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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Fürst A. Radziwill. Zerboni.
Statthalter, selber besorgt über die Folgen seines Systems, da er den
Charakter der Polen schon vor Jahren bei der Verwaltung Südpreußens
gründlich kennen gelernt hatte.

Unbefangene konnten über die Hintergedanken des polnischen Adels
nicht im Zweifel sein. Mit unerhörter Dreistigkeit erklärten seine Führer
der Regierung ins Gesicht, daß ihr Land einen Staat im Staate bilden
solle bis zur dereinstigen Wiedervereinigung mit Warschau. Selbst einer
der Gemäßigten, General v. Kosinsky, der jetzt preußische Uniform trug
und mit dem Statthalter viel verkehrte, forderte von seinem fürstlichen
Freunde die Bildung einer rein "nationalen" Armee mit ausschließlich
polnischen Offizieren, da die deutschen von den Polen doch nur als
Agenten der geheimen Polizei betrachtet würden. Ein anderer Gemäßigter,
Morawsky sendete der Staatskanzlei eine lange Denkschrift über die pol-
nische Nation. Er hob an mit der Versicherung: "wer die jetzigen Polen
mit denen von 1806 vergleicht, irrt um ein ganzes Jahrhundert." Zur
Bestätigung dieses Ausspruchs führte er sodann aus: die polnische Cultur
sei älter als die deutsche, wenngleich neuerdings die That das Wort ver-
drängt und die Fruchtbarkeit der polnischen Literatur sich vermindert habe.
Darauf warf er der Krone Preußen "das System des Verdeutschens und
Vernationalisirens" vor und beklagte namentlich, daß die polnische Ge-
schichte in den Schulen nicht mehr als besonderer Lehrstoff behandelt
würde: "seitdem fangen die Mütter an, ihren Säuglingen die National-
geschichte einzuprägen." Zum Schluß verlangte er Bürgschaften für den
Bestand der polnischen Nationalität, vornehmlich folgende vier Punkte:
einen Statthalter aus dem königlichen Hause oder aus polnischem Ge-
schlecht; einen Provinziallandtag, der durch einen stehenden Ausschuß die
Rechte der Polen vertheidigen und eine Commission zur Leitung des Schul-
wesens wählen sollte; alle Aemter, auch die geistlichen und Schulstellen,
ausnahmslos durch Eingeborene, auf Vorschlag der Provinzialstände be-
setzt; endlich zwei polnische Räthe, einen Civilbeamten und einen katho-
lischen Geistlichen, die dem Könige, dem Staatsrathe und dem Staats-
kanzler über die Posener Angelegenheiten Vortrag halten müßten. Ein
dritter polnischer Edelmann übergab dem Vertrauten des Statthalters,
Major v. Royer eine Denkschrift, worin kurzweg erklärt ward: diese Land-
schaft werde nicht eher eine preußische Provinz als bis sie von Polen
förmlich abgetreten sei; bis dahin müsse sie als polnisches Land behandelt
werden. Also dürfe man von den Polen keinen Eid fordern -- denn
"diesen verbrecherischen Eid zu halten wäre ein zweites Verbrechen" --
auch Keinen von ihnen irgend auszeichnen, da die Decorirten sich im
Kampfe gegen die Fremdherrschaft immer besonders hervorgethan hätten.*)

*) Joseph v. Morawsky, Denkschrift über die polnische Nation, 29. December 1817.
Memoire sur les affaires polonaises, von Royer an Gneisenau übersendet 6. April 1817.

Fürſt A. Radziwill. Zerboni.
Statthalter, ſelber beſorgt über die Folgen ſeines Syſtems, da er den
Charakter der Polen ſchon vor Jahren bei der Verwaltung Südpreußens
gründlich kennen gelernt hatte.

Unbefangene konnten über die Hintergedanken des polniſchen Adels
nicht im Zweifel ſein. Mit unerhörter Dreiſtigkeit erklärten ſeine Führer
der Regierung ins Geſicht, daß ihr Land einen Staat im Staate bilden
ſolle bis zur dereinſtigen Wiedervereinigung mit Warſchau. Selbſt einer
der Gemäßigten, General v. Koſinsky, der jetzt preußiſche Uniform trug
und mit dem Statthalter viel verkehrte, forderte von ſeinem fürſtlichen
Freunde die Bildung einer rein „nationalen“ Armee mit ausſchließlich
polniſchen Offizieren, da die deutſchen von den Polen doch nur als
Agenten der geheimen Polizei betrachtet würden. Ein anderer Gemäßigter,
Morawsky ſendete der Staatskanzlei eine lange Denkſchrift über die pol-
niſche Nation. Er hob an mit der Verſicherung: „wer die jetzigen Polen
mit denen von 1806 vergleicht, irrt um ein ganzes Jahrhundert.“ Zur
Beſtätigung dieſes Ausſpruchs führte er ſodann aus: die polniſche Cultur
ſei älter als die deutſche, wenngleich neuerdings die That das Wort ver-
drängt und die Fruchtbarkeit der polniſchen Literatur ſich vermindert habe.
Darauf warf er der Krone Preußen „das Syſtem des Verdeutſchens und
Vernationaliſirens“ vor und beklagte namentlich, daß die polniſche Ge-
ſchichte in den Schulen nicht mehr als beſonderer Lehrſtoff behandelt
würde: „ſeitdem fangen die Mütter an, ihren Säuglingen die National-
geſchichte einzuprägen.“ Zum Schluß verlangte er Bürgſchaften für den
Beſtand der polniſchen Nationalität, vornehmlich folgende vier Punkte:
einen Statthalter aus dem königlichen Hauſe oder aus polniſchem Ge-
ſchlecht; einen Provinziallandtag, der durch einen ſtehenden Ausſchuß die
Rechte der Polen vertheidigen und eine Commiſſion zur Leitung des Schul-
weſens wählen ſollte; alle Aemter, auch die geiſtlichen und Schulſtellen,
ausnahmslos durch Eingeborene, auf Vorſchlag der Provinzialſtände be-
ſetzt; endlich zwei polniſche Räthe, einen Civilbeamten und einen katho-
liſchen Geiſtlichen, die dem Könige, dem Staatsrathe und dem Staats-
kanzler über die Poſener Angelegenheiten Vortrag halten müßten. Ein
dritter polniſcher Edelmann übergab dem Vertrauten des Statthalters,
Major v. Royer eine Denkſchrift, worin kurzweg erklärt ward: dieſe Land-
ſchaft werde nicht eher eine preußiſche Provinz als bis ſie von Polen
förmlich abgetreten ſei; bis dahin müſſe ſie als polniſches Land behandelt
werden. Alſo dürfe man von den Polen keinen Eid fordern — denn
„dieſen verbrecheriſchen Eid zu halten wäre ein zweites Verbrechen“ —
auch Keinen von ihnen irgend auszeichnen, da die Decorirten ſich im
Kampfe gegen die Fremdherrſchaft immer beſonders hervorgethan hätten.*)

