hessen ganz auf den Verkehr mit dem Norden angewiesen, Starkenburg mehr auf den Süden. In beiden Landschaften hatte sich das städtische Leben wenig entwickelt; weder die Reichsstädte Friedberg und Wimpfen noch die lieblichen Städtchen an den Rebenhängen der Bergstraße be- saßen ein starkes Bürgerthum, das dem Beamtenheere des Großherzogs mit Selbstgefühl begegnen konnte. In den einsamen Waldthälern des Odenwalds und auf den unwirthlichen Höhen des Vogelsbergs, ja selbst in der reichen Ebene der Wetterau bewahrten sich die Bauern noch manchen ehrenfesten altväterischen Brauch. Die Unterthanen der zahlreichen Media- tisirten, der Erbach, Isenburg, Solms, Leiningen hielten noch in alter Treue zu den angestammten kleinen Dynasten. Namentlich die Graf- schaft Erbach blieb noch eine kleine Welt für sich. Wenn die Odenwälder alljährlich zu dem beliebten Volksfeste, dem Eulbacher Markte zusammen- strömten, dann sprachen sie nur von dem Stifter des Festes, dem kunst- sinnigen Grafen Franz, dessen Sammlungen im Erbacher Schlosse das Darmstädter Museum weit überboten; die hessische Herrschaft verwünschte Jedermann, weil sie zunächst nur doppelte Steuerlast gebracht hatte.
Wie sollte sich der neugewonnene überrheinische Landstrich, der nun den abgeschmackten Namen Rheinhessen erhielt, an diese patriarchalischen Zustände gewöhnen? Dort war der Bauer fast noch städtischer als in der bairischen Pfalz, fast noch eifriger auf das "Profitiren" bedacht, der Bürger durch den Weltverkehr seines Stromes an große Verhältnisse gewöhnt. Verächtlich blickte der Mainzer auf die traurige neue Haupt- stadt in der Sandebene am Darmfluß und spottete über ihre bedienten- hafte Bevölkerung, über den einen Referendar, der Mittags in ihrer Rheinstraße wimmelte. Von den großen Tagen der Vorzeit, von der Macht der alten Reichserzkanzler, von der Bürgergröße der Walpoden und der Gensfleisch war freilich im goldenen Mainz kaum noch die Rede. Die Bischofsstadt des heiligen Bonifacius, die sich einst so gern die eigent- liche Tochter der römischen Kirche genannt, blieb ein Menschenalter hin- durch die radicalste und die am eifrigsten französisch gesinnte Stadt des Rheinlands. Das Illuminatenthum und die Sittenlosigkeit der letzten kurfürstlichen Zeiten hatten hier einen leichtsinnigen, zungenfertigen Ueber- muth groß gezogen, der in dem wüsten Treiben der republikanischen Clubisten seinen Fasching feierte und erst während der gestrengen napo- leonischen Herrschaft verstummte. Jetzt aber, unter einer zugleich schwachen und verhaßten Regierung, trat er wieder keck hervor. Vor Kurzem erst hatte die Bürgerschaft die deutschen Eroberer als Befreier begrüßt und die abziehenden Franzosen verwünscht, die in dem geschändeten Dome und fast auf jeder Gasse die Spuren ihrer Roheit zurückließen. Bald war das Alles vergessen. Man dachte nur noch an die Verdienste des trefflichen Präfekten Jean Bon St. Andre, an die mannichfache Gunst, welche der Imperator seiner deutschen Lieblingsstadt erwiesen, und betrachtete den
II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
heſſen ganz auf den Verkehr mit dem Norden angewieſen, Starkenburg mehr auf den Süden. In beiden Landſchaften hatte ſich das ſtädtiſche Leben wenig entwickelt; weder die Reichsſtädte Friedberg und Wimpfen noch die lieblichen Städtchen an den Rebenhängen der Bergſtraße be- ſaßen ein ſtarkes Bürgerthum, das dem Beamtenheere des Großherzogs mit Selbſtgefühl begegnen konnte. In den einſamen Waldthälern des Odenwalds und auf den unwirthlichen Höhen des Vogelsbergs, ja ſelbſt in der reichen Ebene der Wetterau bewahrten ſich die Bauern noch manchen ehrenfeſten altväteriſchen Brauch. Die Unterthanen der zahlreichen Media- tiſirten, der Erbach, Iſenburg, Solms, Leiningen hielten noch in alter Treue zu den angeſtammten kleinen Dynaſten. Namentlich die Graf- ſchaft Erbach blieb noch eine kleine Welt für ſich. Wenn die Odenwälder alljährlich zu dem beliebten Volksfeſte, dem Eulbacher Markte zuſammen- ſtrömten, dann ſprachen ſie nur von dem Stifter des Feſtes, dem kunſt- ſinnigen Grafen Franz, deſſen Sammlungen im Erbacher Schloſſe das Darmſtädter Muſeum weit überboten; die heſſiſche Herrſchaft verwünſchte Jedermann, weil ſie zunächſt nur doppelte Steuerlaſt gebracht hatte.
