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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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K. v. Rotteck.
teileben verfälscht. Man begann zu glauben, was unmittelbar nach dem
heiligen Kriege noch Niemand zu behaupten gewagt hatte: daß rationalistische
oder gar kirchenfeindliche Gesinnung das untrügliche Kennzeichen des poli-
tischen Liberalismus sei; man bezeichnete Beides mit dem wohllautenden
Namen der Freisinnigkeit und zwang also die conservativen Regierungen
sich den streng kirchlichen Parteien zu nähern. Noch verderblicher wirkte das
arge Beispiel eines aufgeklärten Gesinnungsterrorismus, der überall nur
Pfaffenherrschsucht, Adelsstolz oder Liebedienerei suchte und nachher in der
Gehässigkeit der Demagogenverfolgungen die natürliche Erwiderung fand. --

Dieselbe engherzige Unduldsamkeit beseelte auch den einflußreichsten
Publicisten jener Tage. Karl v. Rotteck blieb zwei Jahrzehnte hindurch
der hoch angesehene politische Lehrer des süddeutschen Bürgerthums, weil
er weder die Kraft noch die Neigung besaß sich irgendwie über die Durch-
schnittsansicht der Mittelklassen zu erheben. Obgleich der Rechtschaffene
niemals um Volksgunst buhlte, so standen seine Anschauungen doch immer
von selbst im Einklang mit dem "gebietenden Zeitgeist". Er nahm den
wohlhabenden Kleinstädtern und Bauern des Südens das Wort von den
Lippen und verkündete was Alle dunkel empfanden mit unerschütterlichem
Muthe, mit der warmen Beredsamkeit eines ehrlichen Herzens. Dem fran-
zösischen Blute seiner Mutter verdankte er eine unter den deutschen Ge-
lehrten damals noch seltene Leichtigkeit des Ausdrucks; unermüdlich wen-
dete er den überaus bescheidenen Vorrath seiner Gedanken hin und her,
bis den Lesern Alles wasserklar und unanfechtbar erschien. Die demokra-
tischen Ideen, welche einst zur Zeit des Bastillesturmes in Oberdeutschland
eingedrungen, hatten sich unterdessen in der Stille verstärkt und weithin ver-
breitet; durch die Fürstenrevolutionen der napoleonischen Zeit war die ge-
sammte altgeschichtliche Staatsordnung völlig zerstört, in den Mittelklassen
aber wuchs von Jahr zu Jahr der Groll gegen die Willkür des rheinbün-
dischen Beamtenthums. Aus solchen Gedanken und Wünschen formte Rotteck,
merkwürdig früh, schon unmittelbar nach dem Friedensschlusse, das fertige
Idealbild seines constitutionellen Musterstaates. Er rühmte sich ganz auf
der Höhe der Zeit zu stehen und ahnte nicht, wie stark die altständischen
Vorstellungen, die in der Nation mit wunderbarer Zähigkeit fortlebten, auch
auf seine Doktrin einwirkten: ganz wie die Herren Stände der guten alten
Zeit betrachtete er die Staatsgewalt als den natürlichen Feind der Freiheit.
Wer ihm nicht glaubte, dem "war ein Lächeln vom Ministertische, ein Kreuz
und ein Band oder eine Anstellung lieber als das Gemeinwohl". Neben
Savigny und Niebuhr erschien Rotteck als ein wissenschaftlicher Reaktionär,
da die Grundgedanken seiner Theorie durchaus dem achtzehnten Jahrhun-
dert angehörten; nur zog er mit großer Gewandtheit aus diesen veralteten
Sätzen einige Folgerungen, welche dem praktischen Bedürfniß der Gegen-
wart in der That entsprachen. Ein Parteimann vom Wirbel bis zur Zehe,
von jeher gewohnt, die Menschen und die Dinge lediglich mit dem Zollstock

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K. v. Rotteck.
