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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
rufen, vielmehr drei Commissäre in die Provinzen zu senden. Altenstein war
für die westlichen Provinzen bestimmt, Beyme für Pommern und Preußen,
Klewiz für Brandenburg, Sachsen, Schlesien, Posen. Erst wenn die Be-
richte der drei Abgesandten vorlägen, sollte die Commission ihr Gutachten
abgeben. Der Staatskanzler erklärte zugleich in einer längeren Ansprache:
die älteren Landstände seien wahre Hemmräder in der Staatsmaschine
gewesen; seine Verbesserungen und seinen Flor verdanke der Staat dem
Genie seiner Regenten; aber da der jetzige Zustand nicht ohne großen Nach-
theil fortdauern könne, da die Nation reif und würdig sei, eine dauernde
Verfassung und Repräsentation zu erhalten, da sie durch die tapfere Ver-
theidung des Vaterlandes und die Erkämpfung der Selbständigkeit desselben
ein seltenes Beispiel staatsbürgerlicher Tugend und Treue gegen den König
gegeben habe, so sei der König zu dem freiwilligen Entschlusse gekommen,
eine repräsentative Verfassung zu geben. Daran schloß sich die bestimmte
Angabe der Schranken, welche der Monarch seiner Gewährung gesetzt habe:
"S. Maj. wollen die künftigen Stände gern über die zu gebenden Gesetze
hören, aber Höchst Ihr bestimmter Wille ist, ihnen nur eine berathende
Stimme einzuräumen, mit ausdrücklicher Ausschließung von aller Ein-
mischung in die Verwaltung."

Im Spätsommer und Herbst vollzogen die drei Minister ihre Rund-
reise. Sie waren beauftragt sich über alle ständischen Institutionen, die
jemals in den Territorien bestanden, genau zu unterrichten und für die
Zukunft vornehmlich zwei Fragen zu stellen: ob eine Vertretung des Bauern-
standes neben Adel und Städten möglich und nützlich sei? und ob man
Reichsstände wünsche oder blos Provinzialstände? Im Ganzen wurden
gegen 300 Personen um ihre Ansicht befragt (in Schlesien 57 Notable).
Die weitaus größere Hälfte gehörte dem Landadel an, was sich aus den bis-
herigen ständischen Verhältnissen nothwendig ergab; doch gaben auch Kauf-
leute und Gewerbtreibende, Bürgermeister und Geistliche in großer Zahl
ihre Meinung ab, in den Küstenprovinzen wendete sich Beyme mit Vor-
liebe an die bürgerlichen Klassen. Dagegen wurden aus dem Bauern-
stande nur Wenige gehört, die Meisten in Schlesien und Magdeburg,
kein Einziger in den vormals sächsischen Landestheilen, wo der Bauer
kaum erst begann sich von dem Drucke der Adelsherrschaft zu erholen.

Zieht man die Summe aus dem Gewirr der zumeist treuherzig, mit
deutschem Freimuth vorgetragenen Ansichten, so erhellt unwidersprechlich:
eine durchgebildete öffentliche Meinung oder gar ein leidenschaftlicher Volks-
wille, der auf die Krone hätte drücken können, bestand noch nicht, die alt-
ständische Bewegung fand nicht nur kein Gegengewicht im Volke, sondern
eine starke Unterstützung an dem naiven Particularismus der Provinzen.
Provinzialstände wünschte man fast überall; sehr vereinzelt stand der Prä-
sident v. Motz, der um der Staatseinheit willen lediglich einen Reichstag
verlangte. Dagegen erklärten sich zahlreiche Stimmen für Provinzialstände

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
rufen, vielmehr drei Commiſſäre in die Provinzen zu ſenden. Altenſtein war
für die weſtlichen Provinzen beſtimmt, Beyme für Pommern und Preußen,
Klewiz für Brandenburg, Sachſen, Schleſien, Poſen. Erſt wenn die Be-
richte der drei Abgeſandten vorlägen, ſollte die Commiſſion ihr Gutachten
abgeben. Der Staatskanzler erklärte zugleich in einer längeren Anſprache:
die älteren Landſtände ſeien wahre Hemmräder in der Staatsmaſchine
geweſen; ſeine Verbeſſerungen und ſeinen Flor verdanke der Staat dem
Genie ſeiner Regenten; aber da der jetzige Zuſtand nicht ohne großen Nach-
theil fortdauern könne, da die Nation reif und würdig ſei, eine dauernde
Verfaſſung und Repräſentation zu erhalten, da ſie durch die tapfere Ver-
theidung des Vaterlandes und die Erkämpfung der Selbſtändigkeit deſſelben
ein ſeltenes Beiſpiel ſtaatsbürgerlicher Tugend und Treue gegen den König
gegeben habe, ſo ſei der König zu dem freiwilligen Entſchluſſe gekommen,
eine repräſentative Verfaſſung zu geben. Daran ſchloß ſich die beſtimmte
Angabe der Schranken, welche der Monarch ſeiner Gewährung geſetzt habe:
„S. Maj. wollen die künftigen Stände gern über die zu gebenden Geſetze
hören, aber Höchſt Ihr beſtimmter Wille iſt, ihnen nur eine berathende
Stimme einzuräumen, mit ausdrücklicher Ausſchließung von aller Ein-
miſchung in die Verwaltung.“

