Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Grillparzer. Raimund. der theoretischen Ueberklugheit der deutschen Romantik nur einmal ange-steckt worden. Sein Erstlingswerk, die Ahnfrau, war eine Schicksals- tragödie; nicht die freie That des Helden sondern "tief verhüllte finstre Mächte" führten das tragische Verhängniß herauf. Jedoch die Pracht der Sprache und die Gluth der Leidenschaft, das stürmische Fortschreiten der Handlung und die merkwürdig frühreife Sicherheit der Technik ließen den verschrobenen Grundgedanken fast vergessen. Und alsbald riß sich der gesunde Sinn des Dichters aus den Fesseln der Müllnerschen Kunst- theorien völlig los. In seinen Trauerspielen "Sappho" und "das goldene Vließ" zeigten sich reine Form und scharfe Charakterzeichnung, deutscher Ernst und die schöne warme Sinnlichkeit des Altösterreichers, classische und romantische Ideale glücklich verschmolzen. Goethe blieb ihm fortan der mit kindlicher Andacht geliebte Meister, Weimar der geweihte Heerd des deutschen Lebens. Größeres als den dämonischen Charakter der Medea hat Grillparzer in den historischen Dramen seiner späteren Zeit nicht mehr geschaffen; eine stetige Entwicklung blieb ihm trotz des höchsten Künstler- fleißes versagt. Er war nicht einer jener mächtigen Geister, die in un- aufhaltsamem Aufsteigen nach und nach immer weitere Kreise der Welt mit dem Lichte ihrer Ideen bestrahlen, aber eine gemüthvolle, schamhafte Künstlernatur, ein echter Dichter, der auch in den Zeiten des Verfalls die bewährten alten Grundsätze des dramatischen Idealismus mit unbe- irrter Treue bewahrte, der würdige Herold der neuen deutschen Poesie in Oesterreich. Bald nachher eroberte ein anderer Oesterreicher, Ferdinand Raimund Grillparzer. Raimund. der theoretiſchen Ueberklugheit der deutſchen Romantik nur einmal ange-ſteckt worden. Sein Erſtlingswerk, die Ahnfrau, war eine Schickſals- tragödie; nicht die freie That des Helden ſondern „tief verhüllte finſtre Mächte“ führten das tragiſche Verhängniß herauf. Jedoch die Pracht der Sprache und die Gluth der Leidenſchaft, das ſtürmiſche Fortſchreiten der Handlung und die merkwürdig frühreife Sicherheit der Technik ließen den verſchrobenen Grundgedanken faſt vergeſſen. Und alsbald riß ſich der geſunde Sinn des Dichters aus den Feſſeln der Müllnerſchen Kunſt- theorien völlig los. In ſeinen Trauerſpielen „Sappho“ und „das goldene Vließ“ zeigten ſich reine Form und ſcharfe Charakterzeichnung, deutſcher Ernſt und die ſchöne warme Sinnlichkeit des Altöſterreichers, claſſiſche und romantiſche Ideale glücklich verſchmolzen. Goethe blieb ihm fortan der mit kindlicher Andacht geliebte Meiſter, Weimar der geweihte Heerd des deutſchen Lebens. Größeres als den dämoniſchen Charakter der Medea hat Grillparzer in den hiſtoriſchen Dramen ſeiner ſpäteren Zeit nicht mehr geſchaffen; eine ſtetige Entwicklung blieb ihm trotz des höchſten Künſtler- fleißes verſagt. Er war nicht einer jener mächtigen Geiſter, die in un- aufhaltſamem Aufſteigen nach und nach immer weitere Kreiſe der Welt mit dem Lichte ihrer Ideen beſtrahlen, aber eine gemüthvolle, ſchamhafte Künſtlernatur, ein echter Dichter, der auch in den Zeiten des Verfalls die bewährten alten Grundſätze des dramatiſchen Idealismus mit unbe- irrter Treue bewahrte, der würdige Herold der neuen deutſchen Poeſie in Oeſterreich. Bald nachher eroberte ein anderer Oeſterreicher, Ferdinand Raimund <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0037" n="23"/><fw place="top" type="header">Grillparzer. Raimund.</fw><lb/> der theoretiſchen Ueberklugheit der deutſchen Romantik nur einmal ange-<lb/> ſteckt worden. 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Grillparzer. Raimund.
