Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Die Bereisung der Provinzen. ohne Reichsstände, die Einen aus Particularismus, Andere aus Furchtvor der Erschütterung des Thrones. Daß die Provinzialstände an die neugebildeten Provinzen sich anschließen müssen, leuchtet den Meisten ein; jedoch werden mehrfach Landtage für die Regierungsbezirke, öfter noch Stände für die althistorischen Territorien gefordert. Desgleichen von der Form der Reichsstände hegt man grundverschiedene Vorstellungen. Manche denken an ein Parlament, Andere an eine kleine Körperschaft von 40 Köpfen, die zu den Sitzungen des Staatsraths hinzugezogen werden soll. Die Frage: ob Ein- oder Zweikammersystem? wird selten aufgeworfen. Auch über die Vertretung des Bauernstandes ist man nicht einig. Die Mehr- zahl spricht dafür, aber viele Edelleute und Bürger bezweifeln, ob sich eine genügende Anzahl "tauglicher Subjecte" (so lautet der stehende Aus- druck) in dem jungen Stande finden lasse. Dem Landadel graut besonders vor Bauernadvocaten; er verlangt durchaus, daß die Bauerschaft nur durch Bauern vertreten werde. Eine keineswegs unbeträchtliche Minder- heit, Männer aus allen Ständen erklären kurzab, das Volk sei noch nicht reif für ständische Vertretung, eine geordnete Verwaltung genüge. Sehr häufig wird als einziger Grund für die Verfassung mit kindlicher Harm- losigkeit angegeben: der König hat sein Wort verpfändet, er muß es ein- lösen, im Uebrigen erwarten wir Alles von seiner Gnade. Am Erfreu- lichsten erscheint in diesem Chaos unreifer Ansichten das instinctive Ver- ständniß für den Zusammenhang von Verfassung und Verwaltung, das die Preußen vor den Süddeutschen jener Tage auszeichnete. Dank den alten Traditionen des Staats und vornehmlich den Stein-Hardenbergischen Reformen verstand hier fast Jedermann die Bedeutung der Verwaltungs- fragen zu schätzen; man sah in der Verfassung nicht den Beginn eines neuen Staatslebens, sondern die Ergänzung, den Abschluß der in der Gemeinde- und Kreisverwaltung begonnenen Reformen. Der Einfluß französischer Theorien zeigte sich noch fast nirgends, ständische Gliederung galt als selbstverständlich. Nur die Posener Notabeln standen schon auf der Höhe neufranzösischer Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 19
Die Bereiſung der Provinzen. ohne Reichsſtände, die Einen aus Particularismus, Andere aus Furchtvor der Erſchütterung des Thrones. Daß die Provinzialſtände an die neugebildeten Provinzen ſich anſchließen müſſen, leuchtet den Meiſten ein; jedoch werden mehrfach Landtage für die Regierungsbezirke, öfter noch Stände für die althiſtoriſchen Territorien gefordert. Desgleichen von der Form der Reichsſtände hegt man grundverſchiedene Vorſtellungen. Manche denken an ein Parlament, Andere an eine kleine Körperſchaft von 40 Köpfen, die zu den Sitzungen des Staatsraths hinzugezogen werden ſoll. Die Frage: ob Ein- oder Zweikammerſyſtem? wird ſelten aufgeworfen. Auch über die Vertretung des Bauernſtandes iſt man nicht einig. Die Mehr- zahl ſpricht dafür, aber viele Edelleute und Bürger bezweifeln, ob ſich eine genügende Anzahl „tauglicher Subjecte“ (ſo lautet der ſtehende Aus- druck) in dem jungen Stande finden laſſe. Dem Landadel graut beſonders vor Bauernadvocaten; er verlangt durchaus, daß die Bauerſchaft nur durch Bauern vertreten werde. Eine keineswegs unbeträchtliche Minder- heit, Männer aus allen Ständen erklären kurzab, das Volk ſei noch nicht reif für ſtändiſche Vertretung, eine geordnete Verwaltung genüge. Sehr häufig wird als einziger Grund für die Verfaſſung mit kindlicher Harm- loſigkeit angegeben: der König hat ſein Wort verpfändet, er muß es ein- löſen, im Uebrigen erwarten wir Alles von ſeiner Gnade. Am Erfreu- lichſten erſcheint in dieſem Chaos unreifer Anſichten das inſtinctive Ver- ſtändniß für den Zuſammenhang von Verfaſſung und Verwaltung, das die Preußen vor den Süddeutſchen jener Tage auszeichnete. Dank den alten Traditionen des Staats und vornehmlich den Stein-Hardenbergiſchen Reformen verſtand hier faſt Jedermann die Bedeutung der Verwaltungs- fragen zu ſchätzen; man ſah in der Verfaſſung nicht den Beginn eines neuen Staatslebens, ſondern die Ergänzung, den Abſchluß der in der Gemeinde- und Kreisverwaltung begonnenen Reformen. Der Einfluß franzöſiſcher Theorien zeigte ſich noch faſt nirgends, ſtändiſche Gliederung galt als ſelbſtverſtändlich. Nur die Poſener Notabeln ſtanden ſchon auf der Höhe neufranzöſiſcher Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 19
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Die Bereiſung der Provinzen.
