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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Turnstaat und Turnlieder.
germanische Bär wieder brummend aus, die jungen Männer setzten ihren
Stolz darein, den Weibern unausstehlich zu erscheinen. Auch hinter der
gerühmten teutonischen Wahrhaftigkeit verbarg sich viel Selbstbetrug; der
biderbe Ton war eine Mode wie andere auch, die Roheit oft ebenso er-
künstelt wie bei anderen Nationen die Höflichkeit. Unter dem Terroris-
mus deutschthümelnder Kraftworte und Kraftsitten verkümmerte was den
Kern alles deutschen Wesens bildet, die stolze Freiheit der persönlichen
Eigenart. Die gespreizte Unnatur dieses bewußten und gewollten Ber-
serkerthums bewies nur, daß die menschlich heitere Tugend der Athener
dem deutschen Geiste näher steht als die gemüthlose Sittenstrenge der
Spartaner.

Das Wunderlichste blieb doch, daß diese neue das ganze Vaterland
mit ihren Träumen umfassende Deutschheit sofort in den unausrott-
baren alten kleinstädtischen Zunftgeist zurückfiel und gleich damit begann
eine streng geschlossene Sekte mit eigenem Brauch und eigener Sprache
zu bilden. Hier war der Turnstaat, das Turnleben, das Turnbekenntniß,
hier allein blühte die wahre Freiheit und Gleichheit:

So hegen wir ein freies Reich,
An Rang und Stand sind Alle gleich.
Freies Reich! Alle gleich! Heisa juchhe!

In den Turnliedern erklingen nur selten die hellen Töne unbefangener
jugendlicher Fröhlichkeit; die meisten der jungen Poeten werfen sich in
Fechterstellung, fahren herausfordernd, drohend, scheltend auf die Feinde der
löblichen Turnkunst los: "rührt's auch den Aar, wenn ihn verlacht ein Sper-
ling auf dem Mist?" Und wie thöricht nährte Jahn selber diesen Sekten-
geist. Wer dem geweihten Kreise fern blieb war ein Meindeutscher, ein Sie-
männlein, ein Zwingherrnknecht und wurde von den Zunftgenossen ganz
wie ein Bönhase mit der gröbsten Unduldsamkeit behandelt. In seinem
siebenten Turngesetze befahl Jahn geradezu: jeder Turner solle ihm sogleich
eine Anzeige machen, wenn er etwas erführe "was für und wider die
Turnkunst derselben Freund oder Feind sprechen, schreiben oder wirken,
damit zu seiner Zeit und an seinem Orte aller solcher Kunden mit
Glimpf oder Schimpf könne gedacht werden!" So wuchs allmählich in
aller Unschuld ein kleiner Staat im Staate empor; die harmlose Turnerei
nahm Vieles von den Unarten des politischen Parteifanatismus an, und
manches ängstliche Gemüth fühlte sich durch das Puritanerthum der deut-
schen Langhaare an die englischen Rundköpfe erinnert oder verglich die
teutonischen Sanscravatten gar mit den Sansculotten der Revolution.

An den Thorheiten der Jugend sind die Erwachsenen immer mit-
schuldig. Die Anmaßung des jungen Volks wäre nie so hoch gestiegen,
wenn nicht die Alten das kindische Spiel in Lob und Tadel mit einer
Ueberschätzung behandelt hätten, die uns heute im Gedränge unserer ernsten
Parteikämpfe schon unbegreiflich vorkommt. Das öffentliche Leben in Preußen

Turnſtaat und Turnlieder.
germaniſche Bär wieder brummend aus, die jungen Männer ſetzten ihren
Stolz darein, den Weibern unausſtehlich zu erſcheinen. Auch hinter der
gerühmten teutoniſchen Wahrhaftigkeit verbarg ſich viel Selbſtbetrug; der
biderbe Ton war eine Mode wie andere auch, die Roheit oft ebenſo er-
künſtelt wie bei anderen Nationen die Höflichkeit. Unter dem Terroris-
mus deutſchthümelnder Kraftworte und Kraftſitten verkümmerte was den
Kern alles deutſchen Weſens bildet, die ſtolze Freiheit der perſönlichen
Eigenart. Die geſpreizte Unnatur dieſes bewußten und gewollten Ber-
ſerkerthums bewies nur, daß die menſchlich heitere Tugend der Athener
dem deutſchen Geiſte näher ſteht als die gemüthloſe Sittenſtrenge der
Spartaner.

Das Wunderlichſte blieb doch, daß dieſe neue das ganze Vaterland
mit ihren Träumen umfaſſende Deutſchheit ſofort in den unausrott-
baren alten kleinſtädtiſchen Zunftgeiſt zurückfiel und gleich damit begann
eine ſtreng geſchloſſene Sekte mit eigenem Brauch und eigener Sprache
zu bilden. Hier war der Turnſtaat, das Turnleben, das Turnbekenntniß,
hier allein blühte die wahre Freiheit und Gleichheit:

So hegen wir ein freies Reich,
An Rang und Stand ſind Alle gleich.
Freies Reich! Alle gleich! Heiſa juchhe!

