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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Schwarmgeisterei.
Frau v. Krüdener durchzog die Schweiz, das Elsaß und das badische Land
um überall zur Buße zu mahnen und die Armen zu speisen. Obwohl ihre
Predigten ebenso hohl und weinerlich ausfielen wie einst ihr Roman Va-
lerie, so fand sie doch Anklang bei den Massen; Metternich verklagte sie
wegen Ruhestörung bei ihrem Freunde, dem Czaren Alexander*), und die
badische Polizei mußte schließlich die Demagogin ausweisen. Die Lust am
Wunderbaren lag in der Luft; die sinnigsten Naturen widerstanden ihr
am Wenigsten. Selbst Schleiermachers treffliche Frau mochte den erbau-
lichen Verkehr mit einer gesegneten Somnambule nicht entbehren, und ihr
Gatte verhielt sich nicht schlechthin ablehnend.

Ebenso reich an Gegensätzen erschien das Leben der katholischen Kirche.
Die meisten Protestanten wähnten die Macht des Papstthums schon völlig
gebrochen. Wie sollte auch dieser römische Stuhl jemals seine Weltherr-
schaftspläne wieder aufnehmen? war doch erst vor wenigen Jahren die
katholische Kirche in Frankreich allein durch ein Machtgebot der Staats-
gewalt wiederhergestellt, und soeben erst der Pontifex durch die Gnade der
Verbündeten in das Stammgut Petri zurückgeführt worden! Den viel-
geprüften Papst Pius betrachtete man mit einem gemüthlichen Mitleid,
das von Geringschätzung nicht frei war; die conservativen Parteien be-
grüßten ihn als einen brauchbaren Bundesgenossen im Kampfe wider die
Revolution. Selbst der Protest der Curie gegen die Beschlüsse des Wiener
Congresses störte die Regierungen nicht in ihrer arglosen Sicherheit. In
vollem Ernst erörterte man schon die Frage, ob wohl nach dem Tode
Pius' VII. noch ein neuer Papst gewählt werden würde.

In der That lebte die weltmännische Milde der vornehmen Prälaten
des alten Jahrhunderts noch in einem Theile des Clerus fort; wer in
solchen Kreisen verkehrte, mochte leicht zu dem Wahne gelangen, der Hader
der Bekenntnisse werde sich nach und nach von selbst verlieren. Die Bibel-
gesellschaften zu Kreuznach und Neuwied wurden von vielen katholischen
Geistlichen des Bisthums Trier lebhaft unterstützt.**) In Breslau pflegten
die beiden theologischen Facultäten wechselseitig den Disputationen der
"Schwesterkirche" beizuwohnen, und in Tübingen geschah es noch im Jahre
1828, daß eine Preisaufgabe der katholischen Facultät von dem evangeli-
schen Theologen David Strauß gelöst wurde. Unter Geistlichen und Laien
fand der Febronianische Traum von der deutschen Nationalkirche noch immer
zahlreiche Anhänger; sehr häufig vernahm man das Verlangen nach Ein-
führung einer deutschen Liturgie und Abschaffung des Coelibats. Manche
Vertheidiger der Staatsallmacht wollten das Territorialsystem des Tho-
masius auf die katholische Kirche übertragen und die Geistlichen nur noch
als "höchst ehrwürdige Staatsdiener" behandeln. Der Wortführer der

*) Krusemarks Bericht, Wien 4. Oktbr. 1817.
**) Bericht des Oberpräsidenten v. Ingersleben über die Zustände im Großherzog-
thum Niederrhein, 26. Juli 1817.

Schwarmgeiſterei.
Frau v. Krüdener durchzog die Schweiz, das Elſaß und das badiſche Land
um überall zur Buße zu mahnen und die Armen zu ſpeiſen. Obwohl ihre
Predigten ebenſo hohl und weinerlich ausfielen wie einſt ihr Roman Va-
lerie, ſo fand ſie doch Anklang bei den Maſſen; Metternich verklagte ſie
wegen Ruheſtörung bei ihrem Freunde, dem Czaren Alexander*), und die
badiſche Polizei mußte ſchließlich die Demagogin ausweiſen. Die Luſt am
Wunderbaren lag in der Luft; die ſinnigſten Naturen widerſtanden ihr
am Wenigſten. Selbſt Schleiermachers treffliche Frau mochte den erbau-
lichen Verkehr mit einer geſegneten Somnambule nicht entbehren, und ihr
Gatte verhielt ſich nicht ſchlechthin ablehnend.

Ebenſo reich an Gegenſätzen erſchien das Leben der katholiſchen Kirche.
Die meiſten Proteſtanten wähnten die Macht des Papſtthums ſchon völlig
gebrochen. Wie ſollte auch dieſer römiſche Stuhl jemals ſeine Weltherr-
ſchaftspläne wieder aufnehmen? war doch erſt vor wenigen Jahren die
katholiſche Kirche in Frankreich allein durch ein Machtgebot der Staats-
gewalt wiederhergeſtellt, und ſoeben erſt der Pontifex durch die Gnade der
Verbündeten in das Stammgut Petri zurückgeführt worden! Den viel-
geprüften Papſt Pius betrachtete man mit einem gemüthlichen Mitleid,
das von Geringſchätzung nicht frei war; die conſervativen Parteien be-
grüßten ihn als einen brauchbaren Bundesgenoſſen im Kampfe wider die
Revolution. Selbſt der Proteſt der Curie gegen die Beſchlüſſe des Wiener
Congreſſes ſtörte die Regierungen nicht in ihrer argloſen Sicherheit. In
vollem Ernſt erörterte man ſchon die Frage, ob wohl nach dem Tode
Pius’ VII. noch ein neuer Papſt gewählt werden würde.

