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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Brandenburg. Berlin.
selber mit dem Hofe einen Rundgang durch die bunte Gesellschaft hielt;
der Eintrittspreis, 1 Thlr. 16 Gr., war allerdings der großen Mehrzahl
ganz unerschwinglich. Von Politik ward außerhalb der Kreise der Stu-
denten und Turner selten gesprochen. Die wenigen politischen Schriften,
welche nach dem Verstummen der Schmalzischen Fehde noch in Berlin
erschienen, bekundeten nur zu deutlich, daß weder die Begeisterung des
Krieges noch die schöpferische Wissenschaft der neuen Universität den Geist
Nicolais von diesem seinem Heimathboden ganz hatten verdrängen können.
Buchholz tummelte sich noch mit gewohnter Selbstgefälligkeit auf den Ge-
meinplätzen der liberalen Aufklärung, und J. v. Voß erregte die gerechte
Erbitterung der neuen Provinzen durch das "Sendschreiben eines Branden-
burgers an die Rheinländer". Hier sprach es wieder, das vorlaute an-
maßende Berlinerthum von 1806. Von oben herab ertheilte der "im
Herzen des Landes Geborene" den Rheinländern seine Rathschläge und
kündigte ihnen an, das gebildete Berlin werde mit ihrem "ungemeinen
Aberglauben" schon fertig werden -- bis Rehfues in Bonn seine schon oft
im Kampfe gegen den Bonapartismus bewährte Feder einsetzte und unter
dem Jubel der Rheinländer der Berliner Weisheit heimleuchtete.

Erst seit Giovanoli im Jahre 1818 seine Conditorei eröffnete, Sparg-
napani und andere Engadiner dem Beispiele folgten, gewöhnte sich die ge-
bildete Welt an die Zeitungen. Dort in den dunklen Lesezimmern ent-
spannen sich zuweilen politische Debatten, freilich erschienen die aufgeregten
auswärtigen Blätter noch weit anziehender als die zahme Langeweile
der preußischen. Großstädtisches Gedränge zeigte sich fast allein in den
engen Gassen der inneren Stadt; die grünen Gensdarmen behielten voll-
auf Zeit, jeden Frevler, der auf der Straße rauchte, unerbittlich einzu-
fangen, und wenn der heiße Sommermittag auf die stillen geraden Häuser-
zeilen der Friedrichsstadt herniederbrannte, dann meinte man sie schnar-
chen zu hören -- so hieß es draußen im Reiche, wo der Spott über
Berlin immer willige Hörer fand. Nach dem zweiten Frieden stellte ein
verwegener Unternehmer 32 echte Warschauer Droschken auf den öffent-
lichen Plätzen auf, und die Gelehrten von Voß und Spener stritten
sich lebhaft über die Frage, woher die vielen Menschen zur Benutzung
dieses Wagenparks kommen sollten; vor Kurzem erst war ein ähnliches
Unternehmen gescheitert, diesmal aber gelang das Wagniß. Den Brief-
verkehr in der Stadt vermittelte die "löbliche Kaufmannsgilde von der
Materialhandlung"; in ihren Kramläden wurden die Stadtbriefe gesammelt,
mit mächtigen Klingeln in der Hand zogen ihre Boten durch die Straßen.
Die Masse der Bürgerschaft nahm an dem regen geistigen Leben der
höheren Gesellschaft wenig Antheil, sie blickte mit Mißtrauen auf die
Neuerungen der Gesetzgebung und verharrte zähe bei ihren schlichten klein-
städtischen Sitten. Sehr langsam, erst nach dem Kriege, verwischte sich der

Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 17

Brandenburg. Berlin.
ſelber mit dem Hofe einen Rundgang durch die bunte Geſellſchaft hielt;
der Eintrittspreis, 1 Thlr. 16 Gr., war allerdings der großen Mehrzahl
ganz unerſchwinglich. Von Politik ward außerhalb der Kreiſe der Stu-
denten und Turner ſelten geſprochen. Die wenigen politiſchen Schriften,
welche nach dem Verſtummen der Schmalziſchen Fehde noch in Berlin
erſchienen, bekundeten nur zu deutlich, daß weder die Begeiſterung des
Krieges noch die ſchöpferiſche Wiſſenſchaft der neuen Univerſität den Geiſt
Nicolais von dieſem ſeinem Heimathboden ganz hatten verdrängen können.
Buchholz tummelte ſich noch mit gewohnter Selbſtgefälligkeit auf den Ge-
meinplätzen der liberalen Aufklärung, und J. v. Voß erregte die gerechte
Erbitterung der neuen Provinzen durch das „Sendſchreiben eines Branden-
burgers an die Rheinländer“. Hier ſprach es wieder, das vorlaute an-
maßende Berlinerthum von 1806. Von oben herab ertheilte der „im
Herzen des Landes Geborene“ den Rheinländern ſeine Rathſchläge und
kündigte ihnen an, das gebildete Berlin werde mit ihrem „ungemeinen
Aberglauben“ ſchon fertig werden — bis Rehfues in Bonn ſeine ſchon oft
im Kampfe gegen den Bonapartismus bewährte Feder einſetzte und unter
dem Jubel der Rheinländer der Berliner Weisheit heimleuchtete.

