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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
der freien Forschung tief überzeugt. Dem kirchlichen Leben stand der
strenge Rationalist nicht ohne bureaukratisches Mißtrauen gegenüber, ein
wachsamer Vertreter der Souveränität des Staates. Bei Hofe galt er
neben Schön für den radikalsten der Oberpräsidenten,*) obwohl er die
bissige Kritik des Ostpreußen verschmähte und in Wahrheit niemals weit
über die Gedanken des aufgeklärten Absolutismus hinausging.

Die Schlesier hatten in großer Zeit bewiesen, wie fest sie an ihrem
Staate hingen; auch die verwahrlosten Wasserpolen Oberschlesiens zeigten
sich der Krone treu ergeben, wenngleich die Begeisterung des Befreiungs-
krieges sie nur wenig berührte, und blieben völlig unempfänglich für die natio-
nale Propaganda der Polen. Hier allein ward König Friedrich wahrhaft ge-
liebt; von der "vorpreußischen Zeit" sprach das Volk selten und ohne Freude,
selbst der Adel dachte nicht mehr an seine altständische Herrlichkeit. Gleich-
wohl lebte hier noch ein zäher Particularismus, der in der "Schlesischen
Gesellschaft für vaterländische Cultur" zu Breslau eifrige Pflege fand. Die
Provinz nannte sich gern das Kleinod in Preußens Krone, sie war bis
zum Jahre 1808 immer durch eigene Provinzialminister, unabhängig von
dem alten Generaldirektorium, verwaltet worden und fand sich schwer
darein, daß man sie jetzt mit allen andern Provinzen auf einen Fuß stellte.
Die alte Hauptstadt, die nunmehr, der Festungsmauern entledigt, das male-
rische Gewirr ihrer finstern Gassen mit einem Kranze lieblicher Baumgänge
zu umgürten begann, bildete den bewegten Sammelplatz eines reichen und
mannichfaltigen landschaftlichen Sonderlebens. Sie war Kopf und Herz
der Provinz, wie keine der anderen Provinzialhauptstädte, selbst Königs-
berg nicht ausgenommen. Hier lag die aufblühende Hochschule neben der
Residenz des einzigen Fürstbischofs der Monarchie, der Schmutz der Juden-
gassen neben den Palästen des lebenslustigen Adels; deutsches und pol-
nisches Volksthum, protestantische und katholische Bildung, Beamtenthum
und Bürgerthum, Großindustrie und Landbau stießen hier auf einander.
Ueber dies bunte Treiben blickten die Schlesier noch wenig hinaus; selten
verließ Einer die geliebte Heimath, wo Alles so traulich verschwägert und
vervettert war, jede Hochzeit und jeder Geburtstag unfehlbar von sang-
lustigen Oder- und Boberschwänen in behaglichen Reimen gefeiert wurde.
Der stolze katholische Adel, der noch bis zum Jahre 1811 seine jüngeren
Söhne in den Domherrenpfründen des reichen Bisthums untergebracht
hatte, war in der Armee wie im Beamtenthum nur spärlich vertreten;
er sonderte sich von den kleinen Soldatengeschlechtern der pommerschen
und märkischen Ritterschaft vornehm ab und verkehrte fast häufiger in
Wien als in Berlin. Die Städteordnung, die Gewerbefreiheit und die
neuen agrarischen Gesetze hatten hier bisher mit einem starken Wider-
willen kämpfen müssen, und Merckel bedurfte seiner ganzen Klugheit und

*) Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819.

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
der freien Forſchung tief überzeugt. Dem kirchlichen Leben ſtand der
ſtrenge Rationaliſt nicht ohne bureaukratiſches Mißtrauen gegenüber, ein
wachſamer Vertreter der Souveränität des Staates. Bei Hofe galt er
neben Schön für den radikalſten der Oberpräſidenten,*) obwohl er die
biſſige Kritik des Oſtpreußen verſchmähte und in Wahrheit niemals weit
über die Gedanken des aufgeklärten Abſolutismus hinausging.

