II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
gestiegen, hatten die Gedanken der preußischen Städteordnung in der Stille schon längst die Runde durch Deutschland gemacht: selbst Rotteck konnte sich seine constitutionelle Herrlichkeit nur auf dem Boden der Selbstver- waltung denken. Gleichwohl ließ sich der französische Ursprung seiner Doktrin nirgends verkennen. Auch ihm ging das ganze Leben des Staates allein in den Verfassungsformen auf; auch er betrachtete die Gleichheit, nicht die Freiheit als das höchste der politischen Güter und urtheilte daher über die Scheinverfassung des Königreichs Westphalen weit milder als über das alte deutsche Ständewesen.
Darum fand seine Lehre auch die Zustimmung der harten Bonapar- tisten in München. Dort predigte die Alemannia von Aretin und Hörmann noch immer den schamlosen Particularismus. Sie betheuerte: "eher werden Löwen und Adler mit einander Hochzeit machen als Süd- und Nordländer sich vereinigen;" sie brachte Gespräche zwischen einem kern- haften "Baiermanne" und einem geckenhaften pommerschen Landwehrmanne, der nicht einmal der deutschen Sprache mächtig war; sie verhöhnte und verleumdete alles norddeutsche Wesen und erklärte kurzab, bei dem Namen "deutsch" lasse sich gar nichts denken. Aber der alte bajuvarische Son- dergeist schmückte sich jetzt mit neuen Federn. Wahres und Falsches ge- schickt vermischend, schilderte Aretin die Alemannen -- so nannte er alle Süddeutschen -- als die alleinigen Vertreter der constitutionellen Freiheit, den Norden als das Land des Feudalismus, und dies schon im Jahre 1816, lange bevor die neuen süddeutschen Verfassungen erschienen waren. Nachher schrieb er selbst ein Lehrbuch des constitutionellen Staatsrechts, das die Grundsätze des neuen Vernunftrechts mit den Anschauungen der rheinbündischen Bureaukratie zu verschmelzen suchte; und als Aretin dar- über starb, führte Rotteck das Buch des alten Bonapartisten zu Ende.
In einer ganz anderen Gedankenwelt bewegten sich die Anfänge des norddeutschen Liberalismus. Hier war die Kette der Zeiten nicht ganz zerrissen, von den alten ständischen Institutionen noch Vieles erhalten, ein warmes Gefühl historischer Pietät fast überall im Volke lebendig. Die Ideen der Revolution hatten hier niemals so tiefe Wurzeln geschlagen; die Liberalen vermaßen sich nicht den Staat nach den Abstraktionen des Ver- nunftrechts völlig neu zu gestalten, sondern verlangten nur die Wiederbele- bung und Fortbildung des alten Ständewesens. Das Organ dieser gemä- ßigten Richtung bildeten die Kieler Blätter. Wohl nirgends zeigte sich die innere Verwandtschaft zwischen dem neuen Liberalismus und der idealisti- schen Begeisterung unserer classischen Literatur so schön und rein wie in dem Kreise feingebildeter und liebenswürdiger Menschen, der sich um diese ge- diegenste Zeitschrift des deutschen Nordens schaarte. An dem gastlichen Tische der Gräfin Reventlow auf der Seeburg und der Frau Schleiden am Ascheberger See fanden sich die besten Männer der Kieler Universität, Dahlmann, Falck, Twesten, C. T. Welcker, mit dem Arzte Franz Hege-
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
geſtiegen, hatten die Gedanken der preußiſchen Städteordnung in der Stille ſchon längſt die Runde durch Deutſchland gemacht: ſelbſt Rotteck konnte ſich ſeine conſtitutionelle Herrlichkeit nur auf dem Boden der Selbſtver- waltung denken. Gleichwohl ließ ſich der franzöſiſche Urſprung ſeiner Doktrin nirgends verkennen. Auch ihm ging das ganze Leben des Staates allein in den Verfaſſungsformen auf; auch er betrachtete die Gleichheit, nicht die Freiheit als das höchſte der politiſchen Güter und urtheilte daher über die Scheinverfaſſung des Königreichs Weſtphalen weit milder als über das alte deutſche Ständeweſen.
Darum fand ſeine Lehre auch die Zuſtimmung der harten Bonapar- tiſten in München. Dort predigte die Alemannia von Aretin und Hörmann noch immer den ſchamloſen Particularismus. Sie betheuerte: „eher werden Löwen und Adler mit einander Hochzeit machen als Süd- und Nordländer ſich vereinigen;“ ſie brachte Geſpräche zwiſchen einem kern- haften „Baiermanne“ und einem geckenhaften pommerſchen Landwehrmanne, der nicht einmal der deutſchen Sprache mächtig war; ſie verhöhnte und verleumdete alles norddeutſche Weſen und erklärte kurzab, bei dem Namen „deutſch“ laſſe ſich gar nichts denken. Aber der alte bajuvariſche Son- dergeiſt ſchmückte ſich jetzt mit neuen Federn. Wahres und Falſches ge- ſchickt vermiſchend, ſchilderte Aretin die Alemannen — ſo nannte er alle Süddeutſchen — als die alleinigen Vertreter der conſtitutionellen Freiheit, den Norden als das Land des Feudalismus, und dies ſchon im Jahre 1816, lange bevor die neuen ſüddeutſchen Verfaſſungen erſchienen waren. Nachher ſchrieb er ſelbſt ein Lehrbuch des conſtitutionellen Staatsrechts, das die Grundſätze des neuen Vernunftrechts mit den Anſchauungen der rheinbündiſchen Bureaukratie zu verſchmelzen ſuchte; und als Aretin dar- über ſtarb, führte Rotteck das Buch des alten Bonapartiſten zu Ende.