In den Turnliedern erklingen nur ſelten die hellen Töne unbefangener
jugendlicher Fröhlichkeit; die meiſten der jungen Poeten werfen ſich in
Fechterſtellung, fahren herausfordernd, drohend, ſcheltend auf die Feinde der
löblichen Turnkunſt los: „rührt’s auch den Aar, wenn ihn verlacht ein Sper-
ling auf dem Miſt?“ Und wie thöricht nährte Jahn ſelber dieſen Sekten-
geiſt. Wer dem geweihten Kreiſe fern blieb war ein Meindeutſcher, ein Sie-
männlein, ein Zwingherrnknecht und wurde von den Zunftgenoſſen ganz
wie ein Bönhaſe mit der gröbſten Unduldſamkeit behandelt. In ſeinem
ſiebenten Turngeſetze befahl Jahn geradezu: jeder Turner ſolle ihm ſogleich
eine Anzeige machen, wenn er etwas erführe „was für und wider die
Turnkunſt derſelben Freund oder Feind ſprechen, ſchreiben oder wirken,
damit zu ſeiner Zeit und an ſeinem Orte aller ſolcher Kunden mit
Glimpf oder Schimpf könne gedacht werden!“ So wuchs allmählich in
aller Unſchuld ein kleiner Staat im Staate empor; die harmloſe Turnerei
nahm Vieles von den Unarten des politiſchen Parteifanatismus an, und
manches ängſtliche Gemüth fühlte ſich durch das Puritanerthum der deut-
ſchen Langhaare an die engliſchen Rundköpfe erinnert oder verglich die
teutoniſchen Sanscravatten gar mit den Sansculotten der Revolution.

An den Thorheiten der Jugend ſind die Erwachſenen immer mit-
ſchuldig. Die Anmaßung des jungen Volks wäre nie ſo hoch geſtiegen,
wenn nicht die Alten das kindiſche Spiel in Lob und Tadel mit einer
Ueberſchätzung behandelt hätten, die uns heute im Gedränge unſerer ernſten
Parteikämpfe ſchon unbegreiflich vorkommt. Das öffentliche Leben in Preußen

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[389/0403] Turnſtaat und Turnlieder. germaniſche Bär wieder brummend aus, die jungen Männer ſetzten ihren Stolz darein, den Weibern unausſtehlich zu erſcheinen. Auch hinter der gerühmten teutoniſchen Wahrhaftigkeit verbarg ſich viel Selbſtbetrug; der biderbe Ton war eine Mode wie andere auch, die Roheit oft ebenſo er- künſtelt wie bei anderen Nationen die Höflichkeit. Unter dem Terroris- mus deutſchthümelnder Kraftworte und Kraftſitten verkümmerte was den Kern alles deutſchen Weſens bildet, die ſtolze Freiheit der perſönlichen Eigenart. Die geſpreizte Unnatur dieſes bewußten und gewollten Ber- ſerkerthums bewies nur, daß die menſchlich heitere Tugend der Athener dem deutſchen Geiſte näher ſteht als die gemüthloſe Sittenſtrenge der Spartaner. Das Wunderlichſte blieb doch, daß dieſe neue das ganze Vaterland mit ihren Träumen umfaſſende Deutſchheit ſofort in den unausrott- baren alten kleinſtädtiſchen Zunftgeiſt zurückfiel und gleich damit begann eine ſtreng geſchloſſene Sekte mit eigenem Brauch und eigener Sprache zu bilden. Hier war der Turnſtaat, das Turnleben, das Turnbekenntniß, hier allein blühte die wahre Freiheit und Gleichheit: So hegen wir ein freies Reich, An Rang und Stand ſind Alle gleich. Freies Reich! Alle gleich! Heiſa juchhe! In den Turnliedern erklingen nur ſelten die hellen Töne unbefangener jugendlicher Fröhlichkeit; die meiſten der jungen Poeten werfen ſich in Fechterſtellung, fahren herausfordernd, drohend, ſcheltend auf die Feinde der löblichen Turnkunſt los: „rührt’s auch den Aar, wenn ihn verlacht ein Sper- ling auf dem Miſt?“ Und wie thöricht nährte Jahn ſelber dieſen Sekten- geiſt. Wer dem geweihten Kreiſe fern blieb war ein Meindeutſcher, ein Sie- männlein, ein Zwingherrnknecht und wurde von den Zunftgenoſſen ganz wie ein Bönhaſe mit der gröbſten Unduldſamkeit behandelt. In ſeinem ſiebenten Turngeſetze befahl Jahn geradezu: jeder Turner ſolle ihm ſogleich eine Anzeige machen, wenn er etwas erführe „was für und wider die Turnkunſt derſelben Freund oder Feind ſprechen, ſchreiben oder wirken, damit zu ſeiner Zeit und an ſeinem Orte aller ſolcher Kunden mit Glimpf oder Schimpf könne gedacht werden!“ So wuchs allmählich in aller Unſchuld ein kleiner Staat im Staate empor; die harmloſe Turnerei nahm Vieles von den Unarten des politiſchen Parteifanatismus an, und manches ängſtliche Gemüth fühlte ſich durch das Puritanerthum der deut- ſchen Langhaare an die engliſchen Rundköpfe erinnert oder verglich die teutoniſchen Sanscravatten gar mit den Sansculotten der Revolution. An den Thorheiten der Jugend ſind die Erwachſenen immer mit- ſchuldig. Die Anmaßung des jungen Volks wäre nie ſo hoch geſtiegen, wenn nicht die Alten das kindiſche Spiel in Lob und Tadel mit einer Ueberſchätzung behandelt hätten, die uns heute im Gedränge unſerer ernſten Parteikämpfe ſchon unbegreiflich vorkommt. Das öffentliche Leben in Preußen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/403>, abgerufen am 22.11.2024.