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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Alt-Württemberg.
des politischen Dilettantismus; sie meinten ihrem staatsmännischen Be-
rufe zu genügen, wenn sie nur die Kernsätze der constitutionellen Doctrin
mit gesinnungstüchtiger Entrüstung beharrlich wiederholten, und suchten was
ihnen an Macht fehlte durch prahlende Selbstüberhebung zu ersetzen.
An die Namen: Verfassung, Volksvertretung, Volksmann heftete sich eine
fast abgöttische Verehrung; wer zu den Kronen hielt ward als feiler
Stellenjäger verdächtigt. Die schlechten Künste der polizeilichen Verfolgung
steigerten dann mit der Erbitterung auch den Hochmuth der Opposition
und warben immer neue Anhänger für jene Rotteck'sche Lehre, welche das
Mißgeschick der unschuldigen Völker allein aus der Bosheit der Regie-
renden herleitete. In der schlimmen Schule der bündischen Anarchie und
des constitutionellen Kleinlebens wurden die Deutschen allmählich das un-
zufriedenste und zugleich das gehorsamste aller europäischen Völker. --

Gleich der erste Landtag dieser Friedensjahre, der württembergische,
wirkte verwirrend und verbitternd auf die öffentliche Meinung. Denn
hier entlud sich der lang verhaltene berechtigte Groll wider den rhein-
bündischen Despotismus mit einer ungestümen Heftigkeit, die alle Höfe
mit Angst erfüllte; die demokratischen Ideen des neuen Jahrhunderts ver-
bündeten sich mit dem Trotze der altständischen Libertät; Recht und Un-
recht lagen auf beiden Seiten unzertrennlich vermischt. Der Kampf um
die Neubildung der Verfassungsformen erschien hier zugleich als ein Rechts-
streit um wohlerworbene vertragsmäßige Freiheiten, die Machtfragen des
constitutionellen Lebens wurden nach den Regeln des Civilprocesses be-
urtheilt, und die formalistische Staatsanschauung der am Privatrechte ge-
schulten Juristen erlangte schon in diesem ersten Verfassungskampfe des
neuen Deutschlands ein Ansehen, das der freien Entwicklung des deutschen
Parlamentarismus verderblich wurde.

Unter allen weltlichen Territorien des Reichs hatten Württemberg
und Mecklenburg sich das altständische Staatswesen am längsten und
treuesten bewahrt; noch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, in
der Blüthezeit des Absolutismus, wurde in beiden Ländern die ständische
Verfassung durch einen Erbvergleich feierlich bestätigt. Während die Massen
überall sonst die Vielherrschaft der Herren Stände haßten und die auf-
strebende Fürstenmacht als den Schirmherrn der Schwachen verehrten, war
in Württemberg das alte gute Recht dem gesammten Volke ein Heilig-
thum. Jeder Altwürttemberger wiederholte mit Selbstgefühl den Aus-
spruch von Fox: es giebt in Europa nur zwei Verfassungen, die den
Namen verdienen, die englische und die württembergische. In der Ver-
theidigung des Landesrechts ging dreihundert Jahre lang alle politische
Willenskraft dieses Volkes auf, an ihr schulte sich jener trotzige schwäbische
Rechtssinn, der in dem Wahlspruche "parta tueri" seinen Ausdruck fand.
Männer, Weiber und Kinder eilten dem alten J. J. Moser, dem Mär-
tyrer des guten alten Rechts, festlich entgegen, als er auf die Verwendung

Alt-Württemberg.
des politiſchen Dilettantismus; ſie meinten ihrem ſtaatsmänniſchen Be-
rufe zu genügen, wenn ſie nur die Kernſätze der conſtitutionellen Doctrin
mit geſinnungstüchtiger Entrüſtung beharrlich wiederholten, und ſuchten was
ihnen an Macht fehlte durch prahlende Selbſtüberhebung zu erſetzen.
An die Namen: Verfaſſung, Volksvertretung, Volksmann heftete ſich eine
faſt abgöttiſche Verehrung; wer zu den Kronen hielt ward als feiler
Stellenjäger verdächtigt. Die ſchlechten Künſte der polizeilichen Verfolgung
ſteigerten dann mit der Erbitterung auch den Hochmuth der Oppoſition
und warben immer neue Anhänger für jene Rotteck’ſche Lehre, welche das
Mißgeſchick der unſchuldigen Völker allein aus der Bosheit der Regie-
renden herleitete. In der ſchlimmen Schule der bündiſchen Anarchie und
des conſtitutionellen Kleinlebens wurden die Deutſchen allmählich das un-
zufriedenſte und zugleich das gehorſamſte aller europäiſchen Völker. —

Gleich der erſte Landtag dieſer Friedensjahre, der württembergiſche,
wirkte verwirrend und verbitternd auf die öffentliche Meinung. Denn
hier entlud ſich der lang verhaltene berechtigte Groll wider den rhein-
bündiſchen Despotismus mit einer ungeſtümen Heftigkeit, die alle Höfe
mit Angſt erfüllte; die demokratiſchen Ideen des neuen Jahrhunderts ver-
bündeten ſich mit dem Trotze der altſtändiſchen Libertät; Recht und Un-
recht lagen auf beiden Seiten unzertrennlich vermiſcht. Der Kampf um
die Neubildung der Verfaſſungsformen erſchien hier zugleich als ein Rechts-
ſtreit um wohlerworbene vertragsmäßige Freiheiten, die Machtfragen des
conſtitutionellen Lebens wurden nach den Regeln des Civilproceſſes be-
urtheilt, und die formaliſtiſche Staatsanſchauung der am Privatrechte ge-
ſchulten Juriſten erlangte ſchon in dieſem erſten Verfaſſungskampfe des
neuen Deutſchlands ein Anſehen, das der freien Entwicklung des deutſchen
Parlamentarismus verderblich wurde.

