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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Hoftheater nicht mehr zu Stande. Zudem hatte sich die Theaterkritik
schon längst wie ein schädlicher Schwamm an den gesunden Baum der
dramatischen Kunst angesetzt. Schon ward es zur Regel, daß der streb-
same Gymnasiast oder Student sich durch Theaterbesprechungen seine lite-
rarischen Sporen verdiente; fast jeder gebildete Mann übte sich gelegentlich
in dem traurigen Handwerke des kritischen Spielverderbers. Weitaus die
meisten dieser Recensenten verfolgten lediglich den Zweck, durch hoch-
müthigen Tadel sich selber ein Ansehen zu geben oder auch auf dem
Theater Parteikämpfe anzuzetteln, an denen das kleinstädtische Publikum
mit leidenschaftlichem Eifer theilnahm. Das Unwesen wuchs noch als die
politischen Verfolgungen hereinbrachen. Seitdem blieb die Theaterkritik das
einzige Gebiet, auf dem sich die Federn der Tagesschriftsteller frei ergehen
durften; denn, so sagte der Minister Graf Bernstorff, einen Knochen muß
man den bissigen Hunden doch lassen!

Nur zwei Dichtern dieses Zeitraums ist es gelungen, das Theater
durch bühnengerechte Werke von bleibendem Kunstwerthe zu bereichern.
Es waren die beiden ersten Oesterreicher seit dem dreißigjährigen Kriege,
die sich in der Geschichte der deutschen Poesie einen ehrenvollen Platz er-
warben. Wie einst im dreizehnten Jahrhundert diese entlegenen Donau-
lande zu unserem Heile das alte deutsche Volksepos bewahrten, während
das übrige Deutschland sich längst schon der ritterlichen Dichtung zuge-
wendet hatte, so waren sie jetzt wieder fast unberührt geblieben von dem
Gedankenreichthum, aber auch von den Irrthümern und der doktrinären
Ueberbildung unserer literarischen Revolution. Als nun endlich einzelne
gute Köpfe in Oesterreich auf die Welt von neuen Ideen, welche den
Deutschen aufgegangen war, aufmerksam wurden, da standen sie den
Schlagworten unserer literarischen Parteien in glücklicher Freiheit gegen-
über. Sie konnten in der Ferne, unbefangener als die Deutschen im
Reiche, das Echte und Große aus der gewaltigen Bewegung herausfinden.
Sie hatten vor sich ein schaulustiges, dankbar empfängliches Publikum,
dessen naive, kräftige Sinnlichkeit noch nicht durch gelehrte Kritik ver-
dorben war, und dazu das schöne Beispiel der großen Musiker Oester-
reichs, die ja allesammt den goldenen Boden des Handwerks in Ehren
hielten und sich nicht zu gut dünkten schlicht und recht für die Bühne zu
arbeiten.

Eben jetzt begann das Burgtheater unter Schreyvogels kundiger Lei-
tung alle deutschen Bühnen zu überflügeln. Hier lernten die Wiener,
in künstlerisch durchgebildeter und doch einfacher Darstellung, die schön-
sten Dramen Deutschlands kennen; selbst ausländische Werke wußte der
treffliche Dramaturg durch geschickte Bearbeitung dem deutschen Gefühle
so nahe zu bringen, daß Moretos Donna Diana den Zuschauern bei-
nah so vertraut erschien wie ein heimisches Lustspiel. Hier war kein
Boden für grübelnde Künstelei. So ist denn auch Franz Grillparzer von

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Hoftheater nicht mehr zu Stande. Zudem hatte ſich die Theaterkritik
ſchon längſt wie ein ſchädlicher Schwamm an den geſunden Baum der
dramatiſchen Kunſt angeſetzt. Schon ward es zur Regel, daß der ſtreb-
ſame Gymnaſiaſt oder Student ſich durch Theaterbeſprechungen ſeine lite-
rariſchen Sporen verdiente; faſt jeder gebildete Mann übte ſich gelegentlich
in dem traurigen Handwerke des kritiſchen Spielverderbers. Weitaus die
meiſten dieſer Recenſenten verfolgten lediglich den Zweck, durch hoch-
müthigen Tadel ſich ſelber ein Anſehen zu geben oder auch auf dem
Theater Parteikämpfe anzuzetteln, an denen das kleinſtädtiſche Publikum
mit leidenſchaftlichem Eifer theilnahm. Das Unweſen wuchs noch als die
politiſchen Verfolgungen hereinbrachen. Seitdem blieb die Theaterkritik das
einzige Gebiet, auf dem ſich die Federn der Tagesſchriftſteller frei ergehen
durften; denn, ſo ſagte der Miniſter Graf Bernſtorff, einen Knochen muß
man den biſſigen Hunden doch laſſen!

