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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
der politischen Doktrin zu messen, hatte er die große Zeit unserer Literatur
ohne jedes tiefere Verständniß durchlebt: die Freiheitsbegeisterung des Mar-
quis Posa blieb ihm die Krone der deutschen Dichtung, was konnte der
Fürstendiener Goethe daneben aufweisen?

Gleichwohl vermochte selbst dieser politische Eiferer den literarischen Ur-
sprung des deutschen Liberalismus nicht zu verleugnen; denn auch er fühlte
sich unwiderstehlich hingezogen zu jenem Franzosen, der unter den Vorläufern
der Revolution der schwächste politische Kopf, aber auch der gemüthvollste
Künstler und deshalb der deutschen Bildung am vertrautesten war. Von
Rousseau lernte er die Lehren der Volkssouveränität und der allgemeinen
Gleichheit, sowie den kindlichen Glauben an die natürliche Unschuld des
Menschen. Diese Ideen versuchte er dann mit Hilfe des Kantischen Natur-
rechts, das ja selbst den Anschauungen des Genfer Philosophen nahe stand,
in ein System zu bringen, obgleich er die Philosophie nur als die Auslegerin
des gesunden Menschenverstandes schätzte. Die dritte Quelle seiner Doktrin
war das Buch des Hontheim-Febronius über die gesetzliche Gewalt des
Papstes. Hier fand Rotteck ein eigenthümliches Gemisch von Aufklärungs-
eifer und katholischer Glaubenstreue, das seiner eigenen Gesinnung ent-
sprach; hier auch das Vorbild für die Methode seiner künstlichen politischen
Beweisführung. Wie jener wohlmeinende Vorkämpfer des nationalkirch-
lichen Gedankens die letzten Jahrhunderte der Kirchengeschichte kurzerhand
ausstrich, dem Papste nur einige bescheidene Ehrenrechte zuwies und dabei
doch keineswegs gemeint war das Papstthum selber anzugreifen, so ent-
kleidete Rotteck das Königthum aller seiner wesentlichen Befugnisse und
glaubte doch nicht antimonarchisch gesinnt zu sein. In aller Unschuld, ohne
jeden revolutionären Hintergedanken predigte er eine radikale Theorie, welche
mit dem Bestande des deutschen Staatswesens sich schlechterdings nicht
vereinigen ließ.

Der Sohn eines ehrenfesten Altösterreichers war er im schönen Breis-
gau aufgewachsen, zu der Zeit, da die Reformen Josephs II. die Begei-
sterung der aufgeklärten Vorderösterreicher erweckten. Jenes System gewalt-
samer Völkerbeglückung galt ihm immer als wahrhaft liberale Politik.
Dann hatte er voll Schmerz mit angesehen, wie sein Heimathland mit
Baden vereinigt wurde, und lebte nun unter einer Regierung, die er noch
lange mißtrauisch als eine halbfremde betrachtete, in einem Staate ohne
Geschichte, dessen Institutionen allerdings wie Werke des Zufalls oder der
bewußten Willkür erschienen. Seine ehrliche Liebe zum deutschen Vater-
lande sprach er selbst unter dem Drucke der napoleonischen Censur mann-
haft aus, und als die Befreier in Baden einzogen, übernahm er sofort die
Leitung der Teutschen Blätter und stellte sie dem Hauptquartiere der Ver-
bündeten zur Verfügung. Ganz wohl ward ihm dennoch nur inmitten
seiner alemannischen Landsleute; ihnen zuerst galt all sein Thun und
Reden, mit rechter Herzensfreude schrieb er auf eines seiner Bücher die

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
der politiſchen Doktrin zu meſſen, hatte er die große Zeit unſerer Literatur
ohne jedes tiefere Verſtändniß durchlebt: die Freiheitsbegeiſterung des Mar-
quis Poſa blieb ihm die Krone der deutſchen Dichtung, was konnte der
Fürſtendiener Goethe daneben aufweiſen?

Gleichwohl vermochte ſelbſt dieſer politiſche Eiferer den literariſchen Ur-
ſprung des deutſchen Liberalismus nicht zu verleugnen; denn auch er fühlte
ſich unwiderſtehlich hingezogen zu jenem Franzoſen, der unter den Vorläufern
der Revolution der ſchwächſte politiſche Kopf, aber auch der gemüthvollſte
Künſtler und deshalb der deutſchen Bildung am vertrauteſten war. Von
Rouſſeau lernte er die Lehren der Volksſouveränität und der allgemeinen
Gleichheit, ſowie den kindlichen Glauben an die natürliche Unſchuld des
Menſchen. Dieſe Ideen verſuchte er dann mit Hilfe des Kantiſchen Natur-
rechts, das ja ſelbſt den Anſchauungen des Genfer Philoſophen nahe ſtand,
in ein Syſtem zu bringen, obgleich er die Philoſophie nur als die Auslegerin
des geſunden Menſchenverſtandes ſchätzte. Die dritte Quelle ſeiner Doktrin
war das Buch des Hontheim-Febronius über die geſetzliche Gewalt des
Papſtes. Hier fand Rotteck ein eigenthümliches Gemiſch von Aufklärungs-
eifer und katholiſcher Glaubenstreue, das ſeiner eigenen Geſinnung ent-
ſprach; hier auch das Vorbild für die Methode ſeiner künſtlichen politiſchen
Beweisführung. Wie jener wohlmeinende Vorkämpfer des nationalkirch-
lichen Gedankens die letzten Jahrhunderte der Kirchengeſchichte kurzerhand
ausſtrich, dem Papſte nur einige beſcheidene Ehrenrechte zuwies und dabei
doch keineswegs gemeint war das Papſtthum ſelber anzugreifen, ſo ent-
kleidete Rotteck das Königthum aller ſeiner weſentlichen Befugniſſe und
glaubte doch nicht antimonarchiſch geſinnt zu ſein. In aller Unſchuld, ohne
jeden revolutionären Hintergedanken predigte er eine radikale Theorie, welche
mit dem Beſtande des deutſchen Staatsweſens ſich ſchlechterdings nicht
vereinigen ließ.

