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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Rheinhessen.
Code Napoleon als das Bollwerk rheinhessischer Freiheit. Der neue Landes-
herr verbürgte der Provinz in der That den ungestörten Genuß ihrer
französischen Institutionen, aber die Mainzer wußten wohl, wie unwillig
das althessische Beamtenthum diese Zusage aufnahm, und witterten hinter
jedem Erlaß des Ministeriums einen Angriff auf ihre Landesfreiheit.
Die widerwärtigen Händel zwischen den Truppen der Bundesgarnison
konnten das Ansehen der deutschen Herrschaft nicht verstärken; der Bundes-
tag vollends ward schon darum verspottet, weil er in Frankfurt tagte und
jedes Mainzer Kind den Haß gegen die Nachbarstadt mit der Muttermilch
einsog. Von den Segnungen des Friedens bekam das hessische Rheinland
auch nur wenig zu spüren. Vor Zeiten, so lange die Thalfahrt über-
wog, hatte Mainz den vornehmsten Platz unter den Rheinstädten behauptet.
Seit der Kolonialhandel emporwuchs und die Bergfahrt in den Vorder-
grund trat, mußte der Schwerpunkt des rheinischen Verkehrs nothwendig
der Mündung näher rücken. Die unfreie Gesetzgebung der kurfürstlichen
und der napoleonischen Tage griff noch eine Zeit lang hemmend ein, ließ
die holländischen Häfen auf Kosten Kölns gedeihen; erst unter dem Schutze
der preußischen Gesetze trat die Natur der Dinge in ihr Recht, und Köln
wurde der erste Handelsplatz am Rheine. Die Mainzer aber schrieben
dies natürliche Wachsthum ihrer alten Nebenbuhlerin zumeist den Unter-
lassungssünden der Darmstädter Regierung zu.

Der französische Partikularismus der Rheinländer wurde für Hessen
ungleich gefährlicher als für Preußen oder Baiern, da Rheinhessen fast
ein Drittel der Bevölkerung des Großherzogthums umfaßte und in seiner
wirthschaftlichen Entwicklung den rechtsrheinischen Landestheilen weit voran-
stand. In solcher Bedrängniß wußte sich Großherzog Ludwig I. vorerst
nur durch ein scharfes bureaukratisches Regiment zu helfen, eine Politik,
welche ohnehin seinen Neigungen und Gewohnheiten entsprach. Er war
der Neugründer dieses Staates, blieb seit 1790 vierzig Jahre lang am
Ruder und wurde von unterthänigen Darmstädtern gern mit Karl Friedrich
von Baden verglichen. An den Geist und die Hochherzigkeit des Zähringers
reichte er freilich nicht heran, aber seinen ehrlichen Willen bewährte er
schon beim Antritt seiner Regierung, als er dem mißhandelten K. F. v. Moser
die gebührende Genugthuung gab. Dem Imperator gegenüber zeigte er
sich nicht knechtischer als die Mehrzahl der Rheinbundsfürsten; die Liebe-
dienerei ward dem Prinzen Emil überlassen, der sich die besondere Gnade
Napoleons erwarb und nach dem Frieden noch lange die bonapartistische
Gesinnung in der tüchtigen kleinen Armee wach hielt. Dem Lande brachten
die schweren Zeiten des Rheinbunds ein napoleonisches Präfektensystem,
die Vernichtung aller Gemeindefreiheit und die unvermeidliche Aufhebung
der alten ständischen Verfassungen, aber auch manche heilsame Re-
formen, so die Beseitigung der Leibeigenschaft und die Anfänge jener
verständigen agrarischen Gesetzgebung, welche fortan der Stolz des darm-

Rheinheſſen.
Code Napoleon als das Bollwerk rheinheſſiſcher Freiheit. Der neue Landes-
herr verbürgte der Provinz in der That den ungeſtörten Genuß ihrer
franzöſiſchen Inſtitutionen, aber die Mainzer wußten wohl, wie unwillig
das altheſſiſche Beamtenthum dieſe Zuſage aufnahm, und witterten hinter
jedem Erlaß des Miniſteriums einen Angriff auf ihre Landesfreiheit.
Die widerwärtigen Händel zwiſchen den Truppen der Bundesgarniſon
konnten das Anſehen der deutſchen Herrſchaft nicht verſtärken; der Bundes-
tag vollends ward ſchon darum verſpottet, weil er in Frankfurt tagte und
jedes Mainzer Kind den Haß gegen die Nachbarſtadt mit der Muttermilch
einſog. Von den Segnungen des Friedens bekam das heſſiſche Rheinland
auch nur wenig zu ſpüren. Vor Zeiten, ſo lange die Thalfahrt über-
wog, hatte Mainz den vornehmſten Platz unter den Rheinſtädten behauptet.
Seit der Kolonialhandel emporwuchs und die Bergfahrt in den Vorder-
grund trat, mußte der Schwerpunkt des rheiniſchen Verkehrs nothwendig
der Mündung näher rücken. Die unfreie Geſetzgebung der kurfürſtlichen
und der napoleoniſchen Tage griff noch eine Zeit lang hemmend ein, ließ
die holländiſchen Häfen auf Koſten Kölns gedeihen; erſt unter dem Schutze
der preußiſchen Geſetze trat die Natur der Dinge in ihr Recht, und Köln
wurde der erſte Handelsplatz am Rheine. Die Mainzer aber ſchrieben
dies natürliche Wachsthum ihrer alten Nebenbuhlerin zumeiſt den Unter-
laſſungsſünden der Darmſtädter Regierung zu.

