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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
man die ständische Verfassung der neuen Provinzen erhalten und sie der
allgemeinen Verfassung anschließen? Hieß das nicht, diese Provinzen als
unabhängige Staaten anerkennen und sie zugleich einem neuen Staate
einfügen? Und erhielt man ihre Verfassung, durften sie dann nicht for-
dern, daß die allgemeine Verfassung nur mit Zustimmung ihrer Stände
geschaffen werde? Ein Gewirr verwickelter, unlösbarer Rechtsfragen erhob
sich hier; der Staat selber forderte den ständischen Particularismus seiner
Landschaften heraus, die unbedachte Zusage der Krone gab das Signal
zu einem Verfassungskampfe, der die Grundfesten der schwer errungenen
Staatseinheit bedrohte.

So unglücklich die Form der Verordnung vom 22. Mai, ebenso um-
fassend war der Plan, der ihr zu Grunde lag. Hardenberg nahm die
weitgreifenden Reformgedanken aus Steins kräftigsten Tagen wieder auf;
er beabsichtigte eine neue Kreis- und Gemeindeordnung für den gesammten
Staat, aus den Kreisständen sollten dann die Provinzialstände, aus diesen
die Reichsstände hervorgehen. Nichts lag seinen Ansichten ferner als eine
geistlose Nachahmung der französischen Charte von 1814; vielmehr ver-
suchte er die Formen der alten deutschen Landstände umzubilden für die
Zwecke des modernen Repräsentativsystems. Die königliche Verordnung ge-
brauchte die Worte "Repräsentation des Volks" und "Stände" abwechselnd
als gleichbedeutende Ausdrücke; die Absicht war, einen in drei Stände ge-
gliederten Reichstag zu bilden, der aber gänzlich auf dem Boden des Staats-
rechtes stehen, nicht die wohlerworbenen Rechte einzelner privilegirter Klassen,
sondern die Interessen des gesammten Volks vertreten sollte. Der Plan
stimmte zu den Anschauungen der Zeit; denn obwohl die Eintheilung der
Nation in Ritterschaft, Bürger und Bauern den Zuständen der modernen
Gesellschaft, namentlich im Westen, längst nicht mehr entsprach, so war
doch die öffentliche Meinung noch daran gewöhnt. Auch die neuen süd-
deutschen Verfassungen gingen von ähnlichen Grundsätzen aus: die erste
Kammer war überall eine altständische Körperschaft, im Wesentlichen eine
Adelsvertretung, die zweite Kammer in der Regel in mehrere ständische
Gruppen gegliedert. In Preußen bestanden die neuen Kreisversamm-
lungen, wie die Nationalrepräsentation von 1811, aus den Vertretern der
drei Stände; und obgleich der Staatskanzler für sociale Unterschiede keine
Vorliebe hegte, so erkannte er doch die Nothwendigkeit, die Neuerungen an
das Gewohnte und Hergebrachte anzuschließen.

Aber selbst eine solche zwischen dem Alten und dem Neuen vermittelnde
Verfassung begegnete in Preußen einem Widerstande, den die Staaten des
Südens nicht zu überwinden hatten; er entsprang den großen, mannich-
faltigen Verhältnissen dieses Staats und jener klugen Schonung, welche
die Hohenzollern in dem langen Kampfe gegen die ständische Libertät
immer bewiesen. In den Staaten des Rheinbundes waren die alten Land-
tage durch die rohen Fäuste eines despotischen Beamtenthums längst be-

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
man die ſtändiſche Verfaſſung der neuen Provinzen erhalten und ſie der
allgemeinen Verfaſſung anſchließen? Hieß das nicht, dieſe Provinzen als
unabhängige Staaten anerkennen und ſie zugleich einem neuen Staate
einfügen? Und erhielt man ihre Verfaſſung, durften ſie dann nicht for-
dern, daß die allgemeine Verfaſſung nur mit Zuſtimmung ihrer Stände
geſchaffen werde? Ein Gewirr verwickelter, unlösbarer Rechtsfragen erhob
ſich hier; der Staat ſelber forderte den ſtändiſchen Particularismus ſeiner
Landſchaften heraus, die unbedachte Zuſage der Krone gab das Signal
zu einem Verfaſſungskampfe, der die Grundfeſten der ſchwer errungenen
Staatseinheit bedrohte.

So unglücklich die Form der Verordnung vom 22. Mai, ebenſo um-
faſſend war der Plan, der ihr zu Grunde lag. Hardenberg nahm die
weitgreifenden Reformgedanken aus Steins kräftigſten Tagen wieder auf;
er beabſichtigte eine neue Kreis- und Gemeindeordnung für den geſammten
Staat, aus den Kreisſtänden ſollten dann die Provinzialſtände, aus dieſen
die Reichsſtände hervorgehen. Nichts lag ſeinen Anſichten ferner als eine
geiſtloſe Nachahmung der franzöſiſchen Charte von 1814; vielmehr ver-
ſuchte er die Formen der alten deutſchen Landſtände umzubilden für die
Zwecke des modernen Repräſentativſyſtems. Die königliche Verordnung ge-
brauchte die Worte „Repräſentation des Volks“ und „Stände“ abwechſelnd
als gleichbedeutende Ausdrücke; die Abſicht war, einen in drei Stände ge-
gliederten Reichstag zu bilden, der aber gänzlich auf dem Boden des Staats-
rechtes ſtehen, nicht die wohlerworbenen Rechte einzelner privilegirter Klaſſen,
ſondern die Intereſſen des geſammten Volks vertreten ſollte. Der Plan
ſtimmte zu den Anſchauungen der Zeit; denn obwohl die Eintheilung der
Nation in Ritterſchaft, Bürger und Bauern den Zuſtänden der modernen
Geſellſchaft, namentlich im Weſten, längſt nicht mehr entſprach, ſo war
doch die öffentliche Meinung noch daran gewöhnt. Auch die neuen ſüd-
deutſchen Verfaſſungen gingen von ähnlichen Grundſätzen aus: die erſte
Kammer war überall eine altſtändiſche Körperſchaft, im Weſentlichen eine
Adelsvertretung, die zweite Kammer in der Regel in mehrere ſtändiſche
Gruppen gegliedert. In Preußen beſtanden die neuen Kreisverſamm-
lungen, wie die Nationalrepräſentation von 1811, aus den Vertretern der
drei Stände; und obgleich der Staatskanzler für ſociale Unterſchiede keine
Vorliebe hegte, ſo erkannte er doch die Nothwendigkeit, die Neuerungen an
das Gewohnte und Hergebrachte anzuſchließen.

