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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
Krone selber nicht leugnete, dem gesammten Staatsgebiete aufzuerlegen.
Daher wurde zwar in den zurückgewonnenen alten Provinzen das Land-
recht nebst der altländischen Gerichtsverfassung sogleich wieder eingeführt,
doch nicht ohne mannichfache Ausnahmen. In Westphalen sollten die Patri-
monialgerichte nur da wiederhergestellt werden, wo die Berechtigten aus-
drücklich darauf antrugen, und dies geschah nur in vier Fällen. In
Posen verzichtete man gänzlich auf die Herstellung dieser Gerichte wegen
der Unzuverlässigkeit des polnischen Adels, und gestattete außerdem noch das
mündliche Verfahren für einfache Rechtsstreitigkeiten. In Sachsen dagegen,
dem gelobten Lande der endlosen Processe, war Jedermann zufrieden, als
die Rechtspflege schlechthin auf altpreußischen Fuß gebracht wurde; nur die
zahlreichen Advocaten klagten laut über den Untergang ihres Gewerbes.
Neuvorpommern endlich behielt sein gemeines Recht und das altberühmte
Greifswalder Appellationsgericht, weil das Volk diese Institutionen zu
seinen alten, im Kieler Frieden bestätigten Landesfreiheiten rechnete.

Große und unerwartete Schwierigkeiten ergaben sich bei der Neuge-
staltung der Rechtspflege am Rhein. Mit der vorläufigen Organisation
der rheinischen Gerichte wurde der Präsident Sethe beauftragt, ein treuer
preußischer Patriot aus dem clevischen Lande, der einst schweren Herzens
in den bergischen Staatsdienst übergetreten war und dort das französische
Recht gründlich kennen gelernt hatte. Er entledigte sich seiner Aufgabe
mit Einsicht und Unparteilichkeit, unbesorgt um den Zorn der feudalen
Partei, die ihn des Bonapartismus beschuldigte, wie um die endlosen
Klagen des rheinischen Volks, das noch von den Zeiten des Kölnischen
Klüngels her gewöhnt war überall vetterschaftliche Durchstecherei zu arg-
wöhnen.*) Bald nachher, im Juni 1816, trat in Köln unter Sethes
Vorsitz eine Immediatcommission zusammen, der auch ein altländischer
Richter, Simon, angehörte. Sie sollte prüfen, ob es möglich sei, das rhei-
nische Recht mit dem preußischen in Einklang zu bringen, und erhielt von
dem König die ausdrückliche Weisung, "das Gute überall wo es sich finde
zu benutzen".

In den ersten Zeiten des Siegesrausches war die Abschaffung des
Code Napoleon von allen Patrioten, auch von den deutschgesinnten Rhein-
ländern selbst als ein unabweisbares Gebot der nationalen Ehre betrachtet
worden; alle Welt hatte Savigny zugestimmt, als er die fünf Codes eine
überstandene politische Krankheit nannte. Selbst das altgermanische öffent-
lich-mündliche Verfahren, das in der französischen Gesetzgebung wieder
aufgelebt war, galt den eifrigen Teutonen als eine willkürliche revolu-
tionäre Neuerung; so vollständig war die vaterländische Rechtsgeschichte in
Vergessenheit gerathen. Mittlerweile schlug die Stimmung im Lande gänzlich
um. Der Provinzialgeist erwachte und begann alles Bestehende als be-

*) Kircheisen an Hardenberg, 7. December 1815, an Sethe 5. Januar 1816.

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Krone ſelber nicht leugnete, dem geſammten Staatsgebiete aufzuerlegen.
Daher wurde zwar in den zurückgewonnenen alten Provinzen das Land-
recht nebſt der altländiſchen Gerichtsverfaſſung ſogleich wieder eingeführt,
doch nicht ohne mannichfache Ausnahmen. In Weſtphalen ſollten die Patri-
monialgerichte nur da wiederhergeſtellt werden, wo die Berechtigten aus-
drücklich darauf antrugen, und dies geſchah nur in vier Fällen. In
Poſen verzichtete man gänzlich auf die Herſtellung dieſer Gerichte wegen
der Unzuverläſſigkeit des polniſchen Adels, und geſtattete außerdem noch das
mündliche Verfahren für einfache Rechtsſtreitigkeiten. In Sachſen dagegen,
dem gelobten Lande der endloſen Proceſſe, war Jedermann zufrieden, als
die Rechtspflege ſchlechthin auf altpreußiſchen Fuß gebracht wurde; nur die
zahlreichen Advocaten klagten laut über den Untergang ihres Gewerbes.
Neuvorpommern endlich behielt ſein gemeines Recht und das altberühmte
Greifswalder Appellationsgericht, weil das Volk dieſe Inſtitutionen zu
ſeinen alten, im Kieler Frieden beſtätigten Landesfreiheiten rechnete.

