In den zwei ersten Jahren seines Bestandes brachte der Bundestag überhaupt nur ein einziges einigermaßen brauchbares Gesetz zu Stande: die Austrägalordnung vom 16. Juni 1817. Auch dieser Beschluß trug allerdings das Gepräge des lockersten Foederalismus; auf den Gedanken eines stehenden Bundesgerichts, welchen Preußen in Wien so hartnäckig vertheidigt hatte, wagte Niemand mehr zurückzukommen. Immerhin war es schon ein Gewinn, daß die Bundesglieder sich verpflichteten, ihre gegen- seitigen Streitigkeiten zunächst der Vermittlung des Bundestages zu über- geben; schlug diese Vermittlung fehl, so sollte der oberste Gerichtshof eines von den beiden Parteien gewählten Bundesstaates die Entscheidung fällen. Auf solche Weise sind in der That manche kleine Händel zwischen den Bundesstaaten friedlich, und schneller als weiland durch die Reichsgerichte, beigelegt worden. Aber freilich nur Streitfragen von geringer Bedeutung. Denn Preußen stellte schon bei den ersten Berathungen den Grundsatz auf, der seitdem in Berlin immer festgehalten wurde: die Austrägalinstanz dürfe nur über eigentliche Rechtsfragen, nicht über politische Interessen- fragen entscheiden. Dieser von den Kleinstaaten mit lebhaftem Widerspruche aufgenommene Vorbehalt war rechtlich anfechtbar, aber politisch nothwendig; denn nimmermehr konnte eine europäische Macht gestatten, daß die großen Machtfragen ihrer Politik etwa von dem Zerbster oder dem Jenaer Appel- lationsgerichte nach den Grundsätzen des Civilprocesses erledigt würden.
Wenn eine Gesandtenconferenz ernste Zwecke verfolgt, so wird die Parteistellung der Mitglieder auf die Dauer stets durch die Gesinnungen ihrer Auftraggeber bestimmt; am Bundestage aber fand die Persönlichkeit der einzelnen Gesandten freieren Spielraum, da die Höfe sich um die Frankfurter Nichtigkeiten wenig bekümmerten. So entstand nach und nach eine höchst unnatürliche Parteibildung, die allein auf den persönlichen An- sichten der Gesandten beruhte. Smidt und Berg wurden in Wien als die beiden "ganz schlechten Kerls" bezeichnet, obschon weder der Bremer Senat, noch der Großherzog von Oldenburg den Vorwurf liberaler Ge- sinnung verdiente. Zu ihnen gesellten sich Plessen, Eyben, Martens, Wangenheim; auch der neue bairische Gesandte Aretin stand den An- schauungen des Liberalismus nahe. Am meisten Kummer bereitete dem Präsidialgesandten doch die unerschöpfliche Beredsamkeit des wackeren Gagern. Dieser wunderliche Legitimist des alten Reichsrechts wollte "nur eine kai- serliche Abdication, nicht die des Reiches" kennen, forderte harmlos für den Deutschen Bund die ganze Machtvollkommenheit der kaiserlichen Ma- jestät. "Alles was deutsch ist" sollte der Befugniß der Bundesversammlung anheimfallen; sogar die Auswanderung dachte er der Aufsicht des Bundes- tages zu unterwerfen und sendete pflichteifrig "im Dienste der menschlichen Gattung" einen Agenten nach Amerika zur Beobachtung dieser neuen so- cialen Erscheinung, deren Bedeutung der geistreiche Mann früher durch- schaut hatte, als die meisten der Zeitgenossen. Oft konnten die Hörer
II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
In den zwei erſten Jahren ſeines Beſtandes brachte der Bundestag überhaupt nur ein einziges einigermaßen brauchbares Geſetz zu Stande: die Austrägalordnung vom 16. Juni 1817. Auch dieſer Beſchluß trug allerdings das Gepräge des lockerſten Foederalismus; auf den Gedanken eines ſtehenden Bundesgerichts, welchen Preußen in Wien ſo hartnäckig vertheidigt hatte, wagte Niemand mehr zurückzukommen. Immerhin war es ſchon ein Gewinn, daß die Bundesglieder ſich verpflichteten, ihre gegen- ſeitigen Streitigkeiten zunächſt der Vermittlung des Bundestages zu über- geben; ſchlug dieſe Vermittlung fehl, ſo ſollte der oberſte Gerichtshof eines von den beiden Parteien gewählten Bundesſtaates die Entſcheidung fällen. Auf ſolche Weiſe ſind in der That manche kleine Händel zwiſchen den Bundesſtaaten friedlich, und ſchneller als weiland durch die Reichsgerichte, beigelegt worden. Aber freilich nur Streitfragen von geringer Bedeutung. Denn Preußen ſtellte ſchon bei den erſten Berathungen den Grundſatz auf, der ſeitdem in Berlin immer feſtgehalten wurde: die Austrägalinſtanz dürfe nur über eigentliche Rechtsfragen, nicht über politiſche Intereſſen- fragen entſcheiden. Dieſer von den Kleinſtaaten mit lebhaftem Widerſpruche aufgenommene Vorbehalt war rechtlich anfechtbar, aber politiſch nothwendig; denn nimmermehr konnte eine europäiſche Macht geſtatten, daß die großen Machtfragen ihrer Politik etwa von dem Zerbſter oder dem Jenaer Appel- lationsgerichte nach den Grundſätzen des Civilproceſſes erledigt würden.
