II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Auch an hochbegabten Kanzelrednern gebrach es ihr nicht; in Holstein blieb es noch nach Jahrzehnten unvergessen, mit welcher gewaltigen Beredsamkeit Claus Harms, der feurige lutherische Eiferer, im volksthümlichen Platt zu seinen Bauern sprach. Im Norden galt der Wandsbecker Bote, der ge- müthvolle alte Claudius, am Oberrhein der fromme Jung Stilling als der Führer der Stillen im Lande. Beide starben schon zu Anfang der Friedensjahre, doch ihr Wort und Vorbild wirkte mächtig fort. Der Pietis- mus und die streng confessionellen Parteien gewannen mehr und mehr Boden, zumal auf dem flachen Lande, bis sich endlich das Kirchenregiment selber genöthigt sah mit diesen neuen Mächten zu rechnen.
Der natürliche Rückschlag gegen die rationalistische Flachheit war ein- getreten; aber schon in diesen ersten Anfängen eines kräftigen kirchlichen Lebens verriethen sich krankhafte Bestrebungen, die dem confessionellen Frieden unseres paritätischen Volkes verderblich werden mußten. Während manche der Rechtgläubigen den freieren Richtungen des Protestantismus mit unchristlicher Härte begegneten und die evangelische Union leiden- schaftlich bekämpften, fühlten sie sich, bewußt oder unbewußt, zur römischen Kirche hingezogen. Einer der namhaftesten lutherischen Pietisten, der bern- burgische Prinzenerzieher Beckedorff veröffentlichte im Jahre 1818 Briefe über die Wiedervereinigung der christlichen Kirche und fand, obgleich die römische Gesinnung aus jeder Zeile sprach, den warmen Beifall seiner Glaubensgenossen -- bis er einige Jahre später selber zur römischen Kirche übertrat. Die christliche Religionsgeschichte des Convertiten Friedrich Stol- berg, ein durch und durch katholisches Buch, ward in den Conventikeln der evangelischen Pietisten laut gepriesen, und der Schwiegersohn des Wandsbecker Boten, der wackere Buchhändler Perthes, ein treuer Prote- stant, verbreitete die Schrift mit heiligem Eifer. Ein Herzensfreund Jung Stillings, Max v. Schenkendorf, der tapfere Dichter des Befreiungs- krieges, sang sogar schwärmerische Lieder auf "Maria, süße Königin" und feierte den fanatischen Führer der katholischen Liga: "fester treuer Max von Baiern". Und dazu der Zauberspuk, die Geisterseherei, die weissa- gende Verzückung aller der Schwarmgeister, welche bald hier bald dort das Volk beunruhigten. Die meisten von ihnen standen mit den böhmischen Brüdern irgendwie in Verbindung; ihr Weizen blühte da am üppigsten, wo der Boden durch den Rationalismus am Tiefsten umgepflügt war. Jene unbestimmte Aufregung, die sich immer in Zeiten großen Schicksals- wechsels der Volksmassen bemächtigt, wirkte zusammen mit den Thorheiten der Naturphilosophen. Wie einst nach Luthers Auftreten die Bauern von dem tausendjährigen Reiche träumten, so sprachen die Erweckten nach Na- poleons Sturz von dem Falle des schwarzen Engels und des Thieres mit den sieben Hörnern. In allen Ländern deutscher Zunge, vom Oberrhein bis nach Livland, tauchten einzelne geheimnißvolle Teufelsbanner und fromme Schlafwandler auf; die Schwärmerei steigerte sich oft bis zum Wahnsinn.
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Auch an hochbegabten Kanzelrednern gebrach es ihr nicht; in Holſtein blieb es noch nach Jahrzehnten unvergeſſen, mit welcher gewaltigen Beredſamkeit Claus Harms, der feurige lutheriſche Eiferer, im volksthümlichen Platt zu ſeinen Bauern ſprach. Im Norden galt der Wandsbecker Bote, der ge- müthvolle alte Claudius, am Oberrhein der fromme Jung Stilling als der Führer der Stillen im Lande. Beide ſtarben ſchon zu Anfang der Friedensjahre, doch ihr Wort und Vorbild wirkte mächtig fort. Der Pietis- mus und die ſtreng confeſſionellen Parteien gewannen mehr und mehr Boden, zumal auf dem flachen Lande, bis ſich endlich das Kirchenregiment ſelber genöthigt ſah mit dieſen neuen Mächten zu rechnen.