Aber ſelbſt eine ſolche zwiſchen dem Alten und dem Neuen vermittelnde
Verfaſſung begegnete in Preußen einem Widerſtande, den die Staaten des
Südens nicht zu überwinden hatten; er entſprang den großen, mannich-
faltigen Verhältniſſen dieſes Staats und jener klugen Schonung, welche
die Hohenzollern in dem langen Kampfe gegen die ſtändiſche Libertät
immer bewieſen. In den Staaten des Rheinbundes waren die alten Land-
tage durch die rohen Fäuſte eines despotiſchen Beamtenthums längſt be-

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[280/0294] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. man die ſtändiſche Verfaſſung der neuen Provinzen erhalten und ſie der allgemeinen Verfaſſung anſchließen? Hieß das nicht, dieſe Provinzen als unabhängige Staaten anerkennen und ſie zugleich einem neuen Staate einfügen? Und erhielt man ihre Verfaſſung, durften ſie dann nicht for- dern, daß die allgemeine Verfaſſung nur mit Zuſtimmung ihrer Stände geſchaffen werde? Ein Gewirr verwickelter, unlösbarer Rechtsfragen erhob ſich hier; der Staat ſelber forderte den ſtändiſchen Particularismus ſeiner Landſchaften heraus, die unbedachte Zuſage der Krone gab das Signal zu einem Verfaſſungskampfe, der die Grundfeſten der ſchwer errungenen Staatseinheit bedrohte. So unglücklich die Form der Verordnung vom 22. Mai, ebenſo um- faſſend war der Plan, der ihr zu Grunde lag. Hardenberg nahm die weitgreifenden Reformgedanken aus Steins kräftigſten Tagen wieder auf; er beabſichtigte eine neue Kreis- und Gemeindeordnung für den geſammten Staat, aus den Kreisſtänden ſollten dann die Provinzialſtände, aus dieſen die Reichsſtände hervorgehen. Nichts lag ſeinen Anſichten ferner als eine geiſtloſe Nachahmung der franzöſiſchen Charte von 1814; vielmehr ver- ſuchte er die Formen der alten deutſchen Landſtände umzubilden für die Zwecke des modernen Repräſentativſyſtems. Die königliche Verordnung ge- brauchte die Worte „Repräſentation des Volks“ und „Stände“ abwechſelnd als gleichbedeutende Ausdrücke; die Abſicht war, einen in drei Stände ge- gliederten Reichstag zu bilden, der aber gänzlich auf dem Boden des Staats- rechtes ſtehen, nicht die wohlerworbenen Rechte einzelner privilegirter Klaſſen, ſondern die Intereſſen des geſammten Volks vertreten ſollte. Der Plan ſtimmte zu den Anſchauungen der Zeit; denn obwohl die Eintheilung der Nation in Ritterſchaft, Bürger und Bauern den Zuſtänden der modernen Geſellſchaft, namentlich im Weſten, längſt nicht mehr entſprach, ſo war doch die öffentliche Meinung noch daran gewöhnt. Auch die neuen ſüd- deutſchen Verfaſſungen gingen von ähnlichen Grundſätzen aus: die erſte Kammer war überall eine altſtändiſche Körperſchaft, im Weſentlichen eine Adelsvertretung, die zweite Kammer in der Regel in mehrere ſtändiſche Gruppen gegliedert. In Preußen beſtanden die neuen Kreisverſamm- lungen, wie die Nationalrepräſentation von 1811, aus den Vertretern der drei Stände; und obgleich der Staatskanzler für ſociale Unterſchiede keine Vorliebe hegte, ſo erkannte er doch die Nothwendigkeit, die Neuerungen an das Gewohnte und Hergebrachte anzuſchließen. Aber ſelbſt eine ſolche zwiſchen dem Alten und dem Neuen vermittelnde Verfaſſung begegnete in Preußen einem Widerſtande, den die Staaten des Südens nicht zu überwinden hatten; er entſprang den großen, mannich- faltigen Verhältniſſen dieſes Staats und jener klugen Schonung, welche die Hohenzollern in dem langen Kampfe gegen die ſtändiſche Libertät immer bewieſen. In den Staaten des Rheinbundes waren die alten Land- tage durch die rohen Fäuſte eines despotiſchen Beamtenthums längſt be-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/294>, abgerufen am 27.11.2024.