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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Schleiermacher.
Um seine Kanzel versammelte sich noch immer die beste Gesellschaft Ber-
lins, aber auch die Armen im Geist erbaute seine herzliche Rede; wie unver-
geßlich ehrwürdig erschien er Allen, da er vor dem Sarge seines Söhn-
leins Nathanael selber die Leichenrede hielt, so ganz in Schmerz verloren
um das Stück eigenen Lebens, das da vor ihm lag, und doch so stark in
dem Troste, der allein tröstet. Wer seine tiefgemüthlichen Briefe an den
wackeren Breslauer Theologen Gaß las oder ihn im persönlichen Verkehre
mit den zahlreichen Freunden so liebevoll auf die Eigenart eines Jeden ein-
gehen sah, der mochte leicht glauben, diese empfängliche Natur verlange nur
sich hinzugeben in innigem Gedankenaustausch; und doch konnte Schleier-
macher nur im öffentlichen Leben sich ganz genug thun, seine Staatsge-
sinnung blieb in den Tagen der politischen Ermattung ebenso lebendig
wie einst in den Zeiten des patriotischen Zornes. Die Unkundigen und
die Gegner schalten, er schillere in allen Farben, und doch stand er mit
seinem besonnenen Freimuth immer muthig auf dem Plane, sobald er ein
heiliges Gut seines Volkes bedroht sah, ein stahlharter, ganz mit sich einiger
Charakter.

Jener Grundgedanke der Reden über die Religion berührte sich nahe
mit den Ideen der neuen historischen Wissenschaft. War die Wurzel der
Religion im Gemüthe zu suchen, so ergab sich von selbst der Schluß, daß
die Aeußerungen des Gottesbewußtseins verschieden sein müssen. Die
Dogmen erschienen demnach als subjective Gemüthswahrheiten, als Aus-
sagen des frommen Gefühls über seine Vorstellungen von Gott. Der
Theologie aber erwuchs die neue Aufgabe, diese Gestaltungen des christ-
lichen Gefühls in ihrer geschichtlichen Nothwendigkeit zu begreifen. Sie
sollte nicht mehr in gehässiger Polemik die einzelnen Bekenntnisse des
Christenthums bekämpfen und verdammen, sondern sie alle als höhere
oder niedere Formen des christlichen Selbstbewußtseins zu verstehen
suchen; denn auch Schleiermacher hatte sich in seiner Weise, unabhängig
von Schelling und Savigny, die Erkenntniß der historischen Entwicklung
erworben und unterschied scharf zwischen dem was durch die menschliche
Natur werde und dem was der Mensch mache.

Damit vollführte er auf dem theologischen Gebiete eine ähnliche Grenz-
berichtigung, wie einst Kant im Bereiche der Philosophie; er sicherte der
Theologie einen Boden, auf dem sie ebenso unzweifelhafte wissenschaftliche
Ergebnisse gewinnen konnte, wie alle anderen historischen Fächer. Die Frei-
heit des Christenmenschen faßte er ganz so weitherzig auf wie einst Luther
in seinen ersten Schriften: das lebendige Gottesbewußtsein hatte von der
freien historischen und philosophischen Forschung nichts zu fürchten. Die
christliche Gesinnung war ihm nichts anderes als die Menschlichkeit in
ihrer Vollendung und konnte daher mit keinem berechtigten Streben des
Menschen in Streit gerathen. Doch ebenso nachdrücklich hob er die Wahr-
heit hervor, daß alle Religion positiv ist, und das fromme Abhängigkeits-

Schleiermacher.
Um ſeine Kanzel verſammelte ſich noch immer die beſte Geſellſchaft Ber-
lins, aber auch die Armen im Geiſt erbaute ſeine herzliche Rede; wie unver-
geßlich ehrwürdig erſchien er Allen, da er vor dem Sarge ſeines Söhn-
leins Nathanael ſelber die Leichenrede hielt, ſo ganz in Schmerz verloren
um das Stück eigenen Lebens, das da vor ihm lag, und doch ſo ſtark in
dem Troſte, der allein tröſtet. Wer ſeine tiefgemüthlichen Briefe an den
wackeren Breslauer Theologen Gaß las oder ihn im perſönlichen Verkehre
mit den zahlreichen Freunden ſo liebevoll auf die Eigenart eines Jeden ein-
gehen ſah, der mochte leicht glauben, dieſe empfängliche Natur verlange nur
ſich hinzugeben in innigem Gedankenaustauſch; und doch konnte Schleier-
macher nur im öffentlichen Leben ſich ganz genug thun, ſeine Staatsge-
ſinnung blieb in den Tagen der politiſchen Ermattung ebenſo lebendig
wie einſt in den Zeiten des patriotiſchen Zornes. Die Unkundigen und
die Gegner ſchalten, er ſchillere in allen Farben, und doch ſtand er mit
ſeinem beſonnenen Freimuth immer muthig auf dem Plane, ſobald er ein
heiliges Gut ſeines Volkes bedroht ſah, ein ſtahlharter, ganz mit ſich einiger
Charakter.

