alten Zufallsstaaten zu einem neuen, der aus dem Nichts entstand, zu- sammenballte, da ward dies Land die natürliche Heimath eines staat- und geschichtslosen Liberalismus, der sich das politische wie das kirchliche Leben schnellfertig nach den untrüglichen Grundsätzen des sogenannten Vernunftrechts zurecht legte und durch die aufregende Nachbarschaft Frank- reichs und der Schweiz zu immer kühneren Forderungen ermuthigt wurde.
Wohl hatten sich auf den geschlossenen großen Bauernhöfen des Schwarzwalds noch manche altväterische Sitten und Trachten erhalten; weniger freilich als nahebei im Elsaß, wo die Fremdherrschaft das Volk von der neuen deutschen Bildung absperrte. Auch die streng kirchliche Gesinnung behauptete sich noch in einigen Schlupfwinkeln. Einzelne alt- lutherische Gemeinden saßen da und dort zerstreut, vornehmlich bei Pforz- heim; ein Theil der Seeschwaben blieb immer clerical; die Franken aus den entlegenen Thälern des hinteren Odenwalds wallfahrteten fleißig zum heiligen Blut nach Walldürn und standen in ihrem katholischen Glaubenseifer kaum hinter den Münsterländern zurück, denn wie in Westphalen die Wiedertäufer, so hatten hier im malerischen Taubergrunde die Mordbanden des Bauernkriegs ihre blutige Spur zurückgelassen, das Bauernschlachtfeld von Königshofen und die schändlich verstümmelte Herr- gottskirche von Creglingen erzählten noch von den Saturnalien der lu- therischen Gecken. Aber die vorherrschende Gesinnung des Landes war durchaus modern, städtisch, weltlich aufgeklärt. Im Breisgau und den anderen vorderösterreichischen Gebieten schlugen die kirchlichen und politi- schen Grundsätze Josephs II. weit tiefere Wurzeln als in den östlichen Kronlanden des Hauses Lothringen; der philosophische Kaiser ward hier allgemein als das Fürstenideal gefeiert. Die Pfälzer andererseits wollten nach allen den gräßlichen Glaubenskriegen, die ihre schöne Heimath ver- wüstet, nun endlich des confessionellen Friedens genießen, und er war nirgends unentbehrlicher als hier wo fast in jedem Städtchen eine Simul- tankirche stand; sie rühmten sich ihres Karl Ludwig, des duldsamen Kur- fürsten, der in Mannheim die Friedenskirche für alle drei Bekenntnisse er- richtet hatte. In Heidelberg gaben Paulus und Voß, in Freiburg Rotteck den Ton an. Der protestantische Rationalismus des Unterlandes reichte dem josephinischen Katholicismus des Oberlandes die Hand, und was die Köpfe der gebildeten Klassen erfüllte drang tief in die Massen des Volks hinab; denn die ungebundene oberrheinische Lebenslust ließ eine so scharfe Tren- nung der Stände, wie sie im Norden noch bestand, nicht aufkommen; in den zahllosen kleinen Städten fand sich überall ein behagliches Wirths- haus, wo der Bauer am Markttag mit den studirten Leuten verkehrte.
Es war kein Zufall, daß grade in diesem Lande der demokrati- schen Sitten die ersten wirklichen Volksbücher unserer neuen Literatur er- schienen. Seit dem Verfasser des Simplicissimus, Grimmelshausen, hatte der Oberrhein keinen bedeutenden Dichter mehr gesehen; jetzt freute sich
II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
alten Zufallsſtaaten zu einem neuen, der aus dem Nichts entſtand, zu- ſammenballte, da ward dies Land die natürliche Heimath eines ſtaat- und geſchichtsloſen Liberalismus, der ſich das politiſche wie das kirchliche Leben ſchnellfertig nach den untrüglichen Grundſätzen des ſogenannten Vernunftrechts zurecht legte und durch die aufregende Nachbarſchaft Frank- reichs und der Schweiz zu immer kühneren Forderungen ermuthigt wurde.
Wohl hatten ſich auf den geſchloſſenen großen Bauernhöfen des Schwarzwalds noch manche altväteriſche Sitten und Trachten erhalten; weniger freilich als nahebei im Elſaß, wo die Fremdherrſchaft das Volk von der neuen deutſchen Bildung abſperrte. Auch die ſtreng kirchliche Geſinnung behauptete ſich noch in einigen Schlupfwinkeln. Einzelne alt- lutheriſche Gemeinden ſaßen da und dort zerſtreut, vornehmlich bei Pforz- heim; ein Theil der Seeſchwaben blieb immer clerical; die Franken aus den entlegenen Thälern des hinteren Odenwalds wallfahrteten fleißig zum heiligen Blut nach Walldürn und ſtanden in ihrem katholiſchen Glaubenseifer kaum hinter den Münſterländern zurück, denn wie in Weſtphalen die Wiedertäufer, ſo hatten hier im maleriſchen Taubergrunde die Mordbanden des Bauernkriegs ihre blutige Spur zurückgelaſſen, das Bauernſchlachtfeld von Königshofen und die ſchändlich verſtümmelte Herr- gottskirche von Creglingen erzählten noch von den Saturnalien der lu- theriſchen Gecken. Aber die vorherrſchende Geſinnung des Landes war durchaus modern, ſtädtiſch, weltlich aufgeklärt. Im Breisgau und den anderen vorderöſterreichiſchen Gebieten ſchlugen die kirchlichen und politi- ſchen Grundſätze Joſephs II. weit tiefere Wurzeln als in den öſtlichen Kronlanden des Hauſes Lothringen; der philoſophiſche Kaiſer ward hier allgemein als das Fürſtenideal gefeiert. Die Pfälzer andererſeits wollten nach allen den gräßlichen Glaubenskriegen, die ihre ſchöne Heimath ver- wüſtet, nun endlich des confeſſionellen Friedens genießen, und er war nirgends unentbehrlicher als hier wo faſt in jedem Städtchen eine Simul- tankirche ſtand; ſie rühmten ſich ihres Karl Ludwig, des duldſamen Kur- fürſten, der in Mannheim die Friedenskirche für alle drei Bekenntniſſe er- richtet hatte. In Heidelberg gaben Paulus und Voß, in Freiburg Rotteck den Ton an. Der proteſtantiſche Rationalismus des Unterlandes reichte dem joſephiniſchen Katholicismus des Oberlandes die Hand, und was die Köpfe der gebildeten Klaſſen erfüllte drang tief in die Maſſen des Volks hinab; denn die ungebundene oberrheiniſche Lebensluſt ließ eine ſo ſcharfe Tren- nung der Stände, wie ſie im Norden noch beſtand, nicht aufkommen; in den zahlloſen kleinen Städten fand ſich überall ein behagliches Wirths- haus, wo der Bauer am Markttag mit den ſtudirten Leuten verkehrte.
