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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Nachgiebigkeit des Königs.
schon, daß er "ein Ausländer" war und durch sein reines Hochdeutsch
die schwäbischen Ohren beleidigte; doch als er sich gar in burschikosen
Witzen über die "Bocksbeuteleien" der alten Verfassung erging und über
die altwürttembergischen Schreiber sagte: solche Subjecte wüßten von
Himmel und Erde nichts als Rechnungen zu machen, die Niemand ver-
stehe als wieder ein Schreiber -- da erschien er dem Lande wie ein Heilig-
thumsschänder. Eine Fluth von Spottreden ergoß sich über das Staats-
begehrungsvermögen und die anderen naturphilosophischen Schrullen des
"württembergischen Solon".

Im Oktober 1815 wieder einberufen hatte der Landtag abermals in
einer zwanzig Bogen langen Adresse die alte Verfassung für das ganze
Land gefordert und drohend hinzugefügt: "das Volk fängt an, an der Zu-
kunft zu verzweifeln." Da endlich, in einem Ministerrathe am 11. Novbr.,
gewann Wangenheim den König für den Vorschlag, daß man den Alt-
rechtlern ihr theures Princip zugeben müsse.*) Zwei Tage darauf über-
raschte der Monarch die Stände durch eine Botschaft, welche den auswär-
tigen Diplomaten "fast wie ein Wunder" erschien. Er erklärte darin,
daß er die innere Giltigkeit der alten Landesverträge nicht bestreite, son-
dern nur ihre Anwendbarkeit, und bot sodann in vierzehn Artikeln das
unbeschränkte Steuerbewilligungsrecht, die Verantwortlichkeit aller Staats-
diener, endlich und vor Allem die gemeinsame Revision aller seit 1806
erlassenen Gesetze. Die Artikel enthielten in der That Alles was von
den altständischen Einrichtungen noch irgend lebensfähig erschien und
außerdem noch eine lange Reihe neuer, werthvoller Rechte. Der König
schloß mit der Versicherung: würden auch diese Vorschläge verworfen,
dann bleibe ihm nichts übrig als in Altwürttemberg das alte Recht
wiederherzustellen und den neuen Gebieten eine selbständige neue Ver-
fassung zu geben.

Nach diesen großen Zugeständnissen der Krone begann die öffent-
liche Meinung außerhalb des Ländchens umzuschlagen; Stein, Gagern
und viele andere Wohlmeinende, die bisher auf der Seite der Stände
gestanden, riethen jetzt dringend, die Hand der Versöhnung zu ergreifen.
Der Landtag dagegen hatte sich bereits zu tief in den Kampf verbissen,
der Streit war längst persönlich geworden, die erbitterten Gemüther
spotteten aller Vernunftgründe. Die Stände ließen sich zwar herbei,
abermals durch einen Ausschuß mit der Krone zu verhandeln; der Aus-
schuß aber schritt sogleich, unbekümmert um die vierzehn Artikel, an die
Ausarbeitung eines unförmlichen Verfassungsentwurfs, der in 25 Capiteln
und vielen hunderten von Paragraphen alle die staubigen Kleinodien
des alten Rechts, vornehmlich den stehenden Ausschuß und die Steuer-
kasse, wieder aufzählte.

*) Küsters Bericht 11. Nov. 1815.

Nachgiebigkeit des Königs.
ſchon, daß er „ein Ausländer“ war und durch ſein reines Hochdeutſch
die ſchwäbiſchen Ohren beleidigte; doch als er ſich gar in burſchikoſen
Witzen über die „Bocksbeuteleien“ der alten Verfaſſung erging und über
die altwürttembergiſchen Schreiber ſagte: ſolche Subjecte wüßten von
Himmel und Erde nichts als Rechnungen zu machen, die Niemand ver-
ſtehe als wieder ein Schreiber — da erſchien er dem Lande wie ein Heilig-
thumsſchänder. Eine Fluth von Spottreden ergoß ſich über das Staats-
begehrungsvermögen und die anderen naturphiloſophiſchen Schrullen des
„württembergiſchen Solon“.

Im Oktober 1815 wieder einberufen hatte der Landtag abermals in
einer zwanzig Bogen langen Adreſſe die alte Verfaſſung für das ganze
Land gefordert und drohend hinzugefügt: „das Volk fängt an, an der Zu-
kunft zu verzweifeln.“ Da endlich, in einem Miniſterrathe am 11. Novbr.,
gewann Wangenheim den König für den Vorſchlag, daß man den Alt-
rechtlern ihr theures Princip zugeben müſſe.*) Zwei Tage darauf über-
raſchte der Monarch die Stände durch eine Botſchaft, welche den auswär-
tigen Diplomaten „faſt wie ein Wunder“ erſchien. Er erklärte darin,
daß er die innere Giltigkeit der alten Landesverträge nicht beſtreite, ſon-
dern nur ihre Anwendbarkeit, und bot ſodann in vierzehn Artikeln das
unbeſchränkte Steuerbewilligungsrecht, die Verantwortlichkeit aller Staats-
diener, endlich und vor Allem die gemeinſame Reviſion aller ſeit 1806
erlaſſenen Geſetze. Die Artikel enthielten in der That Alles was von
den altſtändiſchen Einrichtungen noch irgend lebensfähig erſchien und
außerdem noch eine lange Reihe neuer, werthvoller Rechte. Der König
ſchloß mit der Verſicherung: würden auch dieſe Vorſchläge verworfen,
dann bleibe ihm nichts übrig als in Altwürttemberg das alte Recht
wiederherzuſtellen und den neuen Gebieten eine ſelbſtändige neue Ver-
faſſung zu geben.