Der franzöſiſche Partikularismus der Rheinländer wurde für Heſſen
ungleich gefährlicher als für Preußen oder Baiern, da Rheinheſſen faſt
ein Drittel der Bevölkerung des Großherzogthums umfaßte und in ſeiner
wirthſchaftlichen Entwicklung den rechtsrheiniſchen Landestheilen weit voran-
ſtand. In ſolcher Bedrängniß wußte ſich Großherzog Ludwig I. vorerſt
nur durch ein ſcharfes bureaukratiſches Regiment zu helfen, eine Politik,
welche ohnehin ſeinen Neigungen und Gewohnheiten entſprach. Er war
der Neugründer dieſes Staates, blieb ſeit 1790 vierzig Jahre lang am
Ruder und wurde von unterthänigen Darmſtädtern gern mit Karl Friedrich
von Baden verglichen. An den Geiſt und die Hochherzigkeit des Zähringers
reichte er freilich nicht heran, aber ſeinen ehrlichen Willen bewährte er
ſchon beim Antritt ſeiner Regierung, als er dem mißhandelten K. F. v. Moſer
die gebührende Genugthuung gab. Dem Imperator gegenüber zeigte er
ſich nicht knechtiſcher als die Mehrzahl der Rheinbundsfürſten; die Liebe-
dienerei ward dem Prinzen Emil überlaſſen, der ſich die beſondere Gnade
Napoleons erwarb und nach dem Frieden noch lange die bonapartiſtiſche
Geſinnung in der tüchtigen kleinen Armee wach hielt. Dem Lande brachten
die ſchweren Zeiten des Rheinbunds ein napoleoniſches Präfektenſyſtem,
die Vernichtung aller Gemeindefreiheit und die unvermeidliche Aufhebung
der alten ſtändiſchen Verfaſſungen, aber auch manche heilſame Re-
formen, ſo die Beſeitigung der Leibeigenſchaft und die Anfänge jener
verſtändigen agrariſchen Geſetzgebung, welche fortan der Stolz des darm-

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[381/0395] Rheinheſſen. Code Napoleon als das Bollwerk rheinheſſiſcher Freiheit. Der neue Landes- herr verbürgte der Provinz in der That den ungeſtörten Genuß ihrer franzöſiſchen Inſtitutionen, aber die Mainzer wußten wohl, wie unwillig das altheſſiſche Beamtenthum dieſe Zuſage aufnahm, und witterten hinter jedem Erlaß des Miniſteriums einen Angriff auf ihre Landesfreiheit. Die widerwärtigen Händel zwiſchen den Truppen der Bundesgarniſon konnten das Anſehen der deutſchen Herrſchaft nicht verſtärken; der Bundes- tag vollends ward ſchon darum verſpottet, weil er in Frankfurt tagte und jedes Mainzer Kind den Haß gegen die Nachbarſtadt mit der Muttermilch einſog. Von den Segnungen des Friedens bekam das heſſiſche Rheinland auch nur wenig zu ſpüren. Vor Zeiten, ſo lange die Thalfahrt über- wog, hatte Mainz den vornehmſten Platz unter den Rheinſtädten behauptet. Seit der Kolonialhandel emporwuchs und die Bergfahrt in den Vorder- grund trat, mußte der Schwerpunkt des rheiniſchen Verkehrs nothwendig der Mündung näher rücken. Die unfreie Geſetzgebung der kurfürſtlichen und der napoleoniſchen Tage griff noch eine Zeit lang hemmend ein, ließ die holländiſchen Häfen auf Koſten Kölns gedeihen; erſt unter dem Schutze der preußiſchen Geſetze trat die Natur der Dinge in ihr Recht, und Köln wurde der erſte Handelsplatz am Rheine. Die Mainzer aber ſchrieben dies natürliche Wachsthum ihrer alten Nebenbuhlerin zumeiſt den Unter- laſſungsſünden der Darmſtädter Regierung zu. Der franzöſiſche Partikularismus der Rheinländer wurde für Heſſen ungleich gefährlicher als für Preußen oder Baiern, da Rheinheſſen faſt ein Drittel der Bevölkerung des Großherzogthums umfaßte und in ſeiner wirthſchaftlichen Entwicklung den rechtsrheiniſchen Landestheilen weit voran- ſtand. In ſolcher Bedrängniß wußte ſich Großherzog Ludwig I. vorerſt nur durch ein ſcharfes bureaukratiſches Regiment zu helfen, eine Politik, welche ohnehin ſeinen Neigungen und Gewohnheiten entſprach. Er war der Neugründer dieſes Staates, blieb ſeit 1790 vierzig Jahre lang am Ruder und wurde von unterthänigen Darmſtädtern gern mit Karl Friedrich von Baden verglichen. An den Geiſt und die Hochherzigkeit des Zähringers reichte er freilich nicht heran, aber ſeinen ehrlichen Willen bewährte er ſchon beim Antritt ſeiner Regierung, als er dem mißhandelten K. F. v. Moſer die gebührende Genugthuung gab. Dem Imperator gegenüber zeigte er ſich nicht knechtiſcher als die Mehrzahl der Rheinbundsfürſten; die Liebe- dienerei ward dem Prinzen Emil überlaſſen, der ſich die beſondere Gnade Napoleons erwarb und nach dem Frieden noch lange die bonapartiſtiſche Geſinnung in der tüchtigen kleinen Armee wach hielt. Dem Lande brachten die ſchweren Zeiten des Rheinbunds ein napoleoniſches Präfektenſyſtem, die Vernichtung aller Gemeindefreiheit und die unvermeidliche Aufhebung der alten ſtändiſchen Verfaſſungen, aber auch manche heilſame Re- formen, ſo die Beſeitigung der Leibeigenſchaft und die Anfänge jener verſtändigen agrariſchen Geſetzgebung, welche fortan der Stolz des darm-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/395>, abgerufen am 22.11.2024.