Große und unerwartete Schwierigkeiten ergaben ſich bei der Neuge-
ſtaltung der Rechtspflege am Rhein. Mit der vorläufigen Organiſation
der rheiniſchen Gerichte wurde der Präſident Sethe beauftragt, ein treuer
preußiſcher Patriot aus dem cleviſchen Lande, der einſt ſchweren Herzens
in den bergiſchen Staatsdienſt übergetreten war und dort das franzöſiſche
Recht gründlich kennen gelernt hatte. Er entledigte ſich ſeiner Aufgabe
mit Einſicht und Unparteilichkeit, unbeſorgt um den Zorn der feudalen
Partei, die ihn des Bonapartismus beſchuldigte, wie um die endloſen
Klagen des rheiniſchen Volks, das noch von den Zeiten des Kölniſchen
Klüngels her gewöhnt war überall vetterſchaftliche Durchſtecherei zu arg-
wöhnen.*) Bald nachher, im Juni 1816, trat in Köln unter Sethes
Vorſitz eine Immediatcommiſſion zuſammen, der auch ein altländiſcher
Richter, Simon, angehörte. Sie ſollte prüfen, ob es möglich ſei, das rhei-
niſche Recht mit dem preußiſchen in Einklang zu bringen, und erhielt von
dem König die ausdrückliche Weiſung, „das Gute überall wo es ſich finde
zu benutzen“.

In den erſten Zeiten des Siegesrauſches war die Abſchaffung des
Code Napoleon von allen Patrioten, auch von den deutſchgeſinnten Rhein-
ländern ſelbſt als ein unabweisbares Gebot der nationalen Ehre betrachtet
worden; alle Welt hatte Savigny zugeſtimmt, als er die fünf Codes eine
überſtandene politiſche Krankheit nannte. Selbſt das altgermaniſche öffent-
lich-mündliche Verfahren, das in der franzöſiſchen Geſetzgebung wieder
aufgelebt war, galt den eifrigen Teutonen als eine willkürliche revolu-
tionäre Neuerung; ſo vollſtändig war die vaterländiſche Rechtsgeſchichte in
Vergeſſenheit gerathen. Mittlerweile ſchlug die Stimmung im Lande gänzlich
um. Der Provinzialgeiſt erwachte und begann alles Beſtehende als be-

*) Kircheiſen an Hardenberg, 7. December 1815, an Sethe 5. Januar 1816.
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[222/0236] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. Krone ſelber nicht leugnete, dem geſammten Staatsgebiete aufzuerlegen. Daher wurde zwar in den zurückgewonnenen alten Provinzen das Land- recht nebſt der altländiſchen Gerichtsverfaſſung ſogleich wieder eingeführt, doch nicht ohne mannichfache Ausnahmen. In Weſtphalen ſollten die Patri- monialgerichte nur da wiederhergeſtellt werden, wo die Berechtigten aus- drücklich darauf antrugen, und dies geſchah nur in vier Fällen. In Poſen verzichtete man gänzlich auf die Herſtellung dieſer Gerichte wegen der Unzuverläſſigkeit des polniſchen Adels, und geſtattete außerdem noch das mündliche Verfahren für einfache Rechtsſtreitigkeiten. In Sachſen dagegen, dem gelobten Lande der endloſen Proceſſe, war Jedermann zufrieden, als die Rechtspflege ſchlechthin auf altpreußiſchen Fuß gebracht wurde; nur die zahlreichen Advocaten klagten laut über den Untergang ihres Gewerbes. Neuvorpommern endlich behielt ſein gemeines Recht und das altberühmte Greifswalder Appellationsgericht, weil das Volk dieſe Inſtitutionen zu ſeinen alten, im Kieler Frieden beſtätigten Landesfreiheiten rechnete. Große und unerwartete Schwierigkeiten ergaben ſich bei der Neuge- ſtaltung der Rechtspflege am Rhein. Mit der vorläufigen Organiſation der rheiniſchen Gerichte wurde der Präſident Sethe beauftragt, ein treuer preußiſcher Patriot aus dem cleviſchen Lande, der einſt ſchweren Herzens in den bergiſchen Staatsdienſt übergetreten war und dort das franzöſiſche Recht gründlich kennen gelernt hatte. Er entledigte ſich ſeiner Aufgabe mit Einſicht und Unparteilichkeit, unbeſorgt um den Zorn der feudalen Partei, die ihn des Bonapartismus beſchuldigte, wie um die endloſen Klagen des rheiniſchen Volks, das noch von den Zeiten des Kölniſchen Klüngels her gewöhnt war überall vetterſchaftliche Durchſtecherei zu arg- wöhnen. *) Bald nachher, im Juni 1816, trat in Köln unter Sethes Vorſitz eine Immediatcommiſſion zuſammen, der auch ein altländiſcher Richter, Simon, angehörte. Sie ſollte prüfen, ob es möglich ſei, das rhei- niſche Recht mit dem preußiſchen in Einklang zu bringen, und erhielt von dem König die ausdrückliche Weiſung, „das Gute überall wo es ſich finde zu benutzen“. In den erſten Zeiten des Siegesrauſches war die Abſchaffung des Code Napoleon von allen Patrioten, auch von den deutſchgeſinnten Rhein- ländern ſelbſt als ein unabweisbares Gebot der nationalen Ehre betrachtet worden; alle Welt hatte Savigny zugeſtimmt, als er die fünf Codes eine überſtandene politiſche Krankheit nannte. Selbſt das altgermaniſche öffent- lich-mündliche Verfahren, das in der franzöſiſchen Geſetzgebung wieder aufgelebt war, galt den eifrigen Teutonen als eine willkürliche revolu- tionäre Neuerung; ſo vollſtändig war die vaterländiſche Rechtsgeſchichte in Vergeſſenheit gerathen. Mittlerweile ſchlug die Stimmung im Lande gänzlich um. Der Provinzialgeiſt erwachte und begann alles Beſtehende als be- *) Kircheiſen an Hardenberg, 7. December 1815, an Sethe 5. Januar 1816.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/236>, abgerufen am 24.11.2024.