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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe.
Friedrichs des Großen vom Hohentwiel wieder in die Freiheit zurückkehrte;
selbst dem groß angelegten politischen Kopfe Spittlers waren die Gedanken
des heimischen Staatsrechts dermaßen in Fleisch und Blut gedrungen,
daß er alle Verfassungen der Geschichte unwillkürlich nach dem Maße der
schwäbischen Freiheit beurtheilte. Diese Liebe des Volks verdankte der alt-
württembergische Staat vornehmlich seinem strengbürgerlichen Charakter.

Hier in dem Lande der Städtebünde und der Bauernkriege, auf dem
üppigsten Boden des deutschen Sondergeistes ging auch der Adel von
jeher seines eigenen Weges. Er erwarb sich die reichsunmittelbare Freiheit
und verschmähte die Theilnahme, als das Land Württemberg im Jahre
1514 mit Herzog Ulrich sein ständisches Grundgesetz, den Tübinger Vertrag,
vereinbarte; nur in dem Hof- und Staatsdienste des Hauses Württem-
berg erschienen die schwäbischen Reichsritter häufig als bevorzugte Gäste.
Den Landtag des Herzogthums bildeten allein die Prälaten der lutheri-
schen Landeskirche und die von den Stadträthen erwählten Vertreter der
Städte und Aemter -- eine bürgerliche Oligarchie, im Kleinen ebenso
mächtig wie die Generalstaaten der niederländischen Republik und wie
diese beständig im Kampfe mit einer unfertigen monarchischen Gewalt.
Der Herzog schaltete als absoluter Herr über seinem großen Kammergute,
dessen reicher Ertrag in ruhiger Zeit die Ausgaben des Hofes und der
Regierung vollauf deckte. Gerieth er durch Verschwendung oder Kriegs-
nöthe in Schulden, so erbat er von dem Landtage die Bewilligung von
Steuern und erlangte sie nur wenn die ständischen Freiheiten in einem
vertragsmäßigen Landtagsschlusse abermals bestätigt und erweitert wurden.
In den meisten anderen altständischen Territorien benutzte die aufstrebende
monarchische Gewalt die Ausschüsse der Landstände um die Macht des
Landtags von innen heraus zu zerstören. Auch der württembergische
Landtag wurde im achtzehnten Jahrhundert nur noch selten berufen; aber
seine Macht ging nicht auf den Herzog über, sondern auf die beiden Aus-
schüsse der Stände. Der kleine Ausschuß in Stuttgart war in Wahr-
heit der Landesherr. Er tagte beständig und ergänzte sich selbst, er erhob
und verwendete die Einnahmen der landschaftlichen Steuerkasse nach freiem
Ermessen, versorgte die Kinder und Vettern des bürgerlichen "Herren-
standes", die Stockmaier, Pfaff und Teuffel in den ständischen und städti-
schen Aemtern. Erschienen dann die dem Herzog und der Landschaft zu-
gleich verpflichteten Geheimen Räthe um die Rechnungen der Steuerkasse
abzuhören, so wurde der rothe Eilfinger Wein nicht gespart; im Nothfalle
that man auch einen Griff in die berüchtigte geheime Truhe des Aus-
schusses. Sie diente zu allen den Künsten der Corruption, deren die
Oligarchie nie entbehren kann, zur "wohlmeinenden Entfernung eines
ungebärdigen, alle Mißbräuche rügenden" Beamten oder auch zum Kampfe
wider den Landesfürsten. Unerschütterlich vertheidigte der Ausschuß die ver-
briefte Landesfreiheit gegen jede Regung monarchischen Eigenwillens und

II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Friedrichs des Großen vom Hohentwiel wieder in die Freiheit zurückkehrte;
ſelbſt dem groß angelegten politiſchen Kopfe Spittlers waren die Gedanken
des heimiſchen Staatsrechts dermaßen in Fleiſch und Blut gedrungen,
daß er alle Verfaſſungen der Geſchichte unwillkürlich nach dem Maße der
ſchwäbiſchen Freiheit beurtheilte. Dieſe Liebe des Volks verdankte der alt-
württembergiſche Staat vornehmlich ſeinem ſtrengbürgerlichen Charakter.