Erſt ſeit Giovanoli im Jahre 1818 ſeine Conditorei eröffnete, Sparg-
napani und andere Engadiner dem Beiſpiele folgten, gewöhnte ſich die ge-
bildete Welt an die Zeitungen. Dort in den dunklen Leſezimmern ent-
ſpannen ſich zuweilen politiſche Debatten, freilich erſchienen die aufgeregten
auswärtigen Blätter noch weit anziehender als die zahme Langeweile
der preußiſchen. Großſtädtiſches Gedränge zeigte ſich faſt allein in den
engen Gaſſen der inneren Stadt; die grünen Gensdarmen behielten voll-
auf Zeit, jeden Frevler, der auf der Straße rauchte, unerbittlich einzu-
fangen, und wenn der heiße Sommermittag auf die ſtillen geraden Häuſer-
zeilen der Friedrichsſtadt herniederbrannte, dann meinte man ſie ſchnar-
chen zu hören — ſo hieß es draußen im Reiche, wo der Spott über
Berlin immer willige Hörer fand. Nach dem zweiten Frieden ſtellte ein
verwegener Unternehmer 32 echte Warſchauer Droſchken auf den öffent-
lichen Plätzen auf, und die Gelehrten von Voß und Spener ſtritten
ſich lebhaft über die Frage, woher die vielen Menſchen zur Benutzung
dieſes Wagenparks kommen ſollten; vor Kurzem erſt war ein ähnliches
Unternehmen geſcheitert, diesmal aber gelang das Wagniß. Den Brief-
verkehr in der Stadt vermittelte die „löbliche Kaufmannsgilde von der
Materialhandlung“; in ihren Kramläden wurden die Stadtbriefe geſammelt,
mit mächtigen Klingeln in der Hand zogen ihre Boten durch die Straßen.
Die Maſſe der Bürgerſchaft nahm an dem regen geiſtigen Leben der
höheren Geſellſchaft wenig Antheil, ſie blickte mit Mißtrauen auf die
Neuerungen der Geſetzgebung und verharrte zähe bei ihren ſchlichten klein-
ſtädtiſchen Sitten. Sehr langſam, erſt nach dem Kriege, verwiſchte ſich der

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[257/0271] Brandenburg. Berlin. ſelber mit dem Hofe einen Rundgang durch die bunte Geſellſchaft hielt; der Eintrittspreis, 1 Thlr. 16 Gr., war allerdings der großen Mehrzahl ganz unerſchwinglich. Von Politik ward außerhalb der Kreiſe der Stu- denten und Turner ſelten geſprochen. Die wenigen politiſchen Schriften, welche nach dem Verſtummen der Schmalziſchen Fehde noch in Berlin erſchienen, bekundeten nur zu deutlich, daß weder die Begeiſterung des Krieges noch die ſchöpferiſche Wiſſenſchaft der neuen Univerſität den Geiſt Nicolais von dieſem ſeinem Heimathboden ganz hatten verdrängen können. Buchholz tummelte ſich noch mit gewohnter Selbſtgefälligkeit auf den Ge- meinplätzen der liberalen Aufklärung, und J. v. Voß erregte die gerechte Erbitterung der neuen Provinzen durch das „Sendſchreiben eines Branden- burgers an die Rheinländer“. Hier ſprach es wieder, das vorlaute an- maßende Berlinerthum von 1806. Von oben herab ertheilte der „im Herzen des Landes Geborene“ den Rheinländern ſeine Rathſchläge und kündigte ihnen an, das gebildete Berlin werde mit ihrem „ungemeinen Aberglauben“ ſchon fertig werden — bis Rehfues in Bonn ſeine ſchon oft im Kampfe gegen den Bonapartismus bewährte Feder einſetzte und unter dem Jubel der Rheinländer der Berliner Weisheit heimleuchtete. Erſt ſeit Giovanoli im Jahre 1818 ſeine Conditorei eröffnete, Sparg- napani und andere Engadiner dem Beiſpiele folgten, gewöhnte ſich die ge- bildete Welt an die Zeitungen. Dort in den dunklen Leſezimmern ent- ſpannen ſich zuweilen politiſche Debatten, freilich erſchienen die aufgeregten auswärtigen Blätter noch weit anziehender als die zahme Langeweile der preußiſchen. Großſtädtiſches Gedränge zeigte ſich faſt allein in den engen Gaſſen der inneren Stadt; die grünen Gensdarmen behielten voll- auf Zeit, jeden Frevler, der auf der Straße rauchte, unerbittlich einzu- fangen, und wenn der heiße Sommermittag auf die ſtillen geraden Häuſer- zeilen der Friedrichsſtadt herniederbrannte, dann meinte man ſie ſchnar- chen zu hören — ſo hieß es draußen im Reiche, wo der Spott über Berlin immer willige Hörer fand. Nach dem zweiten Frieden ſtellte ein verwegener Unternehmer 32 echte Warſchauer Droſchken auf den öffent- lichen Plätzen auf, und die Gelehrten von Voß und Spener ſtritten ſich lebhaft über die Frage, woher die vielen Menſchen zur Benutzung dieſes Wagenparks kommen ſollten; vor Kurzem erſt war ein ähnliches Unternehmen geſcheitert, diesmal aber gelang das Wagniß. Den Brief- verkehr in der Stadt vermittelte die „löbliche Kaufmannsgilde von der Materialhandlung“; in ihren Kramläden wurden die Stadtbriefe geſammelt, mit mächtigen Klingeln in der Hand zogen ihre Boten durch die Straßen. Die Maſſe der Bürgerſchaft nahm an dem regen geiſtigen Leben der höheren Geſellſchaft wenig Antheil, ſie blickte mit Mißtrauen auf die Neuerungen der Geſetzgebung und verharrte zähe bei ihren ſchlichten klein- ſtädtiſchen Sitten. Sehr langſam, erſt nach dem Kriege, verwiſchte ſich der Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 17

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/271>, abgerufen am 24.11.2024.