Der Sohn eines ehrenfeſten Altöſterreichers war er im ſchönen Breis-
gau aufgewachſen, zu der Zeit, da die Reformen Joſephs II. die Begei-
ſterung der aufgeklärten Vorderöſterreicher erweckten. Jenes Syſtem gewalt-
ſamer Völkerbeglückung galt ihm immer als wahrhaft liberale Politik.
Dann hatte er voll Schmerz mit angeſehen, wie ſein Heimathland mit
Baden vereinigt wurde, und lebte nun unter einer Regierung, die er noch
lange mißtrauiſch als eine halbfremde betrachtete, in einem Staate ohne
Geſchichte, deſſen Inſtitutionen allerdings wie Werke des Zufalls oder der
bewußten Willkür erſchienen. Seine ehrliche Liebe zum deutſchen Vater-
lande ſprach er ſelbſt unter dem Drucke der napoleoniſchen Cenſur mann-
haft aus, und als die Befreier in Baden einzogen, übernahm er ſofort die
Leitung der Teutſchen Blätter und ſtellte ſie dem Hauptquartiere der Ver-
bündeten zur Verfügung. Ganz wohl ward ihm dennoch nur inmitten
ſeiner alemanniſchen Landsleute; ihnen zuerſt galt all ſein Thun und
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[100/0114] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. der politiſchen Doktrin zu meſſen, hatte er die große Zeit unſerer Literatur ohne jedes tiefere Verſtändniß durchlebt: die Freiheitsbegeiſterung des Mar- quis Poſa blieb ihm die Krone der deutſchen Dichtung, was konnte der Fürſtendiener Goethe daneben aufweiſen? Gleichwohl vermochte ſelbſt dieſer politiſche Eiferer den literariſchen Ur- ſprung des deutſchen Liberalismus nicht zu verleugnen; denn auch er fühlte ſich unwiderſtehlich hingezogen zu jenem Franzoſen, der unter den Vorläufern der Revolution der ſchwächſte politiſche Kopf, aber auch der gemüthvollſte Künſtler und deshalb der deutſchen Bildung am vertrauteſten war. Von Rouſſeau lernte er die Lehren der Volksſouveränität und der allgemeinen Gleichheit, ſowie den kindlichen Glauben an die natürliche Unſchuld des Menſchen. Dieſe Ideen verſuchte er dann mit Hilfe des Kantiſchen Natur- rechts, das ja ſelbſt den Anſchauungen des Genfer Philoſophen nahe ſtand, in ein Syſtem zu bringen, obgleich er die Philoſophie nur als die Auslegerin des geſunden Menſchenverſtandes ſchätzte. Die dritte Quelle ſeiner Doktrin war das Buch des Hontheim-Febronius über die geſetzliche Gewalt des Papſtes. Hier fand Rotteck ein eigenthümliches Gemiſch von Aufklärungs- eifer und katholiſcher Glaubenstreue, das ſeiner eigenen Geſinnung ent- ſprach; hier auch das Vorbild für die Methode ſeiner künſtlichen politiſchen Beweisführung. Wie jener wohlmeinende Vorkämpfer des nationalkirch- lichen Gedankens die letzten Jahrhunderte der Kirchengeſchichte kurzerhand ausſtrich, dem Papſte nur einige beſcheidene Ehrenrechte zuwies und dabei doch keineswegs gemeint war das Papſtthum ſelber anzugreifen, ſo ent- kleidete Rotteck das Königthum aller ſeiner weſentlichen Befugniſſe und glaubte doch nicht antimonarchiſch geſinnt zu ſein. In aller Unſchuld, ohne jeden revolutionären Hintergedanken predigte er eine radikale Theorie, welche mit dem Beſtande des deutſchen Staatsweſens ſich ſchlechterdings nicht vereinigen ließ. Der Sohn eines ehrenfeſten Altöſterreichers war er im ſchönen Breis- gau aufgewachſen, zu der Zeit, da die Reformen Joſephs II. die Begei- ſterung der aufgeklärten Vorderöſterreicher erweckten. Jenes Syſtem gewalt- ſamer Völkerbeglückung galt ihm immer als wahrhaft liberale Politik. Dann hatte er voll Schmerz mit angeſehen, wie ſein Heimathland mit Baden vereinigt wurde, und lebte nun unter einer Regierung, die er noch lange mißtrauiſch als eine halbfremde betrachtete, in einem Staate ohne Geſchichte, deſſen Inſtitutionen allerdings wie Werke des Zufalls oder der bewußten Willkür erſchienen. Seine ehrliche Liebe zum deutſchen Vater- lande ſprach er ſelbſt unter dem Drucke der napoleoniſchen Cenſur mann- haft aus, und als die Befreier in Baden einzogen, übernahm er ſofort die Leitung der Teutſchen Blätter und ſtellte ſie dem Hauptquartiere der Ver- bündeten zur Verfügung. Ganz wohl ward ihm dennoch nur inmitten ſeiner alemanniſchen Landsleute; ihnen zuerſt galt all ſein Thun und Reden, mit rechter Herzensfreude ſchrieb er auf eines ſeiner Bücher die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/114>, abgerufen am 28.11.2024.