Hier in dem Lande der Städtebünde und der Bauernkriege, auf dem
üppigſten Boden des deutſchen Sondergeiſtes ging auch der Adel von
jeher ſeines eigenen Weges. Er erwarb ſich die reichsunmittelbare Freiheit
und verſchmähte die Theilnahme, als das Land Württemberg im Jahre
1514 mit Herzog Ulrich ſein ſtändiſches Grundgeſetz, den Tübinger Vertrag,
vereinbarte; nur in dem Hof- und Staatsdienſte des Hauſes Württem-
berg erſchienen die ſchwäbiſchen Reichsritter häufig als bevorzugte Gäſte.
Den Landtag des Herzogthums bildeten allein die Prälaten der lutheri-
ſchen Landeskirche und die von den Stadträthen erwählten Vertreter der
Städte und Aemter — eine bürgerliche Oligarchie, im Kleinen ebenſo
mächtig wie die Generalſtaaten der niederländiſchen Republik und wie
dieſe beſtändig im Kampfe mit einer unfertigen monarchiſchen Gewalt.
Der Herzog ſchaltete als abſoluter Herr über ſeinem großen Kammergute,
deſſen reicher Ertrag in ruhiger Zeit die Ausgaben des Hofes und der
Regierung vollauf deckte. Gerieth er durch Verſchwendung oder Kriegs-
nöthe in Schulden, ſo erbat er von dem Landtage die Bewilligung von
Steuern und erlangte ſie nur wenn die ſtändiſchen Freiheiten in einem
vertragsmäßigen Landtagsſchluſſe abermals beſtätigt und erweitert wurden.
In den meiſten anderen altſtändiſchen Territorien benutzte die aufſtrebende
monarchiſche Gewalt die Ausſchüſſe der Landſtände um die Macht des
Landtags von innen heraus zu zerſtören. Auch der württembergiſche
Landtag wurde im achtzehnten Jahrhundert nur noch ſelten berufen; aber
ſeine Macht ging nicht auf den Herzog über, ſondern auf die beiden Aus-
ſchüſſe der Stände. Der kleine Ausſchuß in Stuttgart war in Wahr-
heit der Landesherr. Er tagte beſtändig und ergänzte ſich ſelbſt, er erhob
und verwendete die Einnahmen der landſchaftlichen Steuerkaſſe nach freiem
Ermeſſen, verſorgte die Kinder und Vettern des bürgerlichen „Herren-
ſtandes“, die Stockmaier, Pfaff und Teuffel in den ſtändiſchen und ſtädti-
ſchen Aemtern. Erſchienen dann die dem Herzog und der Landſchaft zu-
gleich verpflichteten Geheimen Räthe um die Rechnungen der Steuerkaſſe
abzuhören, ſo wurde der rothe Eilfinger Wein nicht geſpart; im Nothfalle
that man auch einen Griff in die berüchtigte geheime Truhe des Aus-
ſchuſſes. Sie diente zu allen den Künſten der Corruption, deren die
Oligarchie nie entbehren kann, zur „wohlmeinenden Entfernung eines
ungebärdigen, alle Mißbräuche rügenden“ Beamten oder auch zum Kampfe
wider den Landesfürſten. Unerſchütterlich vertheidigte der Ausſchuß die ver-
briefte Landesfreiheit gegen jede Regung monarchiſchen Eigenwillens und

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[298/0312] II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe. Friedrichs des Großen vom Hohentwiel wieder in die Freiheit zurückkehrte; ſelbſt dem groß angelegten politiſchen Kopfe Spittlers waren die Gedanken des heimiſchen Staatsrechts dermaßen in Fleiſch und Blut gedrungen, daß er alle Verfaſſungen der Geſchichte unwillkürlich nach dem Maße der ſchwäbiſchen Freiheit beurtheilte. Dieſe Liebe des Volks verdankte der alt- württembergiſche Staat vornehmlich ſeinem ſtrengbürgerlichen Charakter. Hier in dem Lande der Städtebünde und der Bauernkriege, auf dem üppigſten Boden des deutſchen Sondergeiſtes ging auch der Adel von jeher ſeines eigenen Weges. Er erwarb ſich die reichsunmittelbare Freiheit und verſchmähte die Theilnahme, als das Land Württemberg im Jahre 1514 mit Herzog Ulrich ſein ſtändiſches Grundgeſetz, den Tübinger Vertrag, vereinbarte; nur in dem Hof- und Staatsdienſte des Hauſes Württem- berg erſchienen die ſchwäbiſchen Reichsritter häufig als bevorzugte Gäſte. Den Landtag des Herzogthums bildeten allein die Prälaten der lutheri- ſchen Landeskirche und die von den Stadträthen erwählten Vertreter der Städte und Aemter — eine bürgerliche Oligarchie, im Kleinen ebenſo mächtig wie die Generalſtaaten der niederländiſchen Republik und wie dieſe beſtändig im Kampfe mit einer unfertigen monarchiſchen Gewalt. Der Herzog ſchaltete als abſoluter Herr über ſeinem großen Kammergute, deſſen reicher Ertrag in ruhiger Zeit die Ausgaben des Hofes und der Regierung vollauf deckte. Gerieth er durch Verſchwendung oder Kriegs- nöthe in Schulden, ſo erbat er von dem Landtage die Bewilligung von Steuern und erlangte ſie nur wenn die ſtändiſchen Freiheiten in einem vertragsmäßigen Landtagsſchluſſe abermals beſtätigt und erweitert wurden. In den meiſten anderen altſtändiſchen Territorien benutzte die aufſtrebende monarchiſche Gewalt die Ausſchüſſe der Landſtände um die Macht des Landtags von innen heraus zu zerſtören. Auch der württembergiſche Landtag wurde im achtzehnten Jahrhundert nur noch ſelten berufen; aber ſeine Macht ging nicht auf den Herzog über, ſondern auf die beiden Aus- ſchüſſe der Stände. Der kleine Ausſchuß in Stuttgart war in Wahr- heit der Landesherr. Er tagte beſtändig und ergänzte ſich ſelbſt, er erhob und verwendete die Einnahmen der landſchaftlichen Steuerkaſſe nach freiem Ermeſſen, verſorgte die Kinder und Vettern des bürgerlichen „Herren- ſtandes“, die Stockmaier, Pfaff und Teuffel in den ſtändiſchen und ſtädti- ſchen Aemtern. Erſchienen dann die dem Herzog und der Landſchaft zu- gleich verpflichteten Geheimen Räthe um die Rechnungen der Steuerkaſſe abzuhören, ſo wurde der rothe Eilfinger Wein nicht geſpart; im Nothfalle that man auch einen Griff in die berüchtigte geheime Truhe des Aus- ſchuſſes. Sie diente zu allen den Künſten der Corruption, deren die Oligarchie nie entbehren kann, zur „wohlmeinenden Entfernung eines ungebärdigen, alle Mißbräuche rügenden“ Beamten oder auch zum Kampfe wider den Landesfürſten. Unerſchütterlich vertheidigte der Ausſchuß die ver- briefte Landesfreiheit gegen jede Regung monarchiſchen Eigenwillens und

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/312>, abgerufen am 22.11.2024.