Die Schleſier hatten in großer Zeit bewieſen, wie feſt ſie an ihrem
Staate hingen; auch die verwahrloſten Waſſerpolen Oberſchleſiens zeigten
ſich der Krone treu ergeben, wenngleich die Begeiſterung des Befreiungs-
krieges ſie nur wenig berührte, und blieben völlig unempfänglich für die natio-
nale Propaganda der Polen. Hier allein ward König Friedrich wahrhaft ge-
liebt; von der „vorpreußiſchen Zeit“ ſprach das Volk ſelten und ohne Freude,
ſelbſt der Adel dachte nicht mehr an ſeine altſtändiſche Herrlichkeit. Gleich-
wohl lebte hier noch ein zäher Particularismus, der in der „Schleſiſchen
Geſellſchaft für vaterländiſche Cultur“ zu Breslau eifrige Pflege fand. Die
Provinz nannte ſich gern das Kleinod in Preußens Krone, ſie war bis
zum Jahre 1808 immer durch eigene Provinzialminiſter, unabhängig von
dem alten Generaldirektorium, verwaltet worden und fand ſich ſchwer
darein, daß man ſie jetzt mit allen andern Provinzen auf einen Fuß ſtellte.
Die alte Hauptſtadt, die nunmehr, der Feſtungsmauern entledigt, das male-
riſche Gewirr ihrer finſtern Gaſſen mit einem Kranze lieblicher Baumgänge
zu umgürten begann, bildete den bewegten Sammelplatz eines reichen und
mannichfaltigen landſchaftlichen Sonderlebens. Sie war Kopf und Herz
der Provinz, wie keine der anderen Provinzialhauptſtädte, ſelbſt Königs-
berg nicht ausgenommen. Hier lag die aufblühende Hochſchule neben der
Reſidenz des einzigen Fürſtbiſchofs der Monarchie, der Schmutz der Juden-
gaſſen neben den Paläſten des lebensluſtigen Adels; deutſches und pol-
niſches Volksthum, proteſtantiſche und katholiſche Bildung, Beamtenthum
und Bürgerthum, Großinduſtrie und Landbau ſtießen hier auf einander.
Ueber dies bunte Treiben blickten die Schleſier noch wenig hinaus; ſelten
verließ Einer die geliebte Heimath, wo Alles ſo traulich verſchwägert und
vervettert war, jede Hochzeit und jeder Geburtstag unfehlbar von ſang-
luſtigen Oder- und Boberſchwänen in behaglichen Reimen gefeiert wurde.
Der ſtolze katholiſche Adel, der noch bis zum Jahre 1811 ſeine jüngeren
Söhne in den Domherrenpfründen des reichen Bisthums untergebracht
hatte, war in der Armee wie im Beamtenthum nur ſpärlich vertreten;
er ſonderte ſich von den kleinen Soldatengeſchlechtern der pommerſchen
und märkiſchen Ritterſchaft vornehm ab und verkehrte faſt häufiger in
Wien als in Berlin. Die Städteordnung, die Gewerbefreiheit und die
neuen agrariſchen Geſetze hatten hier bisher mit einem ſtarken Wider-
willen kämpfen müſſen, und Merckel bedurfte ſeiner ganzen Klugheit und

*) Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819.
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[254/0268] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. der freien Forſchung tief überzeugt. Dem kirchlichen Leben ſtand der ſtrenge Rationaliſt nicht ohne bureaukratiſches Mißtrauen gegenüber, ein wachſamer Vertreter der Souveränität des Staates. Bei Hofe galt er neben Schön für den radikalſten der Oberpräſidenten, *) obwohl er die biſſige Kritik des Oſtpreußen verſchmähte und in Wahrheit niemals weit über die Gedanken des aufgeklärten Abſolutismus hinausging. Die Schleſier hatten in großer Zeit bewieſen, wie feſt ſie an ihrem Staate hingen; auch die verwahrloſten Waſſerpolen Oberſchleſiens zeigten ſich der Krone treu ergeben, wenngleich die Begeiſterung des Befreiungs- krieges ſie nur wenig berührte, und blieben völlig unempfänglich für die natio- nale Propaganda der Polen. Hier allein ward König Friedrich wahrhaft ge- liebt; von der „vorpreußiſchen Zeit“ ſprach das Volk ſelten und ohne Freude, ſelbſt der Adel dachte nicht mehr an ſeine altſtändiſche Herrlichkeit. Gleich- wohl lebte hier noch ein zäher Particularismus, der in der „Schleſiſchen Geſellſchaft für vaterländiſche Cultur“ zu Breslau eifrige Pflege fand. Die Provinz nannte ſich gern das Kleinod in Preußens Krone, ſie war bis zum Jahre 1808 immer durch eigene Provinzialminiſter, unabhängig von dem alten Generaldirektorium, verwaltet worden und fand ſich ſchwer darein, daß man ſie jetzt mit allen andern Provinzen auf einen Fuß ſtellte. Die alte Hauptſtadt, die nunmehr, der Feſtungsmauern entledigt, das male- riſche Gewirr ihrer finſtern Gaſſen mit einem Kranze lieblicher Baumgänge zu umgürten begann, bildete den bewegten Sammelplatz eines reichen und mannichfaltigen landſchaftlichen Sonderlebens. Sie war Kopf und Herz der Provinz, wie keine der anderen Provinzialhauptſtädte, ſelbſt Königs- berg nicht ausgenommen. Hier lag die aufblühende Hochſchule neben der Reſidenz des einzigen Fürſtbiſchofs der Monarchie, der Schmutz der Juden- gaſſen neben den Paläſten des lebensluſtigen Adels; deutſches und pol- niſches Volksthum, proteſtantiſche und katholiſche Bildung, Beamtenthum und Bürgerthum, Großinduſtrie und Landbau ſtießen hier auf einander. Ueber dies bunte Treiben blickten die Schleſier noch wenig hinaus; ſelten verließ Einer die geliebte Heimath, wo Alles ſo traulich verſchwägert und vervettert war, jede Hochzeit und jeder Geburtstag unfehlbar von ſang- luſtigen Oder- und Boberſchwänen in behaglichen Reimen gefeiert wurde. Der ſtolze katholiſche Adel, der noch bis zum Jahre 1811 ſeine jüngeren Söhne in den Domherrenpfründen des reichen Bisthums untergebracht hatte, war in der Armee wie im Beamtenthum nur ſpärlich vertreten; er ſonderte ſich von den kleinen Soldatengeſchlechtern der pommerſchen und märkiſchen Ritterſchaft vornehm ab und verkehrte faſt häufiger in Wien als in Berlin. Die Städteordnung, die Gewerbefreiheit und die neuen agrariſchen Geſetze hatten hier bisher mit einem ſtarken Wider- willen kämpfen müſſen, und Merckel bedurfte ſeiner ganzen Klugheit und *) Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/268>, abgerufen am 24.11.2024.