Jener Grundgedanke der Reden über die Religion berührte ſich nahe
mit den Ideen der neuen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft. War die Wurzel der
Religion im Gemüthe zu ſuchen, ſo ergab ſich von ſelbſt der Schluß, daß
die Aeußerungen des Gottesbewußtſeins verſchieden ſein müſſen. Die
Dogmen erſchienen demnach als ſubjective Gemüthswahrheiten, als Aus-
ſagen des frommen Gefühls über ſeine Vorſtellungen von Gott. Der
Theologie aber erwuchs die neue Aufgabe, dieſe Geſtaltungen des chriſt-
lichen Gefühls in ihrer geſchichtlichen Nothwendigkeit zu begreifen. Sie
ſollte nicht mehr in gehäſſiger Polemik die einzelnen Bekenntniſſe des
Chriſtenthums bekämpfen und verdammen, ſondern ſie alle als höhere
oder niedere Formen des chriſtlichen Selbſtbewußtſeins zu verſtehen
ſuchen; denn auch Schleiermacher hatte ſich in ſeiner Weiſe, unabhängig
von Schelling und Savigny, die Erkenntniß der hiſtoriſchen Entwicklung
erworben und unterſchied ſcharf zwiſchen dem was durch die menſchliche
Natur werde und dem was der Menſch mache.

Damit vollführte er auf dem theologiſchen Gebiete eine ähnliche Grenz-
berichtigung, wie einſt Kant im Bereiche der Philoſophie; er ſicherte der
Theologie einen Boden, auf dem ſie ebenſo unzweifelhafte wiſſenſchaftliche
Ergebniſſe gewinnen konnte, wie alle anderen hiſtoriſchen Fächer. Die Frei-
heit des Chriſtenmenſchen faßte er ganz ſo weitherzig auf wie einſt Luther
in ſeinen erſten Schriften: das lebendige Gottesbewußtſein hatte von der
freien hiſtoriſchen und philoſophiſchen Forſchung nichts zu fürchten. Die
chriſtliche Geſinnung war ihm nichts anderes als die Menſchlichkeit in
ihrer Vollendung und konnte daher mit keinem berechtigten Streben des
Menſchen in Streit gerathen. Doch ebenſo nachdrücklich hob er die Wahr-
heit hervor, daß alle Religion poſitiv iſt, und das fromme Abhängigkeits-

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[89/0103] Schleiermacher. Um ſeine Kanzel verſammelte ſich noch immer die beſte Geſellſchaft Ber- lins, aber auch die Armen im Geiſt erbaute ſeine herzliche Rede; wie unver- geßlich ehrwürdig erſchien er Allen, da er vor dem Sarge ſeines Söhn- leins Nathanael ſelber die Leichenrede hielt, ſo ganz in Schmerz verloren um das Stück eigenen Lebens, das da vor ihm lag, und doch ſo ſtark in dem Troſte, der allein tröſtet. Wer ſeine tiefgemüthlichen Briefe an den wackeren Breslauer Theologen Gaß las oder ihn im perſönlichen Verkehre mit den zahlreichen Freunden ſo liebevoll auf die Eigenart eines Jeden ein- gehen ſah, der mochte leicht glauben, dieſe empfängliche Natur verlange nur ſich hinzugeben in innigem Gedankenaustauſch; und doch konnte Schleier- macher nur im öffentlichen Leben ſich ganz genug thun, ſeine Staatsge- ſinnung blieb in den Tagen der politiſchen Ermattung ebenſo lebendig wie einſt in den Zeiten des patriotiſchen Zornes. Die Unkundigen und die Gegner ſchalten, er ſchillere in allen Farben, und doch ſtand er mit ſeinem beſonnenen Freimuth immer muthig auf dem Plane, ſobald er ein heiliges Gut ſeines Volkes bedroht ſah, ein ſtahlharter, ganz mit ſich einiger Charakter. Jener Grundgedanke der Reden über die Religion berührte ſich nahe mit den Ideen der neuen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft. War die Wurzel der Religion im Gemüthe zu ſuchen, ſo ergab ſich von ſelbſt der Schluß, daß die Aeußerungen des Gottesbewußtſeins verſchieden ſein müſſen. Die Dogmen erſchienen demnach als ſubjective Gemüthswahrheiten, als Aus- ſagen des frommen Gefühls über ſeine Vorſtellungen von Gott. Der Theologie aber erwuchs die neue Aufgabe, dieſe Geſtaltungen des chriſt- lichen Gefühls in ihrer geſchichtlichen Nothwendigkeit zu begreifen. Sie ſollte nicht mehr in gehäſſiger Polemik die einzelnen Bekenntniſſe des Chriſtenthums bekämpfen und verdammen, ſondern ſie alle als höhere oder niedere Formen des chriſtlichen Selbſtbewußtſeins zu verſtehen ſuchen; denn auch Schleiermacher hatte ſich in ſeiner Weiſe, unabhängig von Schelling und Savigny, die Erkenntniß der hiſtoriſchen Entwicklung erworben und unterſchied ſcharf zwiſchen dem was durch die menſchliche Natur werde und dem was der Menſch mache. Damit vollführte er auf dem theologiſchen Gebiete eine ähnliche Grenz- berichtigung, wie einſt Kant im Bereiche der Philoſophie; er ſicherte der Theologie einen Boden, auf dem ſie ebenſo unzweifelhafte wiſſenſchaftliche Ergebniſſe gewinnen konnte, wie alle anderen hiſtoriſchen Fächer. Die Frei- heit des Chriſtenmenſchen faßte er ganz ſo weitherzig auf wie einſt Luther in ſeinen erſten Schriften: das lebendige Gottesbewußtſein hatte von der freien hiſtoriſchen und philoſophiſchen Forſchung nichts zu fürchten. Die chriſtliche Geſinnung war ihm nichts anderes als die Menſchlichkeit in ihrer Vollendung und konnte daher mit keinem berechtigten Streben des Menſchen in Streit gerathen. Doch ebenſo nachdrücklich hob er die Wahr- heit hervor, daß alle Religion poſitiv iſt, und das fromme Abhängigkeits-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/103>, abgerufen am 27.11.2024.