In der That lebte die weltmänniſche Milde der vornehmen Prälaten
des alten Jahrhunderts noch in einem Theile des Clerus fort; wer in
ſolchen Kreiſen verkehrte, mochte leicht zu dem Wahne gelangen, der Hader
der Bekenntniſſe werde ſich nach und nach von ſelbſt verlieren. Die Bibel-
geſellſchaften zu Kreuznach und Neuwied wurden von vielen katholiſchen
Geiſtlichen des Bisthums Trier lebhaft unterſtützt.**) In Breslau pflegten
die beiden theologiſchen Facultäten wechſelſeitig den Disputationen der
„Schweſterkirche“ beizuwohnen, und in Tübingen geſchah es noch im Jahre
1828, daß eine Preisaufgabe der katholiſchen Facultät von dem evangeli-
ſchen Theologen David Strauß gelöſt wurde. Unter Geiſtlichen und Laien
fand der Febronianiſche Traum von der deutſchen Nationalkirche noch immer
zahlreiche Anhänger; ſehr häufig vernahm man das Verlangen nach Ein-
führung einer deutſchen Liturgie und Abſchaffung des Coelibats. Manche
Vertheidiger der Staatsallmacht wollten das Territorialſyſtem des Tho-
maſius auf die katholiſche Kirche übertragen und die Geiſtlichen nur noch
als „höchſt ehrwürdige Staatsdiener“ behandeln. Der Wortführer der

*) Kruſemarks Bericht, Wien 4. Oktbr. 1817.
**) Bericht des Oberpräſidenten v. Ingersleben über die Zuſtände im Großherzog-
thum Niederrhein, 26. Juli 1817.
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[93/0107] Schwarmgeiſterei. Frau v. Krüdener durchzog die Schweiz, das Elſaß und das badiſche Land um überall zur Buße zu mahnen und die Armen zu ſpeiſen. Obwohl ihre Predigten ebenſo hohl und weinerlich ausfielen wie einſt ihr Roman Va- lerie, ſo fand ſie doch Anklang bei den Maſſen; Metternich verklagte ſie wegen Ruheſtörung bei ihrem Freunde, dem Czaren Alexander *), und die badiſche Polizei mußte ſchließlich die Demagogin ausweiſen. Die Luſt am Wunderbaren lag in der Luft; die ſinnigſten Naturen widerſtanden ihr am Wenigſten. Selbſt Schleiermachers treffliche Frau mochte den erbau- lichen Verkehr mit einer geſegneten Somnambule nicht entbehren, und ihr Gatte verhielt ſich nicht ſchlechthin ablehnend. Ebenſo reich an Gegenſätzen erſchien das Leben der katholiſchen Kirche. Die meiſten Proteſtanten wähnten die Macht des Papſtthums ſchon völlig gebrochen. Wie ſollte auch dieſer römiſche Stuhl jemals ſeine Weltherr- ſchaftspläne wieder aufnehmen? war doch erſt vor wenigen Jahren die katholiſche Kirche in Frankreich allein durch ein Machtgebot der Staats- gewalt wiederhergeſtellt, und ſoeben erſt der Pontifex durch die Gnade der Verbündeten in das Stammgut Petri zurückgeführt worden! Den viel- geprüften Papſt Pius betrachtete man mit einem gemüthlichen Mitleid, das von Geringſchätzung nicht frei war; die conſervativen Parteien be- grüßten ihn als einen brauchbaren Bundesgenoſſen im Kampfe wider die Revolution. Selbſt der Proteſt der Curie gegen die Beſchlüſſe des Wiener Congreſſes ſtörte die Regierungen nicht in ihrer argloſen Sicherheit. In vollem Ernſt erörterte man ſchon die Frage, ob wohl nach dem Tode Pius’ VII. noch ein neuer Papſt gewählt werden würde. In der That lebte die weltmänniſche Milde der vornehmen Prälaten des alten Jahrhunderts noch in einem Theile des Clerus fort; wer in ſolchen Kreiſen verkehrte, mochte leicht zu dem Wahne gelangen, der Hader der Bekenntniſſe werde ſich nach und nach von ſelbſt verlieren. Die Bibel- geſellſchaften zu Kreuznach und Neuwied wurden von vielen katholiſchen Geiſtlichen des Bisthums Trier lebhaft unterſtützt. **) In Breslau pflegten die beiden theologiſchen Facultäten wechſelſeitig den Disputationen der „Schweſterkirche“ beizuwohnen, und in Tübingen geſchah es noch im Jahre 1828, daß eine Preisaufgabe der katholiſchen Facultät von dem evangeli- ſchen Theologen David Strauß gelöſt wurde. Unter Geiſtlichen und Laien fand der Febronianiſche Traum von der deutſchen Nationalkirche noch immer zahlreiche Anhänger; ſehr häufig vernahm man das Verlangen nach Ein- führung einer deutſchen Liturgie und Abſchaffung des Coelibats. Manche Vertheidiger der Staatsallmacht wollten das Territorialſyſtem des Tho- maſius auf die katholiſche Kirche übertragen und die Geiſtlichen nur noch als „höchſt ehrwürdige Staatsdiener“ behandeln. Der Wortführer der *) Kruſemarks Bericht, Wien 4. Oktbr. 1817. **) Bericht des Oberpräſidenten v. Ingersleben über die Zuſtände im Großherzog- thum Niederrhein, 26. Juli 1817.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/107>, abgerufen am 27.11.2024.