Fünfter Abschnitt. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
Nach dem Friedensschlusse begann für Preußen wieder, wie einst in den Tagen Friedrich Wilhelms I., ein Zeitalter stiller Sammlung, reizlos und nüchtern, arm an großen Ereignissen, reich an Arbeit und stillem Gedeihen, eine Zeit, da das gesammte politische Leben in der Thätigkeit der Ver- waltung aufging und das königliche Beamtenthum noch einmal seine alte staatsbildende Kraft bewährte. Trotz seiner diplomatischen Niederlagen war der preußische Staat jetzt enger als jemals mit dem Leben der gesammten Nation verbunden. Er beherrschte nur noch etwa zwei Millionen Slaven; er sah, mit Ausnahme der Baiern und der Schwaben, bereits alle deutschen Stämme in seinen Grenzen vertreten und ward auch von den Gegen- sätzen des religiösen Lebens der Nation stärker als sonst berührt, da nun- mehr zwei Fünftel seiner Bevölkerung der katholischen Kirche angehörten; er empfing endlich in den großen Communen der Ostseegestade und des Rhein- lands ein neues Culturelement, das ihn den deutschen Nachbarlanden näher brachte und gewaltig anwachsend nach und nach auf den gesammten Cha- rakter des Staatslebens umbildend einwirken sollte. Aber welch eine Ar- beit, diese neuen Gebiete, die fast allesammt nur widerwillig unter die neue Herrschaft traten, mit den alten Provinzen zu verschmelzen. Nie- mals in der neuen Geschichte hatte eine Großmacht so schwierige Aufgaben der Verwaltung zu lösen; selbst die Lage des Königreichs Italien nach den Annexionen von 1860 war unvergleichlich leichter.
Zu den fünf Millionen Einwohnern, die der Monarchie um das Jahr 1814 übrig geblieben, trat plötzlich eine Bevölkerung von 51/2 Millionen hinzu -- ein Gewirr von Ländertrümmern, zerstreut von der Prosna bis zur Maas, vor kurzem noch zu mehr als hundert Territorien gehörig, seitdem regiert durch die Gesetze von Frankreich, Schweden, Sachsen, West- phalen, Berg, Danzig, Darmstadt, Nassau. Dazu noch eine Unzahl kleinerer Landstriche, die man zur Abrundung von den Nachbarn eingetauscht hatte; der kleinste der neuen Regierungsbezirke, der Erfurter, umfaßte allein die Bruchstücke von acht verschiedenen Staaten. Auch die altpreußischen Provinzen, welche jetzt zu dem Staate zurückkehrten, hatten unter der napoleonischen
Fünfter Abſchnitt. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Nach dem Friedensſchluſſe begann für Preußen wieder, wie einſt in den Tagen Friedrich Wilhelms I., ein Zeitalter ſtiller Sammlung, reizlos und nüchtern, arm an großen Ereigniſſen, reich an Arbeit und ſtillem Gedeihen, eine Zeit, da das geſammte politiſche Leben in der Thätigkeit der Ver- waltung aufging und das königliche Beamtenthum noch einmal ſeine alte ſtaatsbildende Kraft bewährte. Trotz ſeiner diplomatiſchen Niederlagen war der preußiſche Staat jetzt enger als jemals mit dem Leben der geſammten Nation verbunden. Er beherrſchte nur noch etwa zwei Millionen Slaven; er ſah, mit Ausnahme der Baiern und der Schwaben, bereits alle deutſchen Stämme in ſeinen Grenzen vertreten und ward auch von den Gegen- ſätzen des religiöſen Lebens der Nation ſtärker als ſonſt berührt, da nun- mehr zwei Fünftel ſeiner Bevölkerung der katholiſchen Kirche angehörten; er empfing endlich in den großen Communen der Oſtſeegeſtade und des Rhein- lands ein neues Culturelement, das ihn den deutſchen Nachbarlanden näher brachte und gewaltig anwachſend nach und nach auf den geſammten Cha- rakter des Staatslebens umbildend einwirken ſollte. Aber welch eine Ar- beit, dieſe neuen Gebiete, die faſt alleſammt nur widerwillig unter die neue Herrſchaft traten, mit den alten Provinzen zu verſchmelzen. Nie- mals in der neuen Geſchichte hatte eine Großmacht ſo ſchwierige Aufgaben der Verwaltung zu löſen; ſelbſt die Lage des Königreichs Italien nach den Annexionen von 1860 war unvergleichlich leichter.