teileben verfälſcht. Man begann zu glauben, was unmittelbar nach dem
heiligen Kriege noch Niemand zu behaupten gewagt hatte: daß rationaliſtiſche
oder gar kirchenfeindliche Geſinnung das untrügliche Kennzeichen des poli-
tiſchen Liberalismus ſei; man bezeichnete Beides mit dem wohllautenden
Namen der Freiſinnigkeit und zwang alſo die conſervativen Regierungen
ſich den ſtreng kirchlichen Parteien zu nähern. Noch verderblicher wirkte das
arge Beiſpiel eines aufgeklärten Geſinnungsterrorismus, der überall nur
Pfaffenherrſchſucht, Adelsſtolz oder Liebedienerei ſuchte und nachher in der
Gehäſſigkeit der Demagogenverfolgungen die natürliche Erwiderung fand. —

Dieſelbe engherzige Unduldſamkeit beſeelte auch den einflußreichſten
Publiciſten jener Tage. Karl v. Rotteck blieb zwei Jahrzehnte hindurch
der hoch angeſehene politiſche Lehrer des ſüddeutſchen Bürgerthums, weil
er weder die Kraft noch die Neigung beſaß ſich irgendwie über die Durch-
ſchnittsanſicht der Mittelklaſſen zu erheben. Obgleich der Rechtſchaffene
niemals um Volksgunſt buhlte, ſo ſtanden ſeine Anſchauungen doch immer
von ſelbſt im Einklang mit dem „gebietenden Zeitgeiſt“. Er nahm den
wohlhabenden Kleinſtädtern und Bauern des Südens das Wort von den
Lippen und verkündete was Alle dunkel empfanden mit unerſchütterlichem
Muthe, mit der warmen Beredſamkeit eines ehrlichen Herzens. Dem fran-
zöſiſchen Blute ſeiner Mutter verdankte er eine unter den deutſchen Ge-
lehrten damals noch ſeltene Leichtigkeit des Ausdrucks; unermüdlich wen-
dete er den überaus beſcheidenen Vorrath ſeiner Gedanken hin und her,
bis den Leſern Alles waſſerklar und unanfechtbar erſchien. Die demokra-
tiſchen Ideen, welche einſt zur Zeit des Baſtilleſturmes in Oberdeutſchland
eingedrungen, hatten ſich unterdeſſen in der Stille verſtärkt und weithin ver-
breitet; durch die Fürſtenrevolutionen der napoleoniſchen Zeit war die ge-
ſammte altgeſchichtliche Staatsordnung völlig zerſtört, in den Mittelklaſſen
aber wuchs von Jahr zu Jahr der Groll gegen die Willkür des rheinbün-
diſchen Beamtenthums. Aus ſolchen Gedanken und Wünſchen formte Rotteck,
merkwürdig früh, ſchon unmittelbar nach dem Friedensſchluſſe, das fertige
Idealbild ſeines conſtitutionellen Muſterſtaates. Er rühmte ſich ganz auf
der Höhe der Zeit zu ſtehen und ahnte nicht, wie ſtark die altſtändiſchen
Vorſtellungen, die in der Nation mit wunderbarer Zähigkeit fortlebten, auch
auf ſeine Doktrin einwirkten: ganz wie die Herren Stände der guten alten
Zeit betrachtete er die Staatsgewalt als den natürlichen Feind der Freiheit.