der theoretiſchen Ueberklugheit der deutſchen Romantik nur einmal ange-
ſteckt worden. Sein Erſtlingswerk, die Ahnfrau, war eine Schickſals-
tragödie; nicht die freie That des Helden ſondern „tief verhüllte finſtre
Mächte“ führten das tragiſche Verhängniß herauf. Jedoch die Pracht der
Sprache und die Gluth der Leidenſchaft, das ſtürmiſche Fortſchreiten der
Handlung und die merkwürdig frühreife Sicherheit der Technik ließen den
verſchrobenen Grundgedanken faſt vergeſſen. Und alsbald riß ſich der
geſunde Sinn des Dichters aus den Feſſeln der Müllnerſchen Kunſt-
theorien völlig los. In ſeinen Trauerſpielen „Sappho“ und „das goldene
Vließ“ zeigten ſich reine Form und ſcharfe Charakterzeichnung, deutſcher
Ernſt und die ſchöne warme Sinnlichkeit des Altöſterreichers, claſſiſche
und romantiſche Ideale glücklich verſchmolzen. Goethe blieb ihm fortan
der mit kindlicher Andacht geliebte Meiſter, Weimar der geweihte Heerd
des deutſchen Lebens. Größeres als den dämoniſchen Charakter der Medea
hat Grillparzer in den hiſtoriſchen Dramen ſeiner ſpäteren Zeit nicht mehr
geſchaffen; eine ſtetige Entwicklung blieb ihm trotz des höchſten Künſtler-
fleißes verſagt. Er war nicht einer jener mächtigen Geiſter, die in un-
aufhaltſamem Aufſteigen nach und nach immer weitere Kreiſe der Welt
mit dem Lichte ihrer Ideen beſtrahlen, aber eine gemüthvolle, ſchamhafte
Künſtlernatur, ein echter Dichter, der auch in den Zeiten des Verfalls
die bewährten alten Grundſätze des dramatiſchen Idealismus mit unbe-
irrter Treue bewahrte, der würdige Herold der neuen deutſchen Poeſie in
Oeſterreich.
Bald nachher eroberte ein anderer Oeſterreicher, Ferdinand Raimund
der deutſchen dramatiſchen Kunſt ein neues Gebiet. Der hatte ſeit Jahren
als Komiker auf dem Leopoldſtädter Theater ſein harmloſes Publikum
durch meiſterhaftes Spiel entzückt, und als er nun in aller Beſcheiden-
heit ſich anſchickte ſeine kleine Bühne ſelber mit neuen Stoffen zu ver-
ſorgen, da ſchuf er nicht, wie die meiſten dichtenden Schauſpieler, klug
berechnete Zugſtücke mit dankbaren Rollen, ſondern volksthümliche Kunſt-
werke. Er wurde der Schöpfer der neuen Zauberpoſſe, ſeit Hans Sach-
ſens Zeiten der erſte deutſche Poet, der in Wahrheit das ganze Volk an
die Bühne zu feſſeln verſtand und die Maſſen ergötzte durch Dichtungen,
an denen auch der gebildete Sinn ſich eine Weile erfreuen und erwärmen
konnte. Die Luſt am Fabuliren war dieſem Wiener Kinde angeboren;
gradeswegs aus dem Getümmel des Volkslebens griff er ſich ſeine luſtigen
Geſtalten heraus, unerſchöpflich in jenen gutmüthigen Schwänken und
dämiſchen Späßen, die der Oeſterreicher und der Oberſachſe mit dem
glückſeligen Ausrufe: nein, das iſt zu dumm! zu begrüßen pflegt. Aber
hinter dem ausgelaſſenen, neckiſchen Treiben verrieth ſich der unter Thrä-
nen lächelnde Humor eines tiefen Gemüthes. Und wie feſt ſtand noch
der alte deutſche ſittliche Idealismus in jenen unſchuldigen Tagen des
ſocialen Friedens! Immer wieder kam Raimund auf die Frage nach dem
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