Wie ſollte ſich der neugewonnene überrheiniſche Landſtrich, der nun den abgeſchmackten Namen Rheinheſſen erhielt, an dieſe patriarchaliſchen Zuſtände gewöhnen? Dort war der Bauer faſt noch ſtädtiſcher als in der bairiſchen Pfalz, faſt noch eifriger auf das „Profitiren“ bedacht, der Bürger durch den Weltverkehr ſeines Stromes an große Verhältniſſe gewöhnt. Verächtlich blickte der Mainzer auf die traurige neue Haupt- ſtadt in der Sandebene am Darmfluß und ſpottete über ihre bedienten- hafte Bevölkerung, über den einen Referendar, der Mittags in ihrer Rheinſtraße wimmelte. Von den großen Tagen der Vorzeit, von der Macht der alten Reichserzkanzler, von der Bürgergröße der Walpoden und der Gensfleiſch war freilich im goldenen Mainz kaum noch die Rede. Die Biſchofsſtadt des heiligen Bonifacius, die ſich einſt ſo gern die eigent- liche Tochter der römiſchen Kirche genannt, blieb ein Menſchenalter hin- durch die radicalſte und die am eifrigſten franzöſiſch geſinnte Stadt des Rheinlands. Das Illuminatenthum und die Sittenloſigkeit der letzten kurfürſtlichen Zeiten hatten hier einen leichtſinnigen, zungenfertigen Ueber- muth groß gezogen, der in dem wüſten Treiben der republikaniſchen Clubiſten ſeinen Faſching feierte und erſt während der geſtrengen napo- leoniſchen Herrſchaft verſtummte. Jetzt aber, unter einer zugleich ſchwachen und verhaßten Regierung, trat er wieder keck hervor. Vor Kurzem erſt hatte die Bürgerſchaft die deutſchen Eroberer als Befreier begrüßt und die abziehenden Franzoſen verwünſcht, die in dem geſchändeten Dome und faſt auf jeder Gaſſe die Spuren ihrer Roheit zurückließen. Bald war das Alles vergeſſen. Man dachte nur noch an die Verdienſte des trefflichen Präfekten Jean Bon St. André, an die mannichfache Gunſt, welche der Imperator ſeiner deutſchen Lieblingsſtadt erwieſen, und betrachtete den
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II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
heſſen ganz auf den Verkehr mit dem Norden angewieſen, Starkenburg
mehr auf den Süden. In beiden Landſchaften hatte ſich das ſtädtiſche
Leben wenig entwickelt; weder die Reichsſtädte Friedberg und Wimpfen
noch die lieblichen Städtchen an den Rebenhängen der Bergſtraße be-
ſaßen ein ſtarkes Bürgerthum, das dem Beamtenheere des Großherzogs
mit Selbſtgefühl begegnen konnte. In den einſamen Waldthälern des
Odenwalds und auf den unwirthlichen Höhen des Vogelsbergs, ja ſelbſt
in der reichen Ebene der Wetterau bewahrten ſich die Bauern noch manchen
ehrenfeſten altväteriſchen Brauch. Die Unterthanen der zahlreichen Media-
tiſirten, der Erbach, Iſenburg, Solms, Leiningen hielten noch in alter
Treue zu den angeſtammten kleinen Dynaſten. Namentlich die Graf-
ſchaft Erbach blieb noch eine kleine Welt für ſich. Wenn die Odenwälder
alljährlich zu dem beliebten Volksfeſte, dem Eulbacher Markte zuſammen-
ſtrömten, dann ſprachen ſie nur von dem Stifter des Feſtes, dem kunſt-
ſinnigen Grafen Franz, deſſen Sammlungen im Erbacher Schloſſe das
Darmſtädter Muſeum weit überboten; die heſſiſche Herrſchaft verwünſchte
Jedermann, weil ſie zunächſt nur doppelte Steuerlaſt gebracht hatte.
Wie ſollte ſich der neugewonnene überrheiniſche Landſtrich, der nun
den abgeſchmackten Namen Rheinheſſen erhielt, an dieſe patriarchaliſchen
Zuſtände gewöhnen? Dort war der Bauer faſt noch ſtädtiſcher als in
der bairiſchen Pfalz, faſt noch eifriger auf das „Profitiren“ bedacht, der
Bürger durch den Weltverkehr ſeines Stromes an große Verhältniſſe
gewöhnt. Verächtlich blickte der Mainzer auf die traurige neue Haupt-
ſtadt in der Sandebene am Darmfluß und ſpottete über ihre bedienten-
hafte Bevölkerung, über den einen Referendar, der Mittags in ihrer
Rheinſtraße wimmelte. Von den großen Tagen der Vorzeit, von der
Macht der alten Reichserzkanzler, von der Bürgergröße der Walpoden
und der Gensfleiſch war freilich im goldenen Mainz kaum noch die Rede.
Die Biſchofsſtadt des heiligen Bonifacius, die ſich einſt ſo gern die eigent-
liche Tochter der römiſchen Kirche genannt, blieb ein Menſchenalter hin-
durch die radicalſte und die am eifrigſten franzöſiſch geſinnte Stadt des
Rheinlands. Das Illuminatenthum und die Sittenloſigkeit der letzten
kurfürſtlichen Zeiten hatten hier einen leichtſinnigen, zungenfertigen Ueber-
muth groß gezogen, der in dem wüſten Treiben der republikaniſchen
Clubiſten ſeinen Faſching feierte und erſt während der geſtrengen napo-
leoniſchen Herrſchaft verſtummte. Jetzt aber, unter einer zugleich ſchwachen
und verhaßten Regierung, trat er wieder keck hervor. Vor Kurzem erſt
hatte die Bürgerſchaft die deutſchen Eroberer als Befreier begrüßt und
die abziehenden Franzoſen verwünſcht, die in dem geſchändeten Dome und
faſt auf jeder Gaſſe die Spuren ihrer Roheit zurückließen. Bald war das
Alles vergeſſen. Man dachte nur noch an die Verdienſte des trefflichen
Präfekten Jean Bon St. André, an die mannichfache Gunſt, welche der
Imperator ſeiner deutſchen Lieblingsſtadt erwieſen, und betrachtete den
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/394>, abgerufen am 21.07.2024.
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