ohne Reichsſtände, die Einen aus Particularismus, Andere aus Furcht
vor der Erſchütterung des Thrones. Daß die Provinzialſtände an die
neugebildeten Provinzen ſich anſchließen müſſen, leuchtet den Meiſten ein;
jedoch werden mehrfach Landtage für die Regierungsbezirke, öfter noch
Stände für die althiſtoriſchen Territorien gefordert. Desgleichen von der
Form der Reichsſtände hegt man grundverſchiedene Vorſtellungen. Manche
denken an ein Parlament, Andere an eine kleine Körperſchaft von 40 Köpfen,
die zu den Sitzungen des Staatsraths hinzugezogen werden ſoll. Die
Frage: ob Ein- oder Zweikammerſyſtem? wird ſelten aufgeworfen. Auch
über die Vertretung des Bauernſtandes iſt man nicht einig. Die Mehr-
zahl ſpricht dafür, aber viele Edelleute und Bürger bezweifeln, ob ſich
eine genügende Anzahl „tauglicher Subjecte“ (ſo lautet der ſtehende Aus-
druck) in dem jungen Stande finden laſſe. Dem Landadel graut beſonders
vor Bauernadvocaten; er verlangt durchaus, daß die Bauerſchaft nur
durch Bauern vertreten werde. Eine keineswegs unbeträchtliche Minder-
heit, Männer aus allen Ständen erklären kurzab, das Volk ſei noch nicht
reif für ſtändiſche Vertretung, eine geordnete Verwaltung genüge. Sehr
häufig wird als einziger Grund für die Verfaſſung mit kindlicher Harm-
loſigkeit angegeben: der König hat ſein Wort verpfändet, er muß es ein-
löſen, im Uebrigen erwarten wir Alles von ſeiner Gnade. Am Erfreu-
lichſten erſcheint in dieſem Chaos unreifer Anſichten das inſtinctive Ver-
ſtändniß für den Zuſammenhang von Verfaſſung und Verwaltung, das
die Preußen vor den Süddeutſchen jener Tage auszeichnete. Dank den
alten Traditionen des Staats und vornehmlich den Stein-Hardenbergiſchen
Reformen verſtand hier faſt Jedermann die Bedeutung der Verwaltungs-
fragen zu ſchätzen; man ſah in der Verfaſſung nicht den Beginn eines
neuen Staatslebens, ſondern die Ergänzung, den Abſchluß der in der
Gemeinde- und Kreisverwaltung begonnenen Reformen. Der Einfluß
franzöſiſcher Theorien zeigte ſich noch faſt nirgends, ſtändiſche Gliederung
galt als ſelbſtverſtändlich.
Nur die Poſener Notabeln ſtanden ſchon auf der Höhe neufranzöſiſcher
Bildung. Wie nach einer ſtillen Verſchwörung ſtimmten die polniſchen
Edelleute, welche Klewiz befragte, faſt alleſammt überein in dem Verlangen
nach einem unabhängigen Provinziallandtage, der das Schulweſen leiten,
die Beamten vorſchlagen und ein geſondertes Budget unter der Controle
einer Provinzial-Rechenkammer verwalten ſollte. Der unvermeidliche Ge-
neral v. Koſinsky überreicht den Entwurf einer auf dem Gleichgewicht
der Gewalten beruhenden preußiſchen „Foederativverfaſſung“: C’est la
Prusse qui doit faire l’époque dans le siècle constitutionnel. Preußen
hat bisher zu ſeinen Völkern geſagt: „Ihr ſollt Heloten ſein, zuſammen-
gehalten durch Soldaten und eine herrſchende Beamtenkaſte;“ jetzt muß
der Staat ſeine Pflicht erkennen, „eine um ſo zärtlichere Mutter zu ſein,
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