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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
gefühl nur in der Gemeinschaft der Gläubigen wach erhalten werden kann.
In der Moral ließ er, freier als Kant, die Persönlichkeit zu ihrem vollen
Rechte gelangen: nicht die Unterdrückung der Natur, sondern ihre Ver-
klärung durch den lebendigen Geist hieß ihm sittlich; auch verhehlte er
nicht, daß die Tugenden der christlichen Selbstverneinung an den antiken
Tugenden der Selbstbehauptung ihre Ergänzung finden müssen. Die
Schwächen seiner Lehre verriethen sich freilich sobald er versuchte nachzu-
weisen, welche Thatsachen der heiligen Geschichte nothwendig im christlichen
Bewußtsein enthalten seien; dann gerieth er in's Künsteln und mußte er-
fahren, wie unmöglich es ist, die positiven Dogmen unmittelbar aus der
Idee abzuleiten. Aber wie wenig bedeuteten ihm die Dogmen und die
Formen des Cultus neben dem Segen der religiösen Gemeinschaft! Als
die Kämpfe um die evangelische Union entbrannten, ward er der tapferste
Vertheidiger der freien Kirchenverfassung und der Vereinigung der prote-
stantischen Bekenntnisse.

Auch unter den Laien bekundeten sich überall die Anzeichen eines
regeren christlichen Lebens, das der Herrschaft des Rationalismus ent-
wuchs. Es ließ sich doch nicht vergessen, wie andächtig einst in den Ta-
gen der großen Siegesbotschaften das deutsche Heer den Worten des Dich-
ters gelauscht hatte: "kannst fassen Du den reichen Segen von nah und
fern? bist Du nicht fast davor erlegen, Du Volk des Herrn?" Selbst
die Weltkinder hatten damals die alte einfältige Wahrheit, daß nur fromme
Völker frei und tapfer sind, in tiefster Seele empfunden. Aus den
schwungvollen Liedern vom "alten deutschen Gott" sprach zwar nirgends
eine bestimmte confessionelle Parteigesinnung, aber eine innige Freudigkeit
des Gottesbewußtseins, die mit der Gemüthsarmuth des Rationalismus
nichts gemein hatte. Den meisten der Männer, welche jene Zeit des
Gottesgerichts mit klarem Bewußtsein durchlebt, blieb allezeit eine geho-
bene religiöse Stimmung, mochten sie nun, wie Stein, Arndt, Savigny,
Aster, in dem Glauben der Väter ihren Frieden finden oder, wie Niebuhr,
sehnsüchtig nach dem Glauben suchen. Die streitbare Jugend vollends trug
Silberkreuze auf den teutonischen Mützen und erging sich in christlicher
Begeisterung; seit dem Zeitalter der Reformation hatten die deutschen
Universitäten nicht mehr ein Studentengeschlecht gesehen, das die reli-
giösen Fragen so ernst nahm. Wohl hielt sich die Christlichkeit der feu-
rigen Teutonen nicht frei von widerwärtiger Prahlerei noch von purita-
nischer Geschmacklosigkeit: das Gebet bei der Eröffnung des Kneipabends
hinderte nicht immer, daß die weihevoll begonnene Versammlung zuletzt
in ein wildes Zechgelage ausartete; und mit vollem Rechte schritt das Ber-
liner Publikum handgreiflich gegen die jungen Barbaren ein, als die Stu-
denten, bei der Aufführung von Zacharias Werners Weihe der Kraft, den
auftretenden Martin Luther mit dem Drohrufe "der Reformator von der
Bühne!" begrüßten. Manchem der lärmenden Christo-Germanen diente

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
gefühl nur in der Gemeinſchaft der Gläubigen wach erhalten werden kann.
In der Moral ließ er, freier als Kant, die Perſönlichkeit zu ihrem vollen
Rechte gelangen: nicht die Unterdrückung der Natur, ſondern ihre Ver-
klärung durch den lebendigen Geiſt hieß ihm ſittlich; auch verhehlte er
nicht, daß die Tugenden der chriſtlichen Selbſtverneinung an den antiken
Tugenden der Selbſtbehauptung ihre Ergänzung finden müſſen. Die
Schwächen ſeiner Lehre verriethen ſich freilich ſobald er verſuchte nachzu-
weiſen, welche Thatſachen der heiligen Geſchichte nothwendig im chriſtlichen
Bewußtſein enthalten ſeien; dann gerieth er in’s Künſteln und mußte er-
fahren, wie unmöglich es iſt, die poſitiven Dogmen unmittelbar aus der
Idee abzuleiten. Aber wie wenig bedeuteten ihm die Dogmen und die
Formen des Cultus neben dem Segen der religiöſen Gemeinſchaft! Als
die Kämpfe um die evangeliſche Union entbrannten, ward er der tapferſte
Vertheidiger der freien Kirchenverfaſſung und der Vereinigung der prote-
ſtantiſchen Bekenntniſſe.

