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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Rechtspflege. Beyme.
unselige Gesetz in Kraft trat, ein Zollbeamter zu Langensalza von einem
gothaischen Patrioten im Rausche heiligen Zornes erstochen worden; der
Mann hatte sich aber selbst entleibt. Da hieß es wehmüthig, König Friedrich
Wilhelm hege wohl menschenfreundliche Absichten, aber "finanzielle Rück-
sichten vergiften die besten Maßregeln"; für die harte Nothwendigkeit dieser
finanziellen Rücksichten hatte man kein Auge. Die ersehnte Einheit des
deutschen Marktes -- darüber bestand unter den liberalen Patrioten kein
Streit -- konnte nur gelingen, wenn die bereits vollzogene Einigung der
Hälfte Deutschlands wieder zerstört wurde.

Unbekümmert um die allgemeine Entrüstung hielt Klewiz die Zoll-
reform aufrecht. In der Gewerbepolitik dagegen zeigte die Regierung ge-
ringere Festigkeit gegen die hochconservativen Vorurtheile der Zeit. Immer
wieder mußten kundige Beamte in der Staatszeitung die Vorzüge des
freien Gewerbes ungläubigen Lesern schildern. Dennoch wagte man nicht,
das Gewerbegesetz von 1811 in den neuen Provinzen einzuführen, sondern
ließ einen widerspruchsvollen Zustand, der sich mit der Einheit des Markt-
gebietes kaum vertrug, während eines vollen Menschenalters unangetastet:
in Sachsen blieb das alte Zunftwesen bestehen, in den rheinisch-westphä-
lischen Landen und in den alten Provinzen herrschte die Gewerbefreiheit,
hier nach preußischem, dort nach französischem Gesetze. --

Die letzte Epoche König Friedrich Wilhelms III. zeigte sich der Re-
gierung des ersten Friedrich Wilhelm auch darin ähnlich, daß die Rechts-
pflege von der reformatorischen Thätigkeit der Staatsgewalt am Wenigsten
berührt wurde. Es blieb bei der alten Regel, daß dieser Staat niemals
im Stande war, auf allen Gebieten des Lebens zugleich rüstig fortzu-
schreiten. Savigny hatte doch recht gesehen als er seiner Zeit den Beruf
zur Gesetzgebung für das bürgerliche Recht absprach. Die große Codi-
fication des Allgemeinen Landrechts lag erst um ein Menschenalter zurück
und wurde von der Mehrzahl des altpreußischen Richterstandes noch mit
begreiflichem Stolze als ein Meisterwerk geschätzt, während die Wissenschaft
zwar den Anschauungen Suarez's längst entwachsen aber noch nicht zu
sicheren neuen Ergebnissen gelangt war. Der gesunde Sinn des Königs
verkannte nicht, daß die alte Gliederung der Stände, welche dem Landrechte
zu Grunde lag, durch die Reformen von 1807 längst beseitigt war; und
da auch der Civilproceß sowie das Strafrecht dringend der Neugestaltung
bedurfte, so wurde Beyme mit der Revision der fridericianischen Gesetz-
bücher beauftragt. Der aber erwies sich, trotz seines liberalen Rufs, aber-
mals ebenso unfruchtbar, wie einst im Ministerium Dohna-Altenstein, da
ihn der König so oft vergeblich an die Aufhebung der Patrimonialgerichte
gemahnt hatte, und brachte in den zwei Jahren seiner Amtsführung nichts
Wesentliches zu Stande. Für eine durchgreifende Umgestaltung der fride-
ricianischen Gesetzbücher war die Zeit noch nicht gekommen, und doch ging
es auch nicht an, diese halb veraltete Gesetzgebung, deren Mängel die

Rechtspflege. Beyme.
unſelige Geſetz in Kraft trat, ein Zollbeamter zu Langenſalza von einem
gothaiſchen Patrioten im Rauſche heiligen Zornes erſtochen worden; der
Mann hatte ſich aber ſelbſt entleibt. Da hieß es wehmüthig, König Friedrich
Wilhelm hege wohl menſchenfreundliche Abſichten, aber „finanzielle Rück-
ſichten vergiften die beſten Maßregeln“; für die harte Nothwendigkeit dieſer
finanziellen Rückſichten hatte man kein Auge. Die erſehnte Einheit des
deutſchen Marktes — darüber beſtand unter den liberalen Patrioten kein
Streit — konnte nur gelingen, wenn die bereits vollzogene Einigung der
Hälfte Deutſchlands wieder zerſtört wurde.

Unbekümmert um die allgemeine Entrüſtung hielt Klewiz die Zoll-
reform aufrecht. In der Gewerbepolitik dagegen zeigte die Regierung ge-
ringere Feſtigkeit gegen die hochconſervativen Vorurtheile der Zeit. Immer
wieder mußten kundige Beamte in der Staatszeitung die Vorzüge des
freien Gewerbes ungläubigen Leſern ſchildern. Dennoch wagte man nicht,
das Gewerbegeſetz von 1811 in den neuen Provinzen einzuführen, ſondern
ließ einen widerſpruchsvollen Zuſtand, der ſich mit der Einheit des Markt-
gebietes kaum vertrug, während eines vollen Menſchenalters unangetaſtet:
in Sachſen blieb das alte Zunftweſen beſtehen, in den rheiniſch-weſtphä-
liſchen Landen und in den alten Provinzen herrſchte die Gewerbefreiheit,
hier nach preußiſchem, dort nach franzöſiſchem Geſetze. —

