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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
der Leitung des Prälaten Bengel blühte, war von der trockenen Verstän-
digkeit der Rationalisten angekränkelt. Beide Schulen lebten in einem
unwahren Scheinfrieden mit der Wissenschaft, sie setzten die nothwendige
Uebereinstimmung von Glauben und Wissen stillschweigend voraus. Beide
bewegten sich noch in einem Gedankenkreise, welchen die lebendigen Kräfte
der Literatur längst verlassen hatten. Der unfruchtbare Streit über die
Vernünftigkeit der einzelnen Dogmen berührte nur das Aeußere der Re-
ligion, nicht ihr Wesen.

Unterdessen erzog Schleiermacher eine neue Theologenschule, die von
dem Meister lernte mit dem jungen wissenschaftlichen Leben der Nation
wieder Schritt zu halten. Er hatte einst das weckende Wort gesprochen,
das die gebildeten Verächter der Religion wieder zum Glauben zurück-
rief und das Gottesbewußtsein über das Gebiet des Wissens und des Han-
delns hinaus in die Welt des Gefühles emporhob. Indem er jetzt diesen
fruchtbaren Grundgedanken in zahlreichen Schriften sowie in seinen meister-
haften Berliner Kathedervorträgen wissenschaftlich ausgestaltete, wurde er
der Erneuerer unserer Theologie, der größte aller unserer Theologen seit dem
Jahrhundert der Reformation; und noch heute gelangt kein deutscher Theo-
log zur inneren Freiheit, wenn er nicht zuvor mit Schleiermachers Ideen
abgerechnet hat.

Das Geheimniß langanhaltender geistiger Wirksamkeit liegt zumeist
in der harmonischen Verbindung scheinbar entgegengesetzter Gaben; und
selten war ein schöpferischer Kopf zugleich so vielgestaltig und so harmonisch,
wie dieser Proteus, der in drei grundverschiedenen Zeiten, in der ästhetischen,
der patriotischen und der wissenschaftlichen Epoche alle Wandlungen des
Berliner Lebens treu wie ein Spiegel wiedergab und doch nie sich selbst
verlor. Unter den beschaulichen Schwärmern der herrnhuter Brüdergemeinde
hatte er seine ersten bestimmenden Eindrücke empfangen, und bis zum Ende
beseligte ihn das Bewußtsein persönlicher Gemeinschaft mit seinem Erlöser;
aber die Innigkeit seines religiösen Gefühls ward in Schranken gehalten
durch einen schneidigen Verstand, der aller dialektischen Künste Meister
war und sich gern in beißendem Witze erging. Er hatte einst, als er die
Briefe über Schlegels Lucinde schrieb, sich sehr weit in die unwahre Ge-
fühlsschwelgerei der Romantik verirrt und trotzdem eine Reinheit des Her-
zens bewahrt, die mit den Jahren allmählich sein ganzes Wesen ver-
klärte und den unscheinbaren kleinen Mann wie einen Patriarchen er-
scheinen ließ. Der Uebersetzer Platons war heimisch in allen Tiefen der
Speculation und darum im Stande die Philosophie mit ihren eigenen Waffen
zu bekämpfen, sobald sie sich erdreistete, das Abgeleitete an die Stelle des
Ursprünglichen zu setzen und die Welt der Empfindung aus dem Begriffe
zu erklären. Er suchte alles Menschliche religiös zu behandeln und das
ganze gelehrte Wissen der Zeit für die Theologie nutzbar zu machen; und
doch konnte er nicht leben ohne die volksthümliche Thätigkeit des Predigers.

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
der Leitung des Prälaten Bengel blühte, war von der trockenen Verſtän-
digkeit der Rationaliſten angekränkelt. Beide Schulen lebten in einem
unwahren Scheinfrieden mit der Wiſſenſchaft, ſie ſetzten die nothwendige
Uebereinſtimmung von Glauben und Wiſſen ſtillſchweigend voraus. Beide
bewegten ſich noch in einem Gedankenkreiſe, welchen die lebendigen Kräfte
der Literatur längſt verlaſſen hatten. Der unfruchtbare Streit über die
Vernünftigkeit der einzelnen Dogmen berührte nur das Aeußere der Re-
ligion, nicht ihr Weſen.

Unterdeſſen erzog Schleiermacher eine neue Theologenſchule, die von
dem Meiſter lernte mit dem jungen wiſſenſchaftlichen Leben der Nation
wieder Schritt zu halten. Er hatte einſt das weckende Wort geſprochen,
das die gebildeten Verächter der Religion wieder zum Glauben zurück-
rief und das Gottesbewußtſein über das Gebiet des Wiſſens und des Han-
delns hinaus in die Welt des Gefühles emporhob. Indem er jetzt dieſen
fruchtbaren Grundgedanken in zahlreichen Schriften ſowie in ſeinen meiſter-
haften Berliner Kathedervorträgen wiſſenſchaftlich ausgeſtaltete, wurde er
der Erneuerer unſerer Theologie, der größte aller unſerer Theologen ſeit dem
Jahrhundert der Reformation; und noch heute gelangt kein deutſcher Theo-
log zur inneren Freiheit, wenn er nicht zuvor mit Schleiermachers Ideen
abgerechnet hat.