Es war kein Zufall, daß grade in dieſem Lande der demokrati- ſchen Sitten die erſten wirklichen Volksbücher unſerer neuen Literatur er- ſchienen. Seit dem Verfaſſer des Simpliciſſimus, Grimmelshauſen, hatte der Oberrhein keinen bedeutenden Dichter mehr geſehen; jetzt freute ſich
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II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
alten Zufallsſtaaten zu einem neuen, der aus dem Nichts entſtand, zu-
ſammenballte, da ward dies Land die natürliche Heimath eines ſtaat-
und geſchichtsloſen Liberalismus, der ſich das politiſche wie das kirchliche
Leben ſchnellfertig nach den untrüglichen Grundſätzen des ſogenannten
Vernunftrechts zurecht legte und durch die aufregende Nachbarſchaft Frank-
reichs und der Schweiz zu immer kühneren Forderungen ermuthigt wurde.
Wohl hatten ſich auf den geſchloſſenen großen Bauernhöfen des
Schwarzwalds noch manche altväteriſche Sitten und Trachten erhalten;
weniger freilich als nahebei im Elſaß, wo die Fremdherrſchaft das Volk
von der neuen deutſchen Bildung abſperrte. Auch die ſtreng kirchliche
Geſinnung behauptete ſich noch in einigen Schlupfwinkeln. Einzelne alt-
lutheriſche Gemeinden ſaßen da und dort zerſtreut, vornehmlich bei Pforz-
heim; ein Theil der Seeſchwaben blieb immer clerical; die Franken aus
den entlegenen Thälern des hinteren Odenwalds wallfahrteten fleißig
zum heiligen Blut nach Walldürn und ſtanden in ihrem katholiſchen
Glaubenseifer kaum hinter den Münſterländern zurück, denn wie in
Weſtphalen die Wiedertäufer, ſo hatten hier im maleriſchen Taubergrunde
die Mordbanden des Bauernkriegs ihre blutige Spur zurückgelaſſen, das
Bauernſchlachtfeld von Königshofen und die ſchändlich verſtümmelte Herr-
gottskirche von Creglingen erzählten noch von den Saturnalien der lu-
theriſchen Gecken. Aber die vorherrſchende Geſinnung des Landes war
durchaus modern, ſtädtiſch, weltlich aufgeklärt. Im Breisgau und den
anderen vorderöſterreichiſchen Gebieten ſchlugen die kirchlichen und politi-
ſchen Grundſätze Joſephs II. weit tiefere Wurzeln als in den öſtlichen
Kronlanden des Hauſes Lothringen; der philoſophiſche Kaiſer ward hier
allgemein als das Fürſtenideal gefeiert. Die Pfälzer andererſeits wollten
nach allen den gräßlichen Glaubenskriegen, die ihre ſchöne Heimath ver-
wüſtet, nun endlich des confeſſionellen Friedens genießen, und er war
nirgends unentbehrlicher als hier wo faſt in jedem Städtchen eine Simul-
tankirche ſtand; ſie rühmten ſich ihres Karl Ludwig, des duldſamen Kur-
fürſten, der in Mannheim die Friedenskirche für alle drei Bekenntniſſe er-
richtet hatte. In Heidelberg gaben Paulus und Voß, in Freiburg Rotteck den
Ton an. Der proteſtantiſche Rationalismus des Unterlandes reichte dem
joſephiniſchen Katholicismus des Oberlandes die Hand, und was die Köpfe
der gebildeten Klaſſen erfüllte drang tief in die Maſſen des Volks hinab;
denn die ungebundene oberrheiniſche Lebensluſt ließ eine ſo ſcharfe Tren-
nung der Stände, wie ſie im Norden noch beſtand, nicht aufkommen;
in den zahlloſen kleinen Städten fand ſich überall ein behagliches Wirths-
haus, wo der Bauer am Markttag mit den ſtudirten Leuten verkehrte.
Es war kein Zufall, daß grade in dieſem Lande der demokrati-
ſchen Sitten die erſten wirklichen Volksbücher unſerer neuen Literatur er-
ſchienen. Seit dem Verfaſſer des Simpliciſſimus, Grimmelshauſen, hatte
der Oberrhein keinen bedeutenden Dichter mehr geſehen; jetzt freute ſich
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/370>, abgerufen am 22.11.2024.
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