Die letzte Epoche König Friedrich Wilhelms III. zeigte ſich der Re-
gierung des erſten Friedrich Wilhelm auch darin ähnlich, daß die Rechts-
pflege von der reformatoriſchen Thätigkeit der Staatsgewalt am Wenigſten
berührt wurde. Es blieb bei der alten Regel, daß dieſer Staat niemals
im Stande war, auf allen Gebieten des Lebens zugleich rüſtig fortzu-
ſchreiten. Savigny hatte doch recht geſehen als er ſeiner Zeit den Beruf
zur Geſetzgebung für das bürgerliche Recht abſprach. Die große Codi-
fication des Allgemeinen Landrechts lag erſt um ein Menſchenalter zurück
und wurde von der Mehrzahl des altpreußiſchen Richterſtandes noch mit
begreiflichem Stolze als ein Meiſterwerk geſchätzt, während die Wiſſenſchaft
zwar den Anſchauungen Suarez’s längſt entwachſen aber noch nicht zu
ſicheren neuen Ergebniſſen gelangt war. Der geſunde Sinn des Königs
verkannte nicht, daß die alte Gliederung der Stände, welche dem Landrechte
zu Grunde lag, durch die Reformen von 1807 längſt beſeitigt war; und
da auch der Civilproceß ſowie das Strafrecht dringend der Neugeſtaltung
bedurfte, ſo wurde Beyme mit der Reviſion der fridericianiſchen Geſetz-
bücher beauftragt. Der aber erwies ſich, trotz ſeines liberalen Rufs, aber-
mals ebenſo unfruchtbar, wie einſt im Miniſterium Dohna-Altenſtein, da
ihn der König ſo oft vergeblich an die Aufhebung der Patrimonialgerichte
gemahnt hatte, und brachte in den zwei Jahren ſeiner Amtsführung nichts
Weſentliches zu Stande. Für eine durchgreifende Umgeſtaltung der fride-
ricianiſchen Geſetzbücher war die Zeit noch nicht gekommen, und doch ging
es auch nicht an, dieſe halb veraltete Geſetzgebung, deren Mängel die

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[221/0235] Rechtspflege. Beyme. unſelige Geſetz in Kraft trat, ein Zollbeamter zu Langenſalza von einem gothaiſchen Patrioten im Rauſche heiligen Zornes erſtochen worden; der Mann hatte ſich aber ſelbſt entleibt. Da hieß es wehmüthig, König Friedrich Wilhelm hege wohl menſchenfreundliche Abſichten, aber „finanzielle Rück- ſichten vergiften die beſten Maßregeln“; für die harte Nothwendigkeit dieſer finanziellen Rückſichten hatte man kein Auge. Die erſehnte Einheit des deutſchen Marktes — darüber beſtand unter den liberalen Patrioten kein Streit — konnte nur gelingen, wenn die bereits vollzogene Einigung der Hälfte Deutſchlands wieder zerſtört wurde. Unbekümmert um die allgemeine Entrüſtung hielt Klewiz die Zoll- reform aufrecht. In der Gewerbepolitik dagegen zeigte die Regierung ge- ringere Feſtigkeit gegen die hochconſervativen Vorurtheile der Zeit. Immer wieder mußten kundige Beamte in der Staatszeitung die Vorzüge des freien Gewerbes ungläubigen Leſern ſchildern. Dennoch wagte man nicht, das Gewerbegeſetz von 1811 in den neuen Provinzen einzuführen, ſondern ließ einen widerſpruchsvollen Zuſtand, der ſich mit der Einheit des Markt- gebietes kaum vertrug, während eines vollen Menſchenalters unangetaſtet: in Sachſen blieb das alte Zunftweſen beſtehen, in den rheiniſch-weſtphä- liſchen Landen und in den alten Provinzen herrſchte die Gewerbefreiheit, hier nach preußiſchem, dort nach franzöſiſchem Geſetze. — Die letzte Epoche König Friedrich Wilhelms III. zeigte ſich der Re- gierung des erſten Friedrich Wilhelm auch darin ähnlich, daß die Rechts- pflege von der reformatoriſchen Thätigkeit der Staatsgewalt am Wenigſten berührt wurde. Es blieb bei der alten Regel, daß dieſer Staat niemals im Stande war, auf allen Gebieten des Lebens zugleich rüſtig fortzu- ſchreiten. Savigny hatte doch recht geſehen als er ſeiner Zeit den Beruf zur Geſetzgebung für das bürgerliche Recht abſprach. Die große Codi- fication des Allgemeinen Landrechts lag erſt um ein Menſchenalter zurück und wurde von der Mehrzahl des altpreußiſchen Richterſtandes noch mit begreiflichem Stolze als ein Meiſterwerk geſchätzt, während die Wiſſenſchaft zwar den Anſchauungen Suarez’s längſt entwachſen aber noch nicht zu ſicheren neuen Ergebniſſen gelangt war. Der geſunde Sinn des Königs verkannte nicht, daß die alte Gliederung der Stände, welche dem Landrechte zu Grunde lag, durch die Reformen von 1807 längſt beſeitigt war; und da auch der Civilproceß ſowie das Strafrecht dringend der Neugeſtaltung bedurfte, ſo wurde Beyme mit der Reviſion der fridericianiſchen Geſetz- bücher beauftragt. Der aber erwies ſich, trotz ſeines liberalen Rufs, aber- mals ebenſo unfruchtbar, wie einſt im Miniſterium Dohna-Altenſtein, da ihn der König ſo oft vergeblich an die Aufhebung der Patrimonialgerichte gemahnt hatte, und brachte in den zwei Jahren ſeiner Amtsführung nichts Weſentliches zu Stande. Für eine durchgreifende Umgeſtaltung der fride- ricianiſchen Geſetzbücher war die Zeit noch nicht gekommen, und doch ging es auch nicht an, dieſe halb veraltete Geſetzgebung, deren Mängel die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/235>, abgerufen am 21.11.2024.