen verdarben ihm die ganze Anlage
der Schlacht noch bevor von ihrer Seite ein Schuß gefallen war. Den
gegen die Engländer fechtenden Heertheilen wurde die auf der Rechten
drohende Bedrängniß ſorgſam verborgen gehalten. Darum ließ Napoleon
die Truppen Lobaus nicht weiter nach Oſten vorgehen, wo ſie das Corps
Bülows am Rande des breiten Lasnethals leicht aufhalten konnten, ſondern
hielt ſie nahe bei Plancenoit zurück: der Zuſammenſtoß mit den Preußen
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