Nur zwei Dichtern dieſes Zeitraums iſt es gelungen, das Theater
durch bühnengerechte Werke von bleibendem Kunſtwerthe zu bereichern.
Es waren die beiden erſten Oeſterreicher ſeit dem dreißigjährigen Kriege,
die ſich in der Geſchichte der deutſchen Poeſie einen ehrenvollen Platz er-
warben. Wie einſt im dreizehnten Jahrhundert dieſe entlegenen Donau-
lande zu unſerem Heile das alte deutſche Volksepos bewahrten, während
das übrige Deutſchland ſich längſt ſchon der ritterlichen Dichtung zuge-
wendet hatte, ſo waren ſie jetzt wieder faſt unberührt geblieben von dem
Gedankenreichthum, aber auch von den Irrthümern und der doktrinären
Ueberbildung unſerer literariſchen Revolution. Als nun endlich einzelne
gute Köpfe in Oeſterreich auf die Welt von neuen Ideen, welche den
Deutſchen aufgegangen war, aufmerkſam wurden, da ſtanden ſie den
Schlagworten unſerer literariſchen Parteien in glücklicher Freiheit gegen-
über. Sie konnten in der Ferne, unbefangener als die Deutſchen im
Reiche, das Echte und Große aus der gewaltigen Bewegung herausfinden.
Sie hatten vor ſich ein ſchauluſtiges, dankbar empfängliches Publikum,
deſſen naive, kräftige Sinnlichkeit noch nicht durch gelehrte Kritik ver-
dorben war, und dazu das ſchöne Beiſpiel der großen Muſiker Oeſter-
reichs, die ja alleſammt den goldenen Boden des Handwerks in Ehren
hielten und ſich nicht zu gut dünkten ſchlicht und recht für die Bühne zu
arbeiten.

Eben jetzt begann das Burgtheater unter Schreyvogels kundiger Lei-
tung alle deutſchen Bühnen zu überflügeln. Hier lernten die Wiener,
in künſtleriſch durchgebildeter und doch einfacher Darſtellung, die ſchön-
ſten Dramen Deutſchlands kennen; ſelbſt ausländiſche Werke wußte der
treffliche Dramaturg durch geſchickte Bearbeitung dem deutſchen Gefühle
ſo nahe zu bringen, daß Moretos Donna Diana den Zuſchauern bei-
nah ſo vertraut erſchien wie ein heimiſches Luſtſpiel. Hier war kein
Boden für grübelnde Künſtelei. So iſt denn auch Franz Grillparzer von

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[22/0036] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. Hoftheater nicht mehr zu Stande. Zudem hatte ſich die Theaterkritik ſchon längſt wie ein ſchädlicher Schwamm an den geſunden Baum der dramatiſchen Kunſt angeſetzt. Schon ward es zur Regel, daß der ſtreb- ſame Gymnaſiaſt oder Student ſich durch Theaterbeſprechungen ſeine lite- rariſchen Sporen verdiente; faſt jeder gebildete Mann übte ſich gelegentlich in dem traurigen Handwerke des kritiſchen Spielverderbers. Weitaus die meiſten dieſer Recenſenten verfolgten lediglich den Zweck, durch hoch- müthigen Tadel ſich ſelber ein Anſehen zu geben oder auch auf dem Theater Parteikämpfe anzuzetteln, an denen das kleinſtädtiſche Publikum mit leidenſchaftlichem Eifer theilnahm. Das Unweſen wuchs noch als die politiſchen Verfolgungen hereinbrachen. Seitdem blieb die Theaterkritik das einzige Gebiet, auf dem ſich die Federn der Tagesſchriftſteller frei ergehen durften; denn, ſo ſagte der Miniſter Graf Bernſtorff, einen Knochen muß man den biſſigen Hunden doch laſſen! Nur zwei Dichtern dieſes Zeitraums iſt es gelungen, das Theater durch bühnengerechte Werke von bleibendem Kunſtwerthe zu bereichern. Es waren die beiden erſten Oeſterreicher ſeit dem dreißigjährigen Kriege, die ſich in der Geſchichte der deutſchen Poeſie einen ehrenvollen Platz er- warben. Wie einſt im dreizehnten Jahrhundert dieſe entlegenen Donau- lande zu unſerem Heile das alte deutſche Volksepos bewahrten, während das übrige Deutſchland ſich längſt ſchon der ritterlichen Dichtung zuge- wendet hatte, ſo waren ſie jetzt wieder faſt unberührt geblieben von dem Gedankenreichthum, aber auch von den Irrthümern und der doktrinären Ueberbildung unſerer literariſchen Revolution. Als nun endlich einzelne gute Köpfe in Oeſterreich auf die Welt von neuen Ideen, welche den Deutſchen aufgegangen war, aufmerkſam wurden, da ſtanden ſie den Schlagworten unſerer literariſchen Parteien in glücklicher Freiheit gegen- über. Sie konnten in der Ferne, unbefangener als die Deutſchen im Reiche, das Echte und Große aus der gewaltigen Bewegung herausfinden. Sie hatten vor ſich ein ſchauluſtiges, dankbar empfängliches Publikum, deſſen naive, kräftige Sinnlichkeit noch nicht durch gelehrte Kritik ver- dorben war, und dazu das ſchöne Beiſpiel der großen Muſiker Oeſter- reichs, die ja alleſammt den goldenen Boden des Handwerks in Ehren hielten und ſich nicht zu gut dünkten ſchlicht und recht für die Bühne zu arbeiten. Eben jetzt begann das Burgtheater unter Schreyvogels kundiger Lei- tung alle deutſchen Bühnen zu überflügeln. Hier lernten die Wiener, in künſtleriſch durchgebildeter und doch einfacher Darſtellung, die ſchön- ſten Dramen Deutſchlands kennen; ſelbſt ausländiſche Werke wußte der treffliche Dramaturg durch geſchickte Bearbeitung dem deutſchen Gefühle ſo nahe zu bringen, daß Moretos Donna Diana den Zuſchauern bei- nah ſo vertraut erſchien wie ein heimiſches Luſtſpiel. Hier war kein Boden für grübelnde Künſtelei. So iſt denn auch Franz Grillparzer von

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/36>, abgerufen am 23.11.2024.