ringer, die Staufer, die Hohenzollern in die weite Welt hinaussendete, kam in Baiern frühe schon ein einziges Geschlecht über alle anderen Dynastien empor. Das uralte Haus der Schyren hatte bereits in den Tagen der Karolinger mehrmals den Herzogshut getragen und behauptete jetzt seit mehr denn siebenhundert Jahren ununterbrochen die Landes- herrschaft. In Strömen war bairisches Blut für das alte blauweiße Rautenschild geflossen; am Festtag flatterte die Landesfahne selbst auf dem Einbaum, der, noch ganz so plump wie zur Zeit der Pfahlbauer, die stillen Alpengewässer des Chiemsees und des Walchensees durchfurchte.
Das städtische Leben war nie mehr zu kräftiger Entwicklung gelangt, seit die alte Hauptstadt Regensburg sich dem Lande entfremdet hatte. Selbst München mit seinen prächtigen Kirchen und Schlössern, mit seinen siebzehn Klöstern und siebzehn wunderthätigen Bildern besaß um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an bürgerlicher Bildung und Gewerbthätig- keit nicht viel mehr als die Mirakelstadt Deggendorf und die anderen Land- städte, die den Bauern als Schrannenplätze und Wallfahrtsstätten dienten. Die Kraft des Landes lag in den Bauern und einigen angesehenen Adels- geschlechtern; für das Landvolk aber blieb die Kirche der Mittelpunkt des Lebens und die selber aus dem Bauernstande hervorgegangene Pfarrgeist- lichkeit der allmächtige Berather in allen zeitlichen und weltlichen Nöthen. Das Kirchenjahr mit der endlosen Reihe seiner Feiertage bestimmte jeden Brauch des bäuerlichen Hauses; an dem Schmucke der Gotteshäuser und dem Glanze der Processionen zeigte sich, wie viel frischen Farben- und Formensinn dies Volk hinter rauher Hülle barg. Mit athemloser Span- nung harrte die Gemeinde zur Pfingstzeit, bis der heilige Geist aus dem Loche in der Kirchendecke herniederschwebte, mit eiserner Ausdauer hielt sie am Schauerfreitag viele Stunden lang ihren Gebetsumgang, um die Felder vor Hagelschlag zu schützen; an jedes Fest der Kirche schloß sich die landesübliche unersättliche Schmauserei. Nirgends in der Welt, so sagte das bairische Sprichwort, war die Religion so bequem und die An- dacht so lustig.
Unter dem letzten der bairischen Wittelsbacher, Max III. drang zum ersten male ein Lichtstrahl in diese dicke Finsterniß. Der Rheinländer Ickstatt und einige andere muthige Schüler der neuen Aufklärung be- gannen eine Reform des Unterrichtswesens und setzten durch, daß akatho- lische Bücher bei den weltlichen Facultäten der Jesuitenhochschule Ingolstadt zugelassen wurden. Auf dem Boden dieser freieren weltlichen Bil- dung sind dann viele der Männer aufgewachsen, welche ein Menschen- alter später die Neugestaltung des erstarrten Staates vollführten: so auch der geistvolle Humorist Anton Bucher, der, selbst ein Geistlicher, mit derber, volksthümlicher Laune den rohen Aberglauben seiner Landsleute geißelte. Aber wie die Jesuitenherrschaft in den romanischen Ländern überall durch einen natürlichen Rückschlag den frivolen Unglauben förderte,
II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
ringer, die Staufer, die Hohenzollern in die weite Welt hinausſendete, kam in Baiern frühe ſchon ein einziges Geſchlecht über alle anderen Dynaſtien empor. Das uralte Haus der Schyren hatte bereits in den Tagen der Karolinger mehrmals den Herzogshut getragen und behauptete jetzt ſeit mehr denn ſiebenhundert Jahren ununterbrochen die Landes- herrſchaft. In Strömen war bairiſches Blut für das alte blauweiße Rautenſchild gefloſſen; am Feſttag flatterte die Landesfahne ſelbſt auf dem Einbaum, der, noch ganz ſo plump wie zur Zeit der Pfahlbauer, die ſtillen Alpengewäſſer des Chiemſees und des Walchenſees durchfurchte.
Das ſtädtiſche Leben war nie mehr zu kräftiger Entwicklung gelangt, ſeit die alte Hauptſtadt Regensburg ſich dem Lande entfremdet hatte. Selbſt München mit ſeinen prächtigen Kirchen und Schlöſſern, mit ſeinen ſiebzehn Klöſtern und ſiebzehn wunderthätigen Bildern beſaß um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an bürgerlicher Bildung und Gewerbthätig- keit nicht viel mehr als die Mirakelſtadt Deggendorf und die anderen Land- ſtädte, die den Bauern als Schrannenplätze und Wallfahrtsſtätten dienten. Die Kraft des Landes lag in den Bauern und einigen angeſehenen Adels- geſchlechtern; für das Landvolk aber blieb die Kirche der Mittelpunkt des Lebens und die ſelber aus dem Bauernſtande hervorgegangene Pfarrgeiſt- lichkeit der allmächtige Berather in allen zeitlichen und weltlichen Nöthen. Das Kirchenjahr mit der endloſen Reihe ſeiner Feiertage beſtimmte jeden Brauch des bäuerlichen Hauſes; an dem Schmucke der Gotteshäuſer und dem Glanze der Proceſſionen zeigte ſich, wie viel friſchen Farben- und Formenſinn dies Volk hinter rauher Hülle barg. Mit athemloſer Span- nung harrte die Gemeinde zur Pfingſtzeit, bis der heilige Geiſt aus dem Loche in der Kirchendecke herniederſchwebte, mit eiſerner Ausdauer hielt ſie am Schauerfreitag viele Stunden lang ihren Gebetsumgang, um die Felder vor Hagelſchlag zu ſchützen; an jedes Feſt der Kirche ſchloß ſich die landesübliche unerſättliche Schmauſerei. Nirgends in der Welt, ſo ſagte das bairiſche Sprichwort, war die Religion ſo bequem und die An- dacht ſo luſtig.