Unter allen weltlichen Territorien des Reichs hatten Württemberg
und Mecklenburg ſich das altſtändiſche Staatsweſen am längſten und
treueſten bewahrt; noch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, in
der Blüthezeit des Abſolutismus, wurde in beiden Ländern die ſtändiſche
Verfaſſung durch einen Erbvergleich feierlich beſtätigt. Während die Maſſen
überall ſonſt die Vielherrſchaft der Herren Stände haßten und die auf-
ſtrebende Fürſtenmacht als den Schirmherrn der Schwachen verehrten, war
in Württemberg das alte gute Recht dem geſammten Volke ein Heilig-
thum. Jeder Altwürttemberger wiederholte mit Selbſtgefühl den Aus-
ſpruch von Fox: es giebt in Europa nur zwei Verfaſſungen, die den
Namen verdienen, die engliſche und die württembergiſche. In der Ver-
theidigung des Landesrechts ging dreihundert Jahre lang alle politiſche
Willenskraft dieſes Volkes auf, an ihr ſchulte ſich jener trotzige ſchwäbiſche
Rechtsſinn, der in dem Wahlſpruche „parta tueri“ ſeinen Ausdruck fand.
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tyrer des guten alten Rechts, feſtlich entgegen, als er auf die Verwendung

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[297/0311] Alt-Württemberg. des politiſchen Dilettantismus; ſie meinten ihrem ſtaatsmänniſchen Be- rufe zu genügen, wenn ſie nur die Kernſätze der conſtitutionellen Doctrin mit geſinnungstüchtiger Entrüſtung beharrlich wiederholten, und ſuchten was ihnen an Macht fehlte durch prahlende Selbſtüberhebung zu erſetzen. An die Namen: Verfaſſung, Volksvertretung, Volksmann heftete ſich eine faſt abgöttiſche Verehrung; wer zu den Kronen hielt ward als feiler Stellenjäger verdächtigt. Die ſchlechten Künſte der polizeilichen Verfolgung ſteigerten dann mit der Erbitterung auch den Hochmuth der Oppoſition und warben immer neue Anhänger für jene Rotteck’ſche Lehre, welche das Mißgeſchick der unſchuldigen Völker allein aus der Bosheit der Regie- renden herleitete. In der ſchlimmen Schule der bündiſchen Anarchie und des conſtitutionellen Kleinlebens wurden die Deutſchen allmählich das un- zufriedenſte und zugleich das gehorſamſte aller europäiſchen Völker. — Gleich der erſte Landtag dieſer Friedensjahre, der württembergiſche, wirkte verwirrend und verbitternd auf die öffentliche Meinung. Denn hier entlud ſich der lang verhaltene berechtigte Groll wider den rhein- bündiſchen Despotismus mit einer ungeſtümen Heftigkeit, die alle Höfe mit Angſt erfüllte; die demokratiſchen Ideen des neuen Jahrhunderts ver- bündeten ſich mit dem Trotze der altſtändiſchen Libertät; Recht und Un- recht lagen auf beiden Seiten unzertrennlich vermiſcht. Der Kampf um die Neubildung der Verfaſſungsformen erſchien hier zugleich als ein Rechts- ſtreit um wohlerworbene vertragsmäßige Freiheiten, die Machtfragen des conſtitutionellen Lebens wurden nach den Regeln des Civilproceſſes be- urtheilt, und die formaliſtiſche Staatsanſchauung der am Privatrechte ge- ſchulten Juriſten erlangte ſchon in dieſem erſten Verfaſſungskampfe des neuen Deutſchlands ein Anſehen, das der freien Entwicklung des deutſchen Parlamentarismus verderblich wurde. Unter allen weltlichen Territorien des Reichs hatten Württemberg und Mecklenburg ſich das altſtändiſche Staatsweſen am längſten und treueſten bewahrt; noch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, in der Blüthezeit des Abſolutismus, wurde in beiden Ländern die ſtändiſche Verfaſſung durch einen Erbvergleich feierlich beſtätigt. Während die Maſſen überall ſonſt die Vielherrſchaft der Herren Stände haßten und die auf- ſtrebende Fürſtenmacht als den Schirmherrn der Schwachen verehrten, war in Württemberg das alte gute Recht dem geſammten Volke ein Heilig- thum. Jeder Altwürttemberger wiederholte mit Selbſtgefühl den Aus- ſpruch von Fox: es giebt in Europa nur zwei Verfaſſungen, die den Namen verdienen, die engliſche und die württembergiſche. In der Ver- theidigung des Landesrechts ging dreihundert Jahre lang alle politiſche Willenskraft dieſes Volkes auf, an ihr ſchulte ſich jener trotzige ſchwäbiſche Rechtsſinn, der in dem Wahlſpruche „parta tueri“ ſeinen Ausdruck fand. Männer, Weiber und Kinder eilten dem alten J. J. Moſer, dem Mär- tyrer des guten alten Rechts, feſtlich entgegen, als er auf die Verwendung

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/311>, abgerufen am 22.11.2024.