Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.II. 2. Belle Alliance. neuen Kriegsunglück trage; ohne die Hilfe aller energischen MännerFrankreichs, ohne die stumpfe Theilnahmlosigkeit der Masse hätte "der ge- ächtete Abenteurer" niemals den Zug von Cannes nach Paris vollenden können. "Europa erwartet von den Verbündeten mit Recht die Bestrafung solcher Unthaten und wird mit Erstaunen erfahren, daß man einen neuen Utrechter Frieden schließen, die Leiden dieses beklagenswerthen Deutsch- lands verewigen will; das wird die Regierungen zur Verzweiflung bringen und die Völker erbittern. Wenn von zwei Nachbarn der eine die Ein- heit der Staatsgewalt besitzt, physisch und moralisch auf den Angriff ein- gerichtet ist, während der andere durch die natürlichen Gebrechen einer Bundesverfassung und durch die Gestalt seiner Grenzen strenge auf die Vertheidigung beschränkt wird, so läßt sich leicht vorhersehen, welcher von Beiden unterliegen wird. Was in den Händen des Einen ein Angriffs- mittel ist, wird in der Hand des Anderen ein Mittel zur Abwehr. Die bourbonische Regierung kann sich nicht sicherer die Volksgunst gewinnen, als wenn sie sich der abenteuerlichen Rachsucht ihrer Nation ganz hin- giebt. Ermuthigt durch die Erfahrung, daß seine Grenze auch nach den größten Niederlagen unverletzt bleibt, daß die Berechnungen einer eng- herzigen Politik ihm unter allen Umständen die Sicherheit seines Gebietes gewährleisten, wird das französische Volk bald keine Schranke mehr für seinen Uebermuth kennen. Und sollen wir der französischen Partei in Deutschland neue Gründe geben zu dem Glauben, daß man mehr ge- winnt durch Anschluß an die Eroberungspläne Frankreichs als durch Er- füllung seiner Pflichten gegen das Vaterland und die gemeinsame Sache Europas? Das mächtige und furchtbare Rußland steht wahrlich zu hoch für kleinliche Erwägungen, welche dem großherzigen Charakter des Kaisers nicht entsprechen. Bleibt Frankreichs Grenze unverändert, so wird man allgemein sagen, England wolle den Continent in neue Wirren stürzen, damit er nicht Zeit habe sich gegen die britische Handelspolitik zur Wehr zu setzen." So der Gedankengang des langen, in mangelhaftem Franzö- sisch, doch mit der höchsten rednerischen Kraft geschriebenen Memorandums. Gneisenau trug auch kein Bedenken, für Piemont, die Niederlande und die kleinen deutschen Staaten die Zulassung zu den Conferenzen zu ver- langen, was in den Augen der anderen Großmächte eine arge Ketzerei war. Der Czar blieb taub. Auch seine Unterredung mit dem Könige führte *) Czar Alexander an Gneisenau 5. Sept. 1815.
II. 2. Belle Alliance. neuen Kriegsunglück trage; ohne die Hilfe aller energiſchen MännerFrankreichs, ohne die ſtumpfe Theilnahmloſigkeit der Maſſe hätte „der ge- ächtete Abenteurer“ niemals den Zug von Cannes nach Paris vollenden können. „Europa erwartet von den Verbündeten mit Recht die Beſtrafung ſolcher Unthaten und wird mit Erſtaunen erfahren, daß man einen neuen Utrechter Frieden ſchließen, die Leiden dieſes beklagenswerthen Deutſch- lands verewigen will; das wird die Regierungen zur Verzweiflung bringen und die Völker erbittern. Wenn von zwei Nachbarn der eine die Ein- heit der Staatsgewalt beſitzt, phyſiſch und moraliſch auf den Angriff ein- gerichtet iſt, während der andere durch die natürlichen Gebrechen einer Bundesverfaſſung und durch die Geſtalt ſeiner Grenzen ſtrenge auf die Vertheidigung beſchränkt wird, ſo läßt ſich leicht vorherſehen, welcher von Beiden unterliegen wird. Was in den Händen des Einen ein Angriffs- mittel iſt, wird in der Hand des Anderen ein Mittel zur Abwehr. Die bourboniſche Regierung kann ſich nicht ſicherer die Volksgunſt gewinnen, als wenn ſie ſich der abenteuerlichen Rachſucht ihrer Nation ganz hin- giebt. Ermuthigt durch die Erfahrung, daß ſeine Grenze auch nach den größten Niederlagen unverletzt bleibt, daß die Berechnungen einer eng- herzigen Politik ihm unter allen Umſtänden die Sicherheit ſeines Gebietes gewährleiſten, wird das franzöſiſche Volk bald keine Schranke mehr für ſeinen Uebermuth kennen. Und ſollen wir der franzöſiſchen Partei in Deutſchland neue Gründe geben zu dem Glauben, daß man mehr ge- winnt durch Anſchluß an die Eroberungspläne Frankreichs als durch Er- füllung ſeiner Pflichten gegen das Vaterland und die gemeinſame Sache Europas? Das mächtige und furchtbare Rußland ſteht wahrlich zu hoch für kleinliche Erwägungen, welche dem großherzigen Charakter des Kaiſers nicht entſprechen. Bleibt Frankreichs Grenze unverändert, ſo wird man allgemein ſagen, England wolle den Continent in neue Wirren ſtürzen, damit er nicht Zeit habe ſich gegen die britiſche Handelspolitik zur Wehr zu ſetzen.“ So der Gedankengang des langen, in mangelhaftem Franzö- ſiſch, doch mit der höchſten redneriſchen Kraft geſchriebenen Memorandums. Gneiſenau trug auch kein Bedenken, für Piemont, die Niederlande und die kleinen deutſchen Staaten die Zulaſſung zu den Conferenzen zu ver- langen, was in den Augen der anderen Großmächte eine arge Ketzerei war. Der Czar blieb taub. Auch ſeine Unterredung mit dem Könige führte *) Czar Alexander an Gneiſenau 5. Sept. 1815.