Unter dem letzten der bairiſchen Wittelsbacher, Max III. drang zum erſten male ein Lichtſtrahl in dieſe dicke Finſterniß. Der Rheinländer Ickſtatt und einige andere muthige Schüler der neuen Aufklärung be- gannen eine Reform des Unterrichtsweſens und ſetzten durch, daß akatho- liſche Bücher bei den weltlichen Facultäten der Jeſuitenhochſchule Ingolſtadt zugelaſſen wurden. Auf dem Boden dieſer freieren weltlichen Bil- dung ſind dann viele der Männer aufgewachſen, welche ein Menſchen- alter ſpäter die Neugeſtaltung des erſtarrten Staates vollführten: ſo auch der geiſtvolle Humoriſt Anton Bucher, der, ſelbſt ein Geiſtlicher, mit derber, volksthümlicher Laune den rohen Aberglauben ſeiner Landsleute geißelte. Aber wie die Jeſuitenherrſchaft in den romaniſchen Ländern überall durch einen natürlichen Rückſchlag den frivolen Unglauben förderte,
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II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
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kam in Baiern frühe ſchon ein einziges Geſchlecht über alle anderen
Dynaſtien empor. Das uralte Haus der Schyren hatte bereits in den
Tagen der Karolinger mehrmals den Herzogshut getragen und behauptete
jetzt ſeit mehr denn ſiebenhundert Jahren ununterbrochen die Landes-
herrſchaft. In Strömen war bairiſches Blut für das alte blauweiße
Rautenſchild gefloſſen; am Feſttag flatterte die Landesfahne ſelbſt auf
dem Einbaum, der, noch ganz ſo plump wie zur Zeit der Pfahlbauer,
die ſtillen Alpengewäſſer des Chiemſees und des Walchenſees durchfurchte.
Das ſtädtiſche Leben war nie mehr zu kräftiger Entwicklung gelangt,
ſeit die alte Hauptſtadt Regensburg ſich dem Lande entfremdet hatte.
Selbſt München mit ſeinen prächtigen Kirchen und Schlöſſern, mit ſeinen
ſiebzehn Klöſtern und ſiebzehn wunderthätigen Bildern beſaß um die Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts an bürgerlicher Bildung und Gewerbthätig-
keit nicht viel mehr als die Mirakelſtadt Deggendorf und die anderen Land-
ſtädte, die den Bauern als Schrannenplätze und Wallfahrtsſtätten dienten.
Die Kraft des Landes lag in den Bauern und einigen angeſehenen Adels-
geſchlechtern; für das Landvolk aber blieb die Kirche der Mittelpunkt des
Lebens und die ſelber aus dem Bauernſtande hervorgegangene Pfarrgeiſt-
lichkeit der allmächtige Berather in allen zeitlichen und weltlichen Nöthen.
Das Kirchenjahr mit der endloſen Reihe ſeiner Feiertage beſtimmte jeden
Brauch des bäuerlichen Hauſes; an dem Schmucke der Gotteshäuſer und
dem Glanze der Proceſſionen zeigte ſich, wie viel friſchen Farben- und
Formenſinn dies Volk hinter rauher Hülle barg. Mit athemloſer Span-
nung harrte die Gemeinde zur Pfingſtzeit, bis der heilige Geiſt aus
dem Loche in der Kirchendecke herniederſchwebte, mit eiſerner Ausdauer
hielt ſie am Schauerfreitag viele Stunden lang ihren Gebetsumgang, um
die Felder vor Hagelſchlag zu ſchützen; an jedes Feſt der Kirche ſchloß ſich
die landesübliche unerſättliche Schmauſerei. Nirgends in der Welt, ſo
ſagte das bairiſche Sprichwort, war die Religion ſo bequem und die An-
dacht ſo luſtig.
Unter dem letzten der bairiſchen Wittelsbacher, Max III. drang zum
erſten male ein Lichtſtrahl in dieſe dicke Finſterniß. Der Rheinländer
Ickſtatt und einige andere muthige Schüler der neuen Aufklärung be-
gannen eine Reform des Unterrichtsweſens und ſetzten durch, daß akatho-
liſche Bücher bei den weltlichen Facultäten der Jeſuitenhochſchule Ingolſtadt
zugelaſſen wurden. Auf dem Boden dieſer freieren weltlichen Bil-
dung ſind dann viele der Männer aufgewachſen, welche ein Menſchen-
alter ſpäter die Neugeſtaltung des erſtarrten Staates vollführten: ſo auch
der geiſtvolle Humoriſt Anton Bucher, der, ſelbſt ein Geiſtlicher, mit
derber, volksthümlicher Laune den rohen Aberglauben ſeiner Landsleute
geißelte. Aber wie die Jeſuitenherrſchaft in den romaniſchen Ländern
überall durch einen natürlichen Rückſchlag den frivolen Unglauben förderte,
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/340>, abgerufen am 22.11.2024.
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