*) Joſeph v. Morawsky, Denkſchrift über die polniſche Nation, 29. December 1817.
Mémoire sur les affaires polonaises, von Royer an Gneiſenau überſendet 6. April 1817.
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[247/0261] Fürſt A. Radziwill. Zerboni. Statthalter, ſelber beſorgt über die Folgen ſeines Syſtems, da er den Charakter der Polen ſchon vor Jahren bei der Verwaltung Südpreußens gründlich kennen gelernt hatte. Unbefangene konnten über die Hintergedanken des polniſchen Adels nicht im Zweifel ſein. Mit unerhörter Dreiſtigkeit erklärten ſeine Führer der Regierung ins Geſicht, daß ihr Land einen Staat im Staate bilden ſolle bis zur dereinſtigen Wiedervereinigung mit Warſchau. Selbſt einer der Gemäßigten, General v. Koſinsky, der jetzt preußiſche Uniform trug und mit dem Statthalter viel verkehrte, forderte von ſeinem fürſtlichen Freunde die Bildung einer rein „nationalen“ Armee mit ausſchließlich polniſchen Offizieren, da die deutſchen von den Polen doch nur als Agenten der geheimen Polizei betrachtet würden. Ein anderer Gemäßigter, Morawsky ſendete der Staatskanzlei eine lange Denkſchrift über die pol- niſche Nation. Er hob an mit der Verſicherung: „wer die jetzigen Polen mit denen von 1806 vergleicht, irrt um ein ganzes Jahrhundert.“ Zur Beſtätigung dieſes Ausſpruchs führte er ſodann aus: die polniſche Cultur ſei älter als die deutſche, wenngleich neuerdings die That das Wort ver- drängt und die Fruchtbarkeit der polniſchen Literatur ſich vermindert habe. Darauf warf er der Krone Preußen „das Syſtem des Verdeutſchens und Vernationaliſirens“ vor und beklagte namentlich, daß die polniſche Ge- ſchichte in den Schulen nicht mehr als beſonderer Lehrſtoff behandelt würde: „ſeitdem fangen die Mütter an, ihren Säuglingen die National- geſchichte einzuprägen.“ Zum Schluß verlangte er Bürgſchaften für den Beſtand der polniſchen Nationalität, vornehmlich folgende vier Punkte: einen Statthalter aus dem königlichen Hauſe oder aus polniſchem Ge- ſchlecht; einen Provinziallandtag, der durch einen ſtehenden Ausſchuß die Rechte der Polen vertheidigen und eine Commiſſion zur Leitung des Schul- weſens wählen ſollte; alle Aemter, auch die geiſtlichen und Schulſtellen, ausnahmslos durch Eingeborene, auf Vorſchlag der Provinzialſtände be- ſetzt; endlich zwei polniſche Räthe, einen Civilbeamten und einen katho- liſchen Geiſtlichen, die dem Könige, dem Staatsrathe und dem Staats- kanzler über die Poſener Angelegenheiten Vortrag halten müßten. Ein dritter polniſcher Edelmann übergab dem Vertrauten des Statthalters, Major v. Royer eine Denkſchrift, worin kurzweg erklärt ward: dieſe Land- ſchaft werde nicht eher eine preußiſche Provinz als bis ſie von Polen förmlich abgetreten ſei; bis dahin müſſe ſie als polniſches Land behandelt werden. Alſo dürfe man von den Polen keinen Eid fordern — denn „dieſen verbrecheriſchen Eid zu halten wäre ein zweites Verbrechen“ — auch Keinen von ihnen irgend auszeichnen, da die Decorirten ſich im Kampfe gegen die Fremdherrſchaft immer beſonders hervorgethan hätten. *) *) Joſeph v. Morawsky, Denkſchrift über die polniſche Nation, 29. December 1817. Mémoire sur les affaires polonaises, von Royer an Gneiſenau überſendet 6. April 1817.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/261>, abgerufen am 24.11.2024.