Nach dieſen großen Zugeſtändniſſen der Krone begann die öffent-
liche Meinung außerhalb des Ländchens umzuſchlagen; Stein, Gagern
und viele andere Wohlmeinende, die bisher auf der Seite der Stände
geſtanden, riethen jetzt dringend, die Hand der Verſöhnung zu ergreifen.
Der Landtag dagegen hatte ſich bereits zu tief in den Kampf verbiſſen,
der Streit war längſt perſönlich geworden, die erbitterten Gemüther
ſpotteten aller Vernunftgründe. Die Stände ließen ſich zwar herbei,
abermals durch einen Ausſchuß mit der Krone zu verhandeln; der Aus-
ſchuß aber ſchritt ſogleich, unbekümmert um die vierzehn Artikel, an die
Ausarbeitung eines unförmlichen Verfaſſungsentwurfs, der in 25 Capiteln
und vielen hunderten von Paragraphen alle die ſtaubigen Kleinodien
des alten Rechts, vornehmlich den ſtehenden Ausſchuß und die Steuer-
kaſſe, wieder aufzählte.

*) Küſters Bericht 11. Nov. 1815.
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[315/0329] Nachgiebigkeit des Königs. ſchon, daß er „ein Ausländer“ war und durch ſein reines Hochdeutſch die ſchwäbiſchen Ohren beleidigte; doch als er ſich gar in burſchikoſen Witzen über die „Bocksbeuteleien“ der alten Verfaſſung erging und über die altwürttembergiſchen Schreiber ſagte: ſolche Subjecte wüßten von Himmel und Erde nichts als Rechnungen zu machen, die Niemand ver- ſtehe als wieder ein Schreiber — da erſchien er dem Lande wie ein Heilig- thumsſchänder. Eine Fluth von Spottreden ergoß ſich über das Staats- begehrungsvermögen und die anderen naturphiloſophiſchen Schrullen des „württembergiſchen Solon“. Im Oktober 1815 wieder einberufen hatte der Landtag abermals in einer zwanzig Bogen langen Adreſſe die alte Verfaſſung für das ganze Land gefordert und drohend hinzugefügt: „das Volk fängt an, an der Zu- kunft zu verzweifeln.“ Da endlich, in einem Miniſterrathe am 11. Novbr., gewann Wangenheim den König für den Vorſchlag, daß man den Alt- rechtlern ihr theures Princip zugeben müſſe. *) Zwei Tage darauf über- raſchte der Monarch die Stände durch eine Botſchaft, welche den auswär- tigen Diplomaten „faſt wie ein Wunder“ erſchien. Er erklärte darin, daß er die innere Giltigkeit der alten Landesverträge nicht beſtreite, ſon- dern nur ihre Anwendbarkeit, und bot ſodann in vierzehn Artikeln das unbeſchränkte Steuerbewilligungsrecht, die Verantwortlichkeit aller Staats- diener, endlich und vor Allem die gemeinſame Reviſion aller ſeit 1806 erlaſſenen Geſetze. Die Artikel enthielten in der That Alles was von den altſtändiſchen Einrichtungen noch irgend lebensfähig erſchien und außerdem noch eine lange Reihe neuer, werthvoller Rechte. Der König ſchloß mit der Verſicherung: würden auch dieſe Vorſchläge verworfen, dann bleibe ihm nichts übrig als in Altwürttemberg das alte Recht wiederherzuſtellen und den neuen Gebieten eine ſelbſtändige neue Ver- faſſung zu geben. Nach dieſen großen Zugeſtändniſſen der Krone begann die öffent- liche Meinung außerhalb des Ländchens umzuſchlagen; Stein, Gagern und viele andere Wohlmeinende, die bisher auf der Seite der Stände geſtanden, riethen jetzt dringend, die Hand der Verſöhnung zu ergreifen. Der Landtag dagegen hatte ſich bereits zu tief in den Kampf verbiſſen, der Streit war längſt perſönlich geworden, die erbitterten Gemüther ſpotteten aller Vernunftgründe. Die Stände ließen ſich zwar herbei, abermals durch einen Ausſchuß mit der Krone zu verhandeln; der Aus- ſchuß aber ſchritt ſogleich, unbekümmert um die vierzehn Artikel, an die Ausarbeitung eines unförmlichen Verfaſſungsentwurfs, der in 25 Capiteln und vielen hunderten von Paragraphen alle die ſtaubigen Kleinodien des alten Rechts, vornehmlich den ſtehenden Ausſchuß und die Steuer- kaſſe, wieder aufzählte. *) Küſters Bericht 11. Nov. 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/329>, abgerufen am 22.11.2024.