Auch unter den Laien bekundeten ſich überall die Anzeichen eines
regeren chriſtlichen Lebens, das der Herrſchaft des Rationalismus ent-
wuchs. Es ließ ſich doch nicht vergeſſen, wie andächtig einſt in den Ta-
gen der großen Siegesbotſchaften das deutſche Heer den Worten des Dich-
ters gelauſcht hatte: „kannſt faſſen Du den reichen Segen von nah und
fern? biſt Du nicht faſt davor erlegen, Du Volk des Herrn?“ Selbſt
die Weltkinder hatten damals die alte einfältige Wahrheit, daß nur fromme
Völker frei und tapfer ſind, in tiefſter Seele empfunden. Aus den
ſchwungvollen Liedern vom „alten deutſchen Gott“ ſprach zwar nirgends
eine beſtimmte confeſſionelle Parteigeſinnung, aber eine innige Freudigkeit
des Gottesbewußtſeins, die mit der Gemüthsarmuth des Rationalismus
nichts gemein hatte. Den meiſten der Männer, welche jene Zeit des
Gottesgerichts mit klarem Bewußtſein durchlebt, blieb allezeit eine geho-
bene religiöſe Stimmung, mochten ſie nun, wie Stein, Arndt, Savigny,
Aſter, in dem Glauben der Väter ihren Frieden finden oder, wie Niebuhr,
ſehnſüchtig nach dem Glauben ſuchen. Die ſtreitbare Jugend vollends trug
Silberkreuze auf den teutoniſchen Mützen und erging ſich in chriſtlicher
Begeiſterung; ſeit dem Zeitalter der Reformation hatten die deutſchen
Univerſitäten nicht mehr ein Studentengeſchlecht geſehen, das die reli-
giöſen Fragen ſo ernſt nahm. Wohl hielt ſich die Chriſtlichkeit der feu-
rigen Teutonen nicht frei von widerwärtiger Prahlerei noch von purita-
niſcher Geſchmackloſigkeit: das Gebet bei der Eröffnung des Kneipabends
hinderte nicht immer, daß die weihevoll begonnene Verſammlung zuletzt
in ein wildes Zechgelage ausartete; und mit vollem Rechte ſchritt das Ber-
liner Publikum handgreiflich gegen die jungen Barbaren ein, als die Stu-
denten, bei der Aufführung von Zacharias Werners Weihe der Kraft, den
auftretenden Martin Luther mit dem Drohrufe „der Reformator von der
Bühne!“ begrüßten. Manchem der lärmenden Chriſto-Germanen diente

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[90/0104] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. gefühl nur in der Gemeinſchaft der Gläubigen wach erhalten werden kann. In der Moral ließ er, freier als Kant, die Perſönlichkeit zu ihrem vollen Rechte gelangen: nicht die Unterdrückung der Natur, ſondern ihre Ver- klärung durch den lebendigen Geiſt hieß ihm ſittlich; auch verhehlte er nicht, daß die Tugenden der chriſtlichen Selbſtverneinung an den antiken Tugenden der Selbſtbehauptung ihre Ergänzung finden müſſen. Die Schwächen ſeiner Lehre verriethen ſich freilich ſobald er verſuchte nachzu- weiſen, welche Thatſachen der heiligen Geſchichte nothwendig im chriſtlichen Bewußtſein enthalten ſeien; dann gerieth er in’s Künſteln und mußte er- fahren, wie unmöglich es iſt, die poſitiven Dogmen unmittelbar aus der Idee abzuleiten. Aber wie wenig bedeuteten ihm die Dogmen und die Formen des Cultus neben dem Segen der religiöſen Gemeinſchaft! Als die Kämpfe um die evangeliſche Union entbrannten, ward er der tapferſte Vertheidiger der freien Kirchenverfaſſung und der Vereinigung der prote- ſtantiſchen Bekenntniſſe. Auch unter den Laien bekundeten ſich überall die Anzeichen eines regeren chriſtlichen Lebens, das der Herrſchaft des Rationalismus ent- wuchs. Es ließ ſich doch nicht vergeſſen, wie andächtig einſt in den Ta- gen der großen Siegesbotſchaften das deutſche Heer den Worten des Dich- ters gelauſcht hatte: „kannſt faſſen Du den reichen Segen von nah und fern? biſt Du nicht faſt davor erlegen, Du Volk des Herrn?“ Selbſt die Weltkinder hatten damals die alte einfältige Wahrheit, daß nur fromme Völker frei und tapfer ſind, in tiefſter Seele empfunden. Aus den ſchwungvollen Liedern vom „alten deutſchen Gott“ ſprach zwar nirgends eine beſtimmte confeſſionelle Parteigeſinnung, aber eine innige Freudigkeit des Gottesbewußtſeins, die mit der Gemüthsarmuth des Rationalismus nichts gemein hatte. Den meiſten der Männer, welche jene Zeit des Gottesgerichts mit klarem Bewußtſein durchlebt, blieb allezeit eine geho- bene religiöſe Stimmung, mochten ſie nun, wie Stein, Arndt, Savigny, Aſter, in dem Glauben der Väter ihren Frieden finden oder, wie Niebuhr, ſehnſüchtig nach dem Glauben ſuchen. Die ſtreitbare Jugend vollends trug Silberkreuze auf den teutoniſchen Mützen und erging ſich in chriſtlicher Begeiſterung; ſeit dem Zeitalter der Reformation hatten die deutſchen Univerſitäten nicht mehr ein Studentengeſchlecht geſehen, das die reli- giöſen Fragen ſo ernſt nahm. Wohl hielt ſich die Chriſtlichkeit der feu- rigen Teutonen nicht frei von widerwärtiger Prahlerei noch von purita- niſcher Geſchmackloſigkeit: das Gebet bei der Eröffnung des Kneipabends hinderte nicht immer, daß die weihevoll begonnene Verſammlung zuletzt in ein wildes Zechgelage ausartete; und mit vollem Rechte ſchritt das Ber- liner Publikum handgreiflich gegen die jungen Barbaren ein, als die Stu- denten, bei der Aufführung von Zacharias Werners Weihe der Kraft, den auftretenden Martin Luther mit dem Drohrufe „der Reformator von der Bühne!“ begrüßten. Manchem der lärmenden Chriſto-Germanen diente

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/104>, abgerufen am 27.11.2024.