Im Spätſommer und Herbſt vollzogen die drei Miniſter ihre Rund-
reiſe. Sie waren beauftragt ſich über alle ſtändiſchen Inſtitutionen, die
jemals in den Territorien beſtanden, genau zu unterrichten und für die
Zukunft vornehmlich zwei Fragen zu ſtellen: ob eine Vertretung des Bauern-
ſtandes neben Adel und Städten möglich und nützlich ſei? und ob man
Reichsſtände wünſche oder blos Provinzialſtände? Im Ganzen wurden
gegen 300 Perſonen um ihre Anſicht befragt (in Schleſien 57 Notable).
Die weitaus größere Hälfte gehörte dem Landadel an, was ſich aus den bis-
herigen ſtändiſchen Verhältniſſen nothwendig ergab; doch gaben auch Kauf-
leute und Gewerbtreibende, Bürgermeiſter und Geiſtliche in großer Zahl
ihre Meinung ab, in den Küſtenprovinzen wendete ſich Beyme mit Vor-
liebe an die bürgerlichen Klaſſen. Dagegen wurden aus dem Bauern-
ſtande nur Wenige gehört, die Meiſten in Schleſien und Magdeburg,
kein Einziger in den vormals ſächſiſchen Landestheilen, wo der Bauer
kaum erſt begann ſich von dem Drucke der Adelsherrſchaft zu erholen.

Zieht man die Summe aus dem Gewirr der zumeiſt treuherzig, mit
deutſchem Freimuth vorgetragenen Anſichten, ſo erhellt unwiderſprechlich:
eine durchgebildete öffentliche Meinung oder gar ein leidenſchaftlicher Volks-
wille, der auf die Krone hätte drücken können, beſtand noch nicht, die alt-
ſtändiſche Bewegung fand nicht nur kein Gegengewicht im Volke, ſondern
eine ſtarke Unterſtützung an dem naiven Particularismus der Provinzen.
Provinzialſtände wünſchte man faſt überall; ſehr vereinzelt ſtand der Prä-
ſident v. Motz, der um der Staatseinheit willen lediglich einen Reichstag
verlangte. Dagegen erklärten ſich zahlreiche Stimmen für Provinzialſtände

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[288/0302] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. rufen, vielmehr drei Commiſſäre in die Provinzen zu ſenden. Altenſtein war für die weſtlichen Provinzen beſtimmt, Beyme für Pommern und Preußen, Klewiz für Brandenburg, Sachſen, Schleſien, Poſen. Erſt wenn die Be- richte der drei Abgeſandten vorlägen, ſollte die Commiſſion ihr Gutachten abgeben. Der Staatskanzler erklärte zugleich in einer längeren Anſprache: die älteren Landſtände ſeien wahre Hemmräder in der Staatsmaſchine geweſen; ſeine Verbeſſerungen und ſeinen Flor verdanke der Staat dem Genie ſeiner Regenten; aber da der jetzige Zuſtand nicht ohne großen Nach- theil fortdauern könne, da die Nation reif und würdig ſei, eine dauernde Verfaſſung und Repräſentation zu erhalten, da ſie durch die tapfere Ver- theidung des Vaterlandes und die Erkämpfung der Selbſtändigkeit deſſelben ein ſeltenes Beiſpiel ſtaatsbürgerlicher Tugend und Treue gegen den König gegeben habe, ſo ſei der König zu dem freiwilligen Entſchluſſe gekommen, eine repräſentative Verfaſſung zu geben. Daran ſchloß ſich die beſtimmte Angabe der Schranken, welche der Monarch ſeiner Gewährung geſetzt habe: „S. Maj. wollen die künftigen Stände gern über die zu gebenden Geſetze hören, aber Höchſt Ihr beſtimmter Wille iſt, ihnen nur eine berathende Stimme einzuräumen, mit ausdrücklicher Ausſchließung von aller Ein- miſchung in die Verwaltung.“ Im Spätſommer und Herbſt vollzogen die drei Miniſter ihre Rund- reiſe. Sie waren beauftragt ſich über alle ſtändiſchen Inſtitutionen, die jemals in den Territorien beſtanden, genau zu unterrichten und für die Zukunft vornehmlich zwei Fragen zu ſtellen: ob eine Vertretung des Bauern- ſtandes neben Adel und Städten möglich und nützlich ſei? und ob man Reichsſtände wünſche oder blos Provinzialſtände? Im Ganzen wurden gegen 300 Perſonen um ihre Anſicht befragt (in Schleſien 57 Notable). Die weitaus größere Hälfte gehörte dem Landadel an, was ſich aus den bis- herigen ſtändiſchen Verhältniſſen nothwendig ergab; doch gaben auch Kauf- leute und Gewerbtreibende, Bürgermeiſter und Geiſtliche in großer Zahl ihre Meinung ab, in den Küſtenprovinzen wendete ſich Beyme mit Vor- liebe an die bürgerlichen Klaſſen. Dagegen wurden aus dem Bauern- ſtande nur Wenige gehört, die Meiſten in Schleſien und Magdeburg, kein Einziger in den vormals ſächſiſchen Landestheilen, wo der Bauer kaum erſt begann ſich von dem Drucke der Adelsherrſchaft zu erholen. Zieht man die Summe aus dem Gewirr der zumeiſt treuherzig, mit deutſchem Freimuth vorgetragenen Anſichten, ſo erhellt unwiderſprechlich: eine durchgebildete öffentliche Meinung oder gar ein leidenſchaftlicher Volks- wille, der auf die Krone hätte drücken können, beſtand noch nicht, die alt- ſtändiſche Bewegung fand nicht nur kein Gegengewicht im Volke, ſondern eine ſtarke Unterſtützung an dem naiven Particularismus der Provinzen. Provinzialſtände wünſchte man faſt überall; ſehr vereinzelt ſtand der Prä- ſident v. Motz, der um der Staatseinheit willen lediglich einen Reichstag verlangte. Dagegen erklärten ſich zahlreiche Stimmen für Provinzialſtände

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/302>, abgerufen am 22.11.2024.