Zu den fünf Millionen Einwohnern, die der Monarchie um das Jahr 1814 übrig geblieben, trat plötzlich eine Bevölkerung von 5½ Millionen hinzu — ein Gewirr von Ländertrümmern, zerſtreut von der Prosna bis zur Maas, vor kurzem noch zu mehr als hundert Territorien gehörig, ſeitdem regiert durch die Geſetze von Frankreich, Schweden, Sachſen, Weſt- phalen, Berg, Danzig, Darmſtadt, Naſſau. Dazu noch eine Unzahl kleinerer Landſtriche, die man zur Abrundung von den Nachbarn eingetauſcht hatte; der kleinſte der neuen Regierungsbezirke, der Erfurter, umfaßte allein die Bruchſtücke von acht verſchiedenen Staaten. Auch die altpreußiſchen Provinzen, welche jetzt zu dem Staate zurückkehrten, hatten unter der napoleoniſchen
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0195"n="[181]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Fünfter Abſchnitt.<lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/> Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.</hi></head><lb/><p>Nach dem Friedensſchluſſe begann für Preußen wieder, wie einſt in den<lb/>
Tagen Friedrich Wilhelms <hirendition="#aq">I.</hi>, ein Zeitalter ſtiller Sammlung, reizlos und<lb/>
nüchtern, arm an großen Ereigniſſen, reich an Arbeit und ſtillem Gedeihen,<lb/>
eine Zeit, da das geſammte politiſche Leben in der Thätigkeit der Ver-<lb/>
waltung aufging und das königliche Beamtenthum noch einmal ſeine alte<lb/>ſtaatsbildende Kraft bewährte. Trotz ſeiner diplomatiſchen Niederlagen war<lb/>
der preußiſche Staat jetzt enger als jemals mit dem Leben der geſammten<lb/>
Nation verbunden. Er beherrſchte nur noch etwa zwei Millionen Slaven;<lb/>
er ſah, mit Ausnahme der Baiern und der Schwaben, bereits alle deutſchen<lb/>
Stämme in ſeinen Grenzen vertreten und ward auch von den Gegen-<lb/>ſätzen des religiöſen Lebens der Nation ſtärker als ſonſt berührt, da nun-<lb/>
mehr zwei Fünftel ſeiner Bevölkerung der katholiſchen Kirche angehörten; er<lb/>
empfing endlich in den großen Communen der Oſtſeegeſtade und des Rhein-<lb/>
lands ein neues Culturelement, das ihn den deutſchen Nachbarlanden näher<lb/>
brachte und gewaltig anwachſend nach und nach auf den geſammten Cha-<lb/>
rakter des Staatslebens umbildend einwirken ſollte. Aber welch eine Ar-<lb/>
beit, dieſe neuen Gebiete, die faſt alleſammt nur widerwillig unter die<lb/>
neue Herrſchaft traten, mit den alten Provinzen zu verſchmelzen. Nie-<lb/>
mals in der neuen Geſchichte hatte eine Großmacht ſo ſchwierige Aufgaben<lb/>
der Verwaltung zu löſen; ſelbſt die Lage des Königreichs Italien nach den<lb/>
Annexionen von 1860 war unvergleichlich leichter.</p><lb/><p>Zu den fünf Millionen Einwohnern, die der Monarchie um das Jahr<lb/>
1814 übrig geblieben, trat plötzlich eine Bevölkerung von 5½ Millionen<lb/>
hinzu — ein Gewirr von Ländertrümmern, zerſtreut von der Prosna bis<lb/>
zur Maas, vor kurzem noch zu mehr als hundert Territorien gehörig,<lb/>ſeitdem regiert durch die Geſetze von Frankreich, Schweden, Sachſen, Weſt-<lb/>
phalen, Berg, Danzig, Darmſtadt, Naſſau. Dazu noch eine Unzahl kleinerer<lb/>
Landſtriche, die man zur Abrundung von den Nachbarn eingetauſcht hatte;<lb/>
der kleinſte der neuen Regierungsbezirke, der Erfurter, umfaßte allein die<lb/>
Bruchſtücke von acht verſchiedenen Staaten. Auch die altpreußiſchen Provinzen,<lb/>
welche jetzt zu dem Staate zurückkehrten, hatten unter der napoleoniſchen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[181]/0195]
Fünfter Abſchnitt.
Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Nach dem Friedensſchluſſe begann für Preußen wieder, wie einſt in den
Tagen Friedrich Wilhelms I., ein Zeitalter ſtiller Sammlung, reizlos und
nüchtern, arm an großen Ereigniſſen, reich an Arbeit und ſtillem Gedeihen,
eine Zeit, da das geſammte politiſche Leben in der Thätigkeit der Ver-
waltung aufging und das königliche Beamtenthum noch einmal ſeine alte
ſtaatsbildende Kraft bewährte. Trotz ſeiner diplomatiſchen Niederlagen war
der preußiſche Staat jetzt enger als jemals mit dem Leben der geſammten
Nation verbunden. Er beherrſchte nur noch etwa zwei Millionen Slaven;
er ſah, mit Ausnahme der Baiern und der Schwaben, bereits alle deutſchen
Stämme in ſeinen Grenzen vertreten und ward auch von den Gegen-
ſätzen des religiöſen Lebens der Nation ſtärker als ſonſt berührt, da nun-
mehr zwei Fünftel ſeiner Bevölkerung der katholiſchen Kirche angehörten; er
empfing endlich in den großen Communen der Oſtſeegeſtade und des Rhein-
lands ein neues Culturelement, das ihn den deutſchen Nachbarlanden näher
brachte und gewaltig anwachſend nach und nach auf den geſammten Cha-
rakter des Staatslebens umbildend einwirken ſollte. Aber welch eine Ar-
beit, dieſe neuen Gebiete, die faſt alleſammt nur widerwillig unter die
neue Herrſchaft traten, mit den alten Provinzen zu verſchmelzen. Nie-
mals in der neuen Geſchichte hatte eine Großmacht ſo ſchwierige Aufgaben
der Verwaltung zu löſen; ſelbſt die Lage des Königreichs Italien nach den
Annexionen von 1860 war unvergleichlich leichter.
Zu den fünf Millionen Einwohnern, die der Monarchie um das Jahr
1814 übrig geblieben, trat plötzlich eine Bevölkerung von 5½ Millionen
hinzu — ein Gewirr von Ländertrümmern, zerſtreut von der Prosna bis
zur Maas, vor kurzem noch zu mehr als hundert Territorien gehörig,
ſeitdem regiert durch die Geſetze von Frankreich, Schweden, Sachſen, Weſt-
phalen, Berg, Danzig, Darmſtadt, Naſſau. Dazu noch eine Unzahl kleinerer
Landſtriche, die man zur Abrundung von den Nachbarn eingetauſcht hatte;
der kleinſte der neuen Regierungsbezirke, der Erfurter, umfaßte allein die
Bruchſtücke von acht verſchiedenen Staaten. Auch die altpreußiſchen Provinzen,
welche jetzt zu dem Staate zurückkehrten, hatten unter der napoleoniſchen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. [181]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/195>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.