Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Gagerns Abberufung. nur mühsam ihren Ernst behaupten, wenn er in seinen gelehrten, vonCitaten und Anspielungen strotzenden Reden alle die reichspatriotischen Phrasen der Regensburger Tage wieder ausspielte, alle die Schnirkel und Schnörkel des heiligen Reichsrechts, bis herab zu dem großen gebratenen Ochsen des Krönungsfestes, zur Schau stellte. Kein Mißerfolg störte den Gutmüthigen in der Zuversicht seiner patriotischen Hoffnungen. Als der Bundestag im Sommer 1817 zum ersten male seine Ferien begann, hielt der luxemburgische Gesandte eine hochpathetische Schlußrede zum Preise der Bundesverfassung und rief begeistert: "Dieser Bund ist minder fürch- tend als furchtbar!" Den unzufriedenen Liberalen hielt er die Frage ent- gegen: "Was wir gewonnen haben? Daß die Mutter das Kind heiterer unter ihrem Herzen trägt, der Sorge und Angst enthoben einen Sklaven zu erziehen, sondern im Vorgefühle, daß sie einen freien Mann dem Vater- lande darbringen wird!" Ludens Nemesis aber antwortete mit der bitteren Gegenfrage: "Was wir verloren haben? Den Glauben an die Redlichkeit aller Häupter und Führer!" Es konnte nicht fehlen, daß die nebelhafte Begeisterung des Reichs- Die anderen Höfe dachten weniger vornehm. Als Gagern wiederholt *) Weisungen an Goltz, 21. April, 12. Juli 1817. 12*
Gagerns Abberufung. nur mühſam ihren Ernſt behaupten, wenn er in ſeinen gelehrten, vonCitaten und Anſpielungen ſtrotzenden Reden alle die reichspatriotiſchen Phraſen der Regensburger Tage wieder ausſpielte, alle die Schnirkel und Schnörkel des heiligen Reichsrechts, bis herab zu dem großen gebratenen Ochſen des Krönungsfeſtes, zur Schau ſtellte. Kein Mißerfolg ſtörte den Gutmüthigen in der Zuverſicht ſeiner patriotiſchen Hoffnungen. Als der Bundestag im Sommer 1817 zum erſten male ſeine Ferien begann, hielt der luxemburgiſche Geſandte eine hochpathetiſche Schlußrede zum Preiſe der Bundesverfaſſung und rief begeiſtert: „Dieſer Bund iſt minder fürch- tend als furchtbar!“ Den unzufriedenen Liberalen hielt er die Frage ent- gegen: „Was wir gewonnen haben? Daß die Mutter das Kind heiterer unter ihrem Herzen trägt, der Sorge und Angſt enthoben einen Sklaven zu erziehen, ſondern im Vorgefühle, daß ſie einen freien Mann dem Vater- lande darbringen wird!“ Ludens Nemeſis aber antwortete mit der bitteren Gegenfrage: „Was wir verloren haben? Den Glauben an die Redlichkeit aller Häupter und Führer!“ Es konnte nicht fehlen, daß die nebelhafte Begeiſterung des Reichs- Die anderen Höfe dachten weniger vornehm. Als Gagern wiederholt *) Weiſungen an Goltz, 21. April, 12. Juli 1817. 12*
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Gagerns Abberufung.
nur mühſam ihren Ernſt behaupten, wenn er in ſeinen gelehrten, von
Citaten und Anſpielungen ſtrotzenden Reden alle die reichspatriotiſchen
Phraſen der Regensburger Tage wieder ausſpielte, alle die Schnirkel und
Schnörkel des heiligen Reichsrechts, bis herab zu dem großen gebratenen
Ochſen des Krönungsfeſtes, zur Schau ſtellte. Kein Mißerfolg ſtörte den
Gutmüthigen in der Zuverſicht ſeiner patriotiſchen Hoffnungen. Als der
Bundestag im Sommer 1817 zum erſten male ſeine Ferien begann, hielt
der luxemburgiſche Geſandte eine hochpathetiſche Schlußrede zum Preiſe
der Bundesverfaſſung und rief begeiſtert: „Dieſer Bund iſt minder fürch-
tend als furchtbar!“ Den unzufriedenen Liberalen hielt er die Frage ent-
gegen: „Was wir gewonnen haben? Daß die Mutter das Kind heiterer
unter ihrem Herzen trägt, der Sorge und Angſt enthoben einen Sklaven
zu erziehen, ſondern im Vorgefühle, daß ſie einen freien Mann dem Vater-
lande darbringen wird!“ Ludens Nemeſis aber antwortete mit der bitteren
Gegenfrage: „Was wir verloren haben? Den Glauben an die Redlichkeit
aller Häupter und Führer!“
Es konnte nicht fehlen, daß die nebelhafte Begeiſterung des Reichs-
patrioten zuweilen mit der handfeſten Wirklichkeit des deutſchen Particu-
larismus hart zuſammenſtieß. So bei der Beſprechung des Art. 18 der
Bundesakte. Der Artikel verhieß den deutſchen Unterthanen die Frei-
zügigkeit, vorausgeſetzt, daß „ein anderer Bundesſtaat ſie erweislich zu
Unterthanen annehmen wolle“. Von dieſer leeren Phraſe, die in der That
wie Hohn klang, behauptete Gagern, ſie begründe ein allgemeines deutſches
Bürgerrecht; dies Bürgerrecht ſei aber nur dann geſichert, wenn alle
Deutſchen ihrer Wehrpflicht in dieſem oder jenem Bundesſtaate genügen
dürften: „das Vaterland wird hier wie dort vertheidigt!“ Welch eine
Zumuthung an Preußen, ſo lange hier allgemeine Wehrpflicht, dort Stell-
vertretung oder Werbung, hier neunzehnjährige, dort ſechsjährige Dienſt-
zeit galt! Da Goltz dieſe Bedenken hervorhob, erwiderte Gagern harmlos:
warum ſolle der Bund nicht beſtimmen, daß etwa mit dem vollendeten
ſiebenundzwanzigſten Jahre die Hauptkriegspflicht jedes Deutſchen als er-
füllt zu betrachten ſei? — und fügte dann mit dem ganzen Stolze eines
Luxemburgers hinzu: „die Abänderung dieſer oder jener Special-Muſter-
rolle ſteht fürwahr in keiner Vergleichung mit den weſentlichſten National-
berechtigungen!“ Natürlich blieb Goltz ſtandhaft, und der in kindlicher
Unſchuld unternommene Angriff auf die Grundfeſten der preußiſchen Heeres-
verfaſſung ward abgeſchlagen. Trotz Alledem betrachtete Hardenberg ſeinen
alten Wiener Genoſſen noch immer mit behaglicher Ironie und befahl
dem Grafen Goltz mehrmals, den ehrlichen Patrioten ſchonend zu be-
handeln, da er doch keinen ernſten Schaden ſtifte. *)
Die anderen Höfe dachten weniger vornehm. Als Gagern wiederholt
*) Weiſungen an Goltz, 21. April, 12. Juli 1817.
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