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II. 2. Belle Alliance.
neuen Kriegsunglück trage; ohne die Hilfe aller energiſchen Männer
Frankreichs, ohne die ſtumpfe Theilnahmloſigkeit der Maſſe hätte „der ge-
ächtete Abenteurer“ niemals den Zug von Cannes nach Paris vollenden
können. „Europa erwartet von den Verbündeten mit Recht die Beſtrafung
ſolcher Unthaten und wird mit Erſtaunen erfahren, daß man einen neuen
Utrechter Frieden ſchließen, die Leiden dieſes beklagenswerthen Deutſch-
lands verewigen will; das wird die Regierungen zur Verzweiflung bringen
und die Völker erbittern. Wenn von zwei Nachbarn der eine die Ein-
heit der Staatsgewalt beſitzt, phyſiſch und moraliſch auf den Angriff ein-
gerichtet iſt, während der andere durch die natürlichen Gebrechen einer
Bundesverfaſſung und durch die Geſtalt ſeiner Grenzen ſtrenge auf die
Vertheidigung beſchränkt wird, ſo läßt ſich leicht vorherſehen, welcher von
Beiden unterliegen wird. Was in den Händen des Einen ein Angriffs-
mittel iſt, wird in der Hand des Anderen ein Mittel zur Abwehr. Die
bourboniſche Regierung kann ſich nicht ſicherer die Volksgunſt gewinnen,
als wenn ſie ſich der abenteuerlichen Rachſucht ihrer Nation ganz hin-
giebt. Ermuthigt durch die Erfahrung, daß ſeine Grenze auch nach den
größten Niederlagen unverletzt bleibt, daß die Berechnungen einer eng-
herzigen Politik ihm unter allen Umſtänden die Sicherheit ſeines Gebietes
gewährleiſten, wird das franzöſiſche Volk bald keine Schranke mehr für
ſeinen Uebermuth kennen. Und ſollen wir der franzöſiſchen Partei in
Deutſchland neue Gründe geben zu dem Glauben, daß man mehr ge-
winnt durch Anſchluß an die Eroberungspläne Frankreichs als durch Er-
füllung ſeiner Pflichten gegen das Vaterland und die gemeinſame Sache
Europas? Das mächtige und furchtbare Rußland ſteht wahrlich zu hoch
für kleinliche Erwägungen, welche dem großherzigen Charakter des Kaiſers
nicht entſprechen. Bleibt Frankreichs Grenze unverändert, ſo wird man
allgemein ſagen, England wolle den Continent in neue Wirren ſtürzen,
damit er nicht Zeit habe ſich gegen die britiſche Handelspolitik zur Wehr
zu ſetzen.“ So der Gedankengang des langen, in mangelhaftem Franzö-
ſiſch, doch mit der höchſten redneriſchen Kraft geſchriebenen Memorandums.
Gneiſenau trug auch kein Bedenken, für Piemont, die Niederlande und
die kleinen deutſchen Staaten die Zulaſſung zu den Conferenzen zu ver-
langen, was in den Augen der anderen Großmächte eine arge Ketzerei war.
Der Czar blieb taub. Auch ſeine Unterredung mit dem Könige führte
zu keinem Ergebniß. Dem General dankte Alexander kurz und trocken für
ſeine wohlgemeinten eifrigen Bemühungen um die großen Intereſſen Euro-
pas *) und ließ durch Capodiſtrias eine ausführliche Widerlegung abfaſſen,
die in Ermangelung von Gründen eine unerhörte Fülle moraliſcher Ge-
meinplätze entfaltete: „Soll Europa darum den militäriſchen Deſpotis-
mus beſiegt und den Geiſt der Eroberung vernichtet haben, um jetzt aber-
*) Czar Alexander an Gneiſenau 5. Sept. 1815.
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