Wer ihm nicht glaubte, dem „war ein Lächeln vom Miniſtertiſche, ein Kreuz
und ein Band oder eine Anſtellung lieber als das Gemeinwohl“. Neben
Savigny und Niebuhr erſchien Rotteck als ein wiſſenſchaftlicher Reaktionär,
da die Grundgedanken ſeiner Theorie durchaus dem achtzehnten Jahrhun-
dert angehörten; nur zog er mit großer Gewandtheit aus dieſen veralteten
Sätzen einige Folgerungen, welche dem praktiſchen Bedürfniß der Gegen-
wart in der That entſprachen. Ein Parteimann vom Wirbel bis zur Zehe,
von jeher gewohnt, die Menſchen und die Dinge lediglich mit dem Zollſtock

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[99/0113] K. v. Rotteck. teileben verfälſcht. Man begann zu glauben, was unmittelbar nach dem heiligen Kriege noch Niemand zu behaupten gewagt hatte: daß rationaliſtiſche oder gar kirchenfeindliche Geſinnung das untrügliche Kennzeichen des poli- tiſchen Liberalismus ſei; man bezeichnete Beides mit dem wohllautenden Namen der Freiſinnigkeit und zwang alſo die conſervativen Regierungen ſich den ſtreng kirchlichen Parteien zu nähern. Noch verderblicher wirkte das arge Beiſpiel eines aufgeklärten Geſinnungsterrorismus, der überall nur Pfaffenherrſchſucht, Adelsſtolz oder Liebedienerei ſuchte und nachher in der Gehäſſigkeit der Demagogenverfolgungen die natürliche Erwiderung fand. — Dieſelbe engherzige Unduldſamkeit beſeelte auch den einflußreichſten Publiciſten jener Tage. Karl v. Rotteck blieb zwei Jahrzehnte hindurch der hoch angeſehene politiſche Lehrer des ſüddeutſchen Bürgerthums, weil er weder die Kraft noch die Neigung beſaß ſich irgendwie über die Durch- ſchnittsanſicht der Mittelklaſſen zu erheben. Obgleich der Rechtſchaffene niemals um Volksgunſt buhlte, ſo ſtanden ſeine Anſchauungen doch immer von ſelbſt im Einklang mit dem „gebietenden Zeitgeiſt“. Er nahm den wohlhabenden Kleinſtädtern und Bauern des Südens das Wort von den Lippen und verkündete was Alle dunkel empfanden mit unerſchütterlichem Muthe, mit der warmen Beredſamkeit eines ehrlichen Herzens. Dem fran- zöſiſchen Blute ſeiner Mutter verdankte er eine unter den deutſchen Ge- lehrten damals noch ſeltene Leichtigkeit des Ausdrucks; unermüdlich wen- dete er den überaus beſcheidenen Vorrath ſeiner Gedanken hin und her, bis den Leſern Alles waſſerklar und unanfechtbar erſchien. Die demokra- tiſchen Ideen, welche einſt zur Zeit des Baſtilleſturmes in Oberdeutſchland eingedrungen, hatten ſich unterdeſſen in der Stille verſtärkt und weithin ver- breitet; durch die Fürſtenrevolutionen der napoleoniſchen Zeit war die ge- ſammte altgeſchichtliche Staatsordnung völlig zerſtört, in den Mittelklaſſen aber wuchs von Jahr zu Jahr der Groll gegen die Willkür des rheinbün- diſchen Beamtenthums. Aus ſolchen Gedanken und Wünſchen formte Rotteck, merkwürdig früh, ſchon unmittelbar nach dem Friedensſchluſſe, das fertige Idealbild ſeines conſtitutionellen Muſterſtaates. Er rühmte ſich ganz auf der Höhe der Zeit zu ſtehen und ahnte nicht, wie ſtark die altſtändiſchen Vorſtellungen, die in der Nation mit wunderbarer Zähigkeit fortlebten, auch auf ſeine Doktrin einwirkten: ganz wie die Herren Stände der guten alten Zeit betrachtete er die Staatsgewalt als den natürlichen Feind der Freiheit. Wer ihm nicht glaubte, dem „war ein Lächeln vom Miniſtertiſche, ein Kreuz und ein Band oder eine Anſtellung lieber als das Gemeinwohl“. Neben Savigny und Niebuhr erſchien Rotteck als ein wiſſenſchaftlicher Reaktionär, da die Grundgedanken ſeiner Theorie durchaus dem achtzehnten Jahrhun- dert angehörten; nur zog er mit großer Gewandtheit aus dieſen veralteten Sätzen einige Folgerungen, welche dem praktiſchen Bedürfniß der Gegen- wart in der That entſprachen. Ein Parteimann vom Wirbel bis zur Zehe, von jeher gewohnt, die Menſchen und die Dinge lediglich mit dem Zollſtock 7*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/113>, abgerufen am 28.11.2024.