In einer ganz anderen Gedankenwelt bewegten ſich die Anfänge des norddeutſchen Liberalismus. Hier war die Kette der Zeiten nicht ganz zerriſſen, von den alten ſtändiſchen Inſtitutionen noch Vieles erhalten, ein warmes Gefühl hiſtoriſcher Pietät faſt überall im Volke lebendig. Die Ideen der Revolution hatten hier niemals ſo tiefe Wurzeln geſchlagen; die Liberalen vermaßen ſich nicht den Staat nach den Abſtraktionen des Ver- nunftrechts völlig neu zu geſtalten, ſondern verlangten nur die Wiederbele- bung und Fortbildung des alten Ständeweſens. Das Organ dieſer gemä- ßigten Richtung bildeten die Kieler Blätter. Wohl nirgends zeigte ſich die innere Verwandtſchaft zwiſchen dem neuen Liberalismus und der idealiſti- ſchen Begeiſterung unſerer claſſiſchen Literatur ſo ſchön und rein wie in dem Kreiſe feingebildeter und liebenswürdiger Menſchen, der ſich um dieſe ge- diegenſte Zeitſchrift des deutſchen Nordens ſchaarte. An dem gaſtlichen Tiſche der Gräfin Reventlow auf der Seeburg und der Frau Schleiden am Aſcheberger See fanden ſich die beſten Männer der Kieler Univerſität, Dahlmann, Falck, Tweſten, C. T. Welcker, mit dem Arzte Franz Hege-
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II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
geſtiegen, hatten die Gedanken der preußiſchen Städteordnung in der Stille
ſchon längſt die Runde durch Deutſchland gemacht: ſelbſt Rotteck konnte
ſich ſeine conſtitutionelle Herrlichkeit nur auf dem Boden der Selbſtver-
waltung denken. Gleichwohl ließ ſich der franzöſiſche Urſprung ſeiner
Doktrin nirgends verkennen. Auch ihm ging das ganze Leben des Staates
allein in den Verfaſſungsformen auf; auch er betrachtete die Gleichheit,
nicht die Freiheit als das höchſte der politiſchen Güter und urtheilte daher
über die Scheinverfaſſung des Königreichs Weſtphalen weit milder als
über das alte deutſche Ständeweſen.
Darum fand ſeine Lehre auch die Zuſtimmung der harten Bonapar-
tiſten in München. Dort predigte die Alemannia von Aretin und Hörmann
noch immer den ſchamloſen Particularismus. Sie betheuerte: „eher
werden Löwen und Adler mit einander Hochzeit machen als Süd- und
Nordländer ſich vereinigen;“ ſie brachte Geſpräche zwiſchen einem kern-
haften „Baiermanne“ und einem geckenhaften pommerſchen Landwehrmanne,
der nicht einmal der deutſchen Sprache mächtig war; ſie verhöhnte und
verleumdete alles norddeutſche Weſen und erklärte kurzab, bei dem Namen
„deutſch“ laſſe ſich gar nichts denken. Aber der alte bajuvariſche Son-
dergeiſt ſchmückte ſich jetzt mit neuen Federn. Wahres und Falſches ge-
ſchickt vermiſchend, ſchilderte Aretin die Alemannen — ſo nannte er alle
Süddeutſchen — als die alleinigen Vertreter der conſtitutionellen Freiheit,
den Norden als das Land des Feudalismus, und dies ſchon im Jahre
1816, lange bevor die neuen ſüddeutſchen Verfaſſungen erſchienen waren.
Nachher ſchrieb er ſelbſt ein Lehrbuch des conſtitutionellen Staatsrechts,
das die Grundſätze des neuen Vernunftrechts mit den Anſchauungen der
rheinbündiſchen Bureaukratie zu verſchmelzen ſuchte; und als Aretin dar-
über ſtarb, führte Rotteck das Buch des alten Bonapartiſten zu Ende.
In einer ganz anderen Gedankenwelt bewegten ſich die Anfänge des
norddeutſchen Liberalismus. Hier war die Kette der Zeiten nicht ganz
zerriſſen, von den alten ſtändiſchen Inſtitutionen noch Vieles erhalten,
ein warmes Gefühl hiſtoriſcher Pietät faſt überall im Volke lebendig. Die
Ideen der Revolution hatten hier niemals ſo tiefe Wurzeln geſchlagen; die
Liberalen vermaßen ſich nicht den Staat nach den Abſtraktionen des Ver-
nunftrechts völlig neu zu geſtalten, ſondern verlangten nur die Wiederbele-
bung und Fortbildung des alten Ständeweſens. Das Organ dieſer gemä-
ßigten Richtung bildeten die Kieler Blätter. Wohl nirgends zeigte ſich die
innere Verwandtſchaft zwiſchen dem neuen Liberalismus und der idealiſti-
ſchen Begeiſterung unſerer claſſiſchen Literatur ſo ſchön und rein wie in dem
Kreiſe feingebildeter und liebenswürdiger Menſchen, der ſich um dieſe ge-
diegenſte Zeitſchrift des deutſchen Nordens ſchaarte. An dem gaſtlichen
Tiſche der Gräfin Reventlow auf der Seeburg und der Frau Schleiden
am Aſcheberger See fanden ſich die beſten Männer der Kieler Univerſität,
Dahlmann, Falck, Tweſten, C. T. Welcker, mit dem Arzte Franz Hege-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/124>, abgerufen am 29.11.2024.
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