Das Geheimniß langanhaltender geiſtiger Wirkſamkeit liegt zumeiſt
in der harmoniſchen Verbindung ſcheinbar entgegengeſetzter Gaben; und
ſelten war ein ſchöpferiſcher Kopf zugleich ſo vielgeſtaltig und ſo harmoniſch,
wie dieſer Proteus, der in drei grundverſchiedenen Zeiten, in der äſthetiſchen,
der patriotiſchen und der wiſſenſchaftlichen Epoche alle Wandlungen des
Berliner Lebens treu wie ein Spiegel wiedergab und doch nie ſich ſelbſt
verlor. Unter den beſchaulichen Schwärmern der herrnhuter Brüdergemeinde
hatte er ſeine erſten beſtimmenden Eindrücke empfangen, und bis zum Ende
beſeligte ihn das Bewußtſein perſönlicher Gemeinſchaft mit ſeinem Erlöſer;
aber die Innigkeit ſeines religiöſen Gefühls ward in Schranken gehalten
durch einen ſchneidigen Verſtand, der aller dialektiſchen Künſte Meiſter
war und ſich gern in beißendem Witze erging. Er hatte einſt, als er die
Briefe über Schlegels Lucinde ſchrieb, ſich ſehr weit in die unwahre Ge-
fühlsſchwelgerei der Romantik verirrt und trotzdem eine Reinheit des Her-
zens bewahrt, die mit den Jahren allmählich ſein ganzes Weſen ver-
klärte und den unſcheinbaren kleinen Mann wie einen Patriarchen er-
ſcheinen ließ. Der Ueberſetzer Platons war heimiſch in allen Tiefen der
Speculation und darum im Stande die Philoſophie mit ihren eigenen Waffen
zu bekämpfen, ſobald ſie ſich erdreiſtete, das Abgeleitete an die Stelle des
Urſprünglichen zu ſetzen und die Welt der Empfindung aus dem Begriffe
zu erklären. Er ſuchte alles Menſchliche religiös zu behandeln und das
ganze gelehrte Wiſſen der Zeit für die Theologie nutzbar zu machen; und
doch konnte er nicht leben ohne die volksthümliche Thätigkeit des Predigers.

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[88/0102] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. der Leitung des Prälaten Bengel blühte, war von der trockenen Verſtän- digkeit der Rationaliſten angekränkelt. Beide Schulen lebten in einem unwahren Scheinfrieden mit der Wiſſenſchaft, ſie ſetzten die nothwendige Uebereinſtimmung von Glauben und Wiſſen ſtillſchweigend voraus. Beide bewegten ſich noch in einem Gedankenkreiſe, welchen die lebendigen Kräfte der Literatur längſt verlaſſen hatten. Der unfruchtbare Streit über die Vernünftigkeit der einzelnen Dogmen berührte nur das Aeußere der Re- ligion, nicht ihr Weſen. Unterdeſſen erzog Schleiermacher eine neue Theologenſchule, die von dem Meiſter lernte mit dem jungen wiſſenſchaftlichen Leben der Nation wieder Schritt zu halten. Er hatte einſt das weckende Wort geſprochen, das die gebildeten Verächter der Religion wieder zum Glauben zurück- rief und das Gottesbewußtſein über das Gebiet des Wiſſens und des Han- delns hinaus in die Welt des Gefühles emporhob. Indem er jetzt dieſen fruchtbaren Grundgedanken in zahlreichen Schriften ſowie in ſeinen meiſter- haften Berliner Kathedervorträgen wiſſenſchaftlich ausgeſtaltete, wurde er der Erneuerer unſerer Theologie, der größte aller unſerer Theologen ſeit dem Jahrhundert der Reformation; und noch heute gelangt kein deutſcher Theo- log zur inneren Freiheit, wenn er nicht zuvor mit Schleiermachers Ideen abgerechnet hat. Das Geheimniß langanhaltender geiſtiger Wirkſamkeit liegt zumeiſt in der harmoniſchen Verbindung ſcheinbar entgegengeſetzter Gaben; und ſelten war ein ſchöpferiſcher Kopf zugleich ſo vielgeſtaltig und ſo harmoniſch, wie dieſer Proteus, der in drei grundverſchiedenen Zeiten, in der äſthetiſchen, der patriotiſchen und der wiſſenſchaftlichen Epoche alle Wandlungen des Berliner Lebens treu wie ein Spiegel wiedergab und doch nie ſich ſelbſt verlor. Unter den beſchaulichen Schwärmern der herrnhuter Brüdergemeinde hatte er ſeine erſten beſtimmenden Eindrücke empfangen, und bis zum Ende beſeligte ihn das Bewußtſein perſönlicher Gemeinſchaft mit ſeinem Erlöſer; aber die Innigkeit ſeines religiöſen Gefühls ward in Schranken gehalten durch einen ſchneidigen Verſtand, der aller dialektiſchen Künſte Meiſter war und ſich gern in beißendem Witze erging. Er hatte einſt, als er die Briefe über Schlegels Lucinde ſchrieb, ſich ſehr weit in die unwahre Ge- fühlsſchwelgerei der Romantik verirrt und trotzdem eine Reinheit des Her- zens bewahrt, die mit den Jahren allmählich ſein ganzes Weſen ver- klärte und den unſcheinbaren kleinen Mann wie einen Patriarchen er- ſcheinen ließ. Der Ueberſetzer Platons war heimiſch in allen Tiefen der Speculation und darum im Stande die Philoſophie mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, ſobald ſie ſich erdreiſtete, das Abgeleitete an die Stelle des Urſprünglichen zu ſetzen und die Welt der Empfindung aus dem Begriffe zu erklären. Er ſuchte alles Menſchliche religiös zu behandeln und das ganze gelehrte Wiſſen der Zeit für die Theologie nutzbar zu machen; und doch konnte er nicht leben ohne die volksthümliche Thätigkeit des Predigers.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/102>, abgerufen am 27.11.2024.