Wenn eine Geſandtenconferenz ernſte Zwecke verfolgt, ſo wird die Parteiſtellung der Mitglieder auf die Dauer ſtets durch die Geſinnungen ihrer Auftraggeber beſtimmt; am Bundestage aber fand die Perſönlichkeit der einzelnen Geſandten freieren Spielraum, da die Höfe ſich um die Frankfurter Nichtigkeiten wenig bekümmerten. So entſtand nach und nach eine höchſt unnatürliche Parteibildung, die allein auf den perſönlichen An- ſichten der Geſandten beruhte. Smidt und Berg wurden in Wien als die beiden „ganz ſchlechten Kerls“ bezeichnet, obſchon weder der Bremer Senat, noch der Großherzog von Oldenburg den Vorwurf liberaler Ge- ſinnung verdiente. Zu ihnen geſellten ſich Pleſſen, Eyben, Martens, Wangenheim; auch der neue bairiſche Geſandte Aretin ſtand den An- ſchauungen des Liberalismus nahe. Am meiſten Kummer bereitete dem Präſidialgeſandten doch die unerſchöpfliche Beredſamkeit des wackeren Gagern. Dieſer wunderliche Legitimiſt des alten Reichsrechts wollte „nur eine kai- ſerliche Abdication, nicht die des Reiches“ kennen, forderte harmlos für den Deutſchen Bund die ganze Machtvollkommenheit der kaiſerlichen Ma- jeſtät. „Alles was deutſch iſt“ ſollte der Befugniß der Bundesverſammlung anheimfallen; ſogar die Auswanderung dachte er der Aufſicht des Bundes- tages zu unterwerfen und ſendete pflichteifrig „im Dienſte der menſchlichen Gattung“ einen Agenten nach Amerika zur Beobachtung dieſer neuen ſo- cialen Erſcheinung, deren Bedeutung der geiſtreiche Mann früher durch- ſchaut hatte, als die meiſten der Zeitgenoſſen. Oft konnten die Hörer
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II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
In den zwei erſten Jahren ſeines Beſtandes brachte der Bundestag
überhaupt nur ein einziges einigermaßen brauchbares Geſetz zu Stande:
die Austrägalordnung vom 16. Juni 1817. Auch dieſer Beſchluß trug
allerdings das Gepräge des lockerſten Foederalismus; auf den Gedanken
eines ſtehenden Bundesgerichts, welchen Preußen in Wien ſo hartnäckig
vertheidigt hatte, wagte Niemand mehr zurückzukommen. Immerhin war es
ſchon ein Gewinn, daß die Bundesglieder ſich verpflichteten, ihre gegen-
ſeitigen Streitigkeiten zunächſt der Vermittlung des Bundestages zu über-
geben; ſchlug dieſe Vermittlung fehl, ſo ſollte der oberſte Gerichtshof eines
von den beiden Parteien gewählten Bundesſtaates die Entſcheidung fällen.
Auf ſolche Weiſe ſind in der That manche kleine Händel zwiſchen den
Bundesſtaaten friedlich, und ſchneller als weiland durch die Reichsgerichte,
beigelegt worden. Aber freilich nur Streitfragen von geringer Bedeutung.
Denn Preußen ſtellte ſchon bei den erſten Berathungen den Grundſatz
auf, der ſeitdem in Berlin immer feſtgehalten wurde: die Austrägalinſtanz
dürfe nur über eigentliche Rechtsfragen, nicht über politiſche Intereſſen-
fragen entſcheiden. Dieſer von den Kleinſtaaten mit lebhaftem Widerſpruche
aufgenommene Vorbehalt war rechtlich anfechtbar, aber politiſch nothwendig;
denn nimmermehr konnte eine europäiſche Macht geſtatten, daß die großen
Machtfragen ihrer Politik etwa von dem Zerbſter oder dem Jenaer Appel-
lationsgerichte nach den Grundſätzen des Civilproceſſes erledigt würden.
Wenn eine Geſandtenconferenz ernſte Zwecke verfolgt, ſo wird die
Parteiſtellung der Mitglieder auf die Dauer ſtets durch die Geſinnungen
ihrer Auftraggeber beſtimmt; am Bundestage aber fand die Perſönlichkeit
der einzelnen Geſandten freieren Spielraum, da die Höfe ſich um die
Frankfurter Nichtigkeiten wenig bekümmerten. So entſtand nach und nach
eine höchſt unnatürliche Parteibildung, die allein auf den perſönlichen An-
ſichten der Geſandten beruhte. Smidt und Berg wurden in Wien als
die beiden „ganz ſchlechten Kerls“ bezeichnet, obſchon weder der Bremer
Senat, noch der Großherzog von Oldenburg den Vorwurf liberaler Ge-
ſinnung verdiente. Zu ihnen geſellten ſich Pleſſen, Eyben, Martens,
Wangenheim; auch der neue bairiſche Geſandte Aretin ſtand den An-
ſchauungen des Liberalismus nahe. Am meiſten Kummer bereitete dem
Präſidialgeſandten doch die unerſchöpfliche Beredſamkeit des wackeren Gagern.
Dieſer wunderliche Legitimiſt des alten Reichsrechts wollte „nur eine kai-
ſerliche Abdication, nicht die des Reiches“ kennen, forderte harmlos für
den Deutſchen Bund die ganze Machtvollkommenheit der kaiſerlichen Ma-
jeſtät. „Alles was deutſch iſt“ ſollte der Befugniß der Bundesverſammlung
anheimfallen; ſogar die Auswanderung dachte er der Aufſicht des Bundes-
tages zu unterwerfen und ſendete pflichteifrig „im Dienſte der menſchlichen
Gattung“ einen Agenten nach Amerika zur Beobachtung dieſer neuen ſo-
cialen Erſcheinung, deren Bedeutung der geiſtreiche Mann früher durch-
ſchaut hatte, als die meiſten der Zeitgenoſſen. Oft konnten die Hörer
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/192>, abgerufen am 23.11.2024.
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