Der natürliche Rückſchlag gegen die rationaliſtiſche Flachheit war ein- getreten; aber ſchon in dieſen erſten Anfängen eines kräftigen kirchlichen Lebens verriethen ſich krankhafte Beſtrebungen, die dem confeſſionellen Frieden unſeres paritätiſchen Volkes verderblich werden mußten. Während manche der Rechtgläubigen den freieren Richtungen des Proteſtantismus mit unchriſtlicher Härte begegneten und die evangeliſche Union leiden- ſchaftlich bekämpften, fühlten ſie ſich, bewußt oder unbewußt, zur römiſchen Kirche hingezogen. Einer der namhafteſten lutheriſchen Pietiſten, der bern- burgiſche Prinzenerzieher Beckedorff veröffentlichte im Jahre 1818 Briefe über die Wiedervereinigung der chriſtlichen Kirche und fand, obgleich die römiſche Geſinnung aus jeder Zeile ſprach, den warmen Beifall ſeiner Glaubensgenoſſen — bis er einige Jahre ſpäter ſelber zur römiſchen Kirche übertrat. Die chriſtliche Religionsgeſchichte des Convertiten Friedrich Stol- berg, ein durch und durch katholiſches Buch, ward in den Conventikeln der evangeliſchen Pietiſten laut geprieſen, und der Schwiegerſohn des Wandsbecker Boten, der wackere Buchhändler Perthes, ein treuer Prote- ſtant, verbreitete die Schrift mit heiligem Eifer. Ein Herzensfreund Jung Stillings, Max v. Schenkendorf, der tapfere Dichter des Befreiungs- krieges, ſang ſogar ſchwärmeriſche Lieder auf „Maria, ſüße Königin“ und feierte den fanatiſchen Führer der katholiſchen Liga: „feſter treuer Max von Baiern“. Und dazu der Zauberſpuk, die Geiſterſeherei, die weiſſa- gende Verzückung aller der Schwarmgeiſter, welche bald hier bald dort das Volk beunruhigten. Die meiſten von ihnen ſtanden mit den böhmiſchen Brüdern irgendwie in Verbindung; ihr Weizen blühte da am üppigſten, wo der Boden durch den Rationalismus am Tiefſten umgepflügt war. Jene unbeſtimmte Aufregung, die ſich immer in Zeiten großen Schickſals- wechſels der Volksmaſſen bemächtigt, wirkte zuſammen mit den Thorheiten der Naturphiloſophen. Wie einſt nach Luthers Auftreten die Bauern von dem tauſendjährigen Reiche träumten, ſo ſprachen die Erweckten nach Na- poleons Sturz von dem Falle des ſchwarzen Engels und des Thieres mit den ſieben Hörnern. In allen Ländern deutſcher Zunge, vom Oberrhein bis nach Livland, tauchten einzelne geheimnißvolle Teufelsbanner und fromme Schlafwandler auf; die Schwärmerei ſteigerte ſich oft bis zum Wahnſinn.
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[92/0106]
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Auch an hochbegabten Kanzelrednern gebrach es ihr nicht; in Holſtein blieb
es noch nach Jahrzehnten unvergeſſen, mit welcher gewaltigen Beredſamkeit
Claus Harms, der feurige lutheriſche Eiferer, im volksthümlichen Platt zu
ſeinen Bauern ſprach. Im Norden galt der Wandsbecker Bote, der ge-
müthvolle alte Claudius, am Oberrhein der fromme Jung Stilling als
der Führer der Stillen im Lande. Beide ſtarben ſchon zu Anfang der
Friedensjahre, doch ihr Wort und Vorbild wirkte mächtig fort. Der Pietis-
mus und die ſtreng confeſſionellen Parteien gewannen mehr und mehr
Boden, zumal auf dem flachen Lande, bis ſich endlich das Kirchenregiment
ſelber genöthigt ſah mit dieſen neuen Mächten zu rechnen.
Der natürliche Rückſchlag gegen die rationaliſtiſche Flachheit war ein-
getreten; aber ſchon in dieſen erſten Anfängen eines kräftigen kirchlichen
Lebens verriethen ſich krankhafte Beſtrebungen, die dem confeſſionellen
Frieden unſeres paritätiſchen Volkes verderblich werden mußten. Während
manche der Rechtgläubigen den freieren Richtungen des Proteſtantismus
mit unchriſtlicher Härte begegneten und die evangeliſche Union leiden-
ſchaftlich bekämpften, fühlten ſie ſich, bewußt oder unbewußt, zur römiſchen
Kirche hingezogen. Einer der namhafteſten lutheriſchen Pietiſten, der bern-
burgiſche Prinzenerzieher Beckedorff veröffentlichte im Jahre 1818 Briefe
über die Wiedervereinigung der chriſtlichen Kirche und fand, obgleich die
römiſche Geſinnung aus jeder Zeile ſprach, den warmen Beifall ſeiner
Glaubensgenoſſen — bis er einige Jahre ſpäter ſelber zur römiſchen Kirche
übertrat. Die chriſtliche Religionsgeſchichte des Convertiten Friedrich Stol-
berg, ein durch und durch katholiſches Buch, ward in den Conventikeln
der evangeliſchen Pietiſten laut geprieſen, und der Schwiegerſohn des
Wandsbecker Boten, der wackere Buchhändler Perthes, ein treuer Prote-
ſtant, verbreitete die Schrift mit heiligem Eifer. Ein Herzensfreund Jung
Stillings, Max v. Schenkendorf, der tapfere Dichter des Befreiungs-
krieges, ſang ſogar ſchwärmeriſche Lieder auf „Maria, ſüße Königin“ und
feierte den fanatiſchen Führer der katholiſchen Liga: „feſter treuer Max
von Baiern“. Und dazu der Zauberſpuk, die Geiſterſeherei, die weiſſa-
gende Verzückung aller der Schwarmgeiſter, welche bald hier bald dort das
Volk beunruhigten. Die meiſten von ihnen ſtanden mit den böhmiſchen
Brüdern irgendwie in Verbindung; ihr Weizen blühte da am üppigſten,
wo der Boden durch den Rationalismus am Tiefſten umgepflügt war.
Jene unbeſtimmte Aufregung, die ſich immer in Zeiten großen Schickſals-
wechſels der Volksmaſſen bemächtigt, wirkte zuſammen mit den Thorheiten
der Naturphiloſophen. Wie einſt nach Luthers Auftreten die Bauern von
dem tauſendjährigen Reiche träumten, ſo ſprachen die Erweckten nach Na-
poleons Sturz von dem Falle des ſchwarzen Engels und des Thieres mit
den ſieben Hörnern. In allen Ländern deutſcher Zunge, vom Oberrhein
bis nach Livland, tauchten einzelne geheimnißvolle Teufelsbanner und fromme
Schlafwandler auf; die Schwärmerei ſteigerte ſich oft bis zum Wahnſinn.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/106>, abgerufen am 27.11.2024.
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