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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Die Weimarische Verfassung.
Kopfe ferner als die Selbstüberhebung der Kleinstaaterei. Selbst die Hul-
digungen der ersten Dichter der Epoche hatten einst seinen ruhigen Stolz
nicht zur Eitelkeit verführt; wie sollte er jetzt sich bethören lassen von den
überschwänglichen Lobsprüchen der liberalen Zeitungen, welche sein Weimar
als die Wiege deutscher Kunst und Freiheit zugleich feierten? Schlicht und
recht, aus Pflichtgefühl und ehrlichem Vertrauen gewährte er seinem Völk-
chen was er für unvermeidlich hielt.

In sein Staatsministerium hatte er eine ganze Reihe tüchtiger Männer
berufen, fast zu viel Talente für den kleinen Staat. Da saß neben
Goethes Stuhl, der schon seit Jahren leer blieb, des Dichters Freund,
der alte Voigt, ein edler, fein gebildeter Mann, der gleich seinem Freunde
die Fremdherrschaft lange als eine unentrinnbare Nothwendigkeit betrachtet
hatte, jetzt aber, glücklicher als jener, sich hoffnungsvoll der neuen Frei-
heit freute; dann Fritsch, schon der Dritte aus der langen Reihe treff-
licher Geschäftsmänner, welche diese Leipziger Juristenfamilie in den Dienst
der sächsischen Häuser stellte, auch er ein Stück Poet, wohl angesehen in
der literarischen Welt; dann der neuberufene geistreiche Deutsch-Russe
Graf Edling; endlich der beste politische Kopf unter Allen, der Lausitzer
Gersdorff, der schon auf dem Wiener Congresse immer an Humboldts
Seite gestanden hatte und dann während einer langen politischen Lauf-
bahn keinen Augenblick irre ward an dem Glauben, daß "Preußen die
deutsche Nationalität wiedergeboren habe und der Grundstein sei zu einem
künftigen Deutschland". Auf Gersdorffs Rath entschloß sich der Groß-
herzog die Verfassungsarbeit unverzüglich in Angriff zu nehmen.

Im April 1816 traten die alten Stände mit einigen Abgeordneten der
neu erworbenen Landestheile zu einem Landtage zusammen; schon am
5. Mai wurde das neue, von dem Jenenser Professor Schweitzer redigirte
Grundgesetz unterzeichnet, und der Präsident des Landtags feierte in herz-
licher Dankrede die beste Tugend des deutschen Kleinfürstenstandes: "noch
immer fanden wir in diesem hohen Hause das altfürstliche Gemüth, das Jedem
wohl will, auch den Geringsten nicht unwerth achtet." Die liberale Presse
frohlockte und erging sich in behaglichem Selbstlobe: wenn der fürstliche
Freund Schillers und Goethes als der Bahnbrecher verfassungsmäßiger Frei-
heit auftrat, dann war doch sonnenklar erwiesen, daß nur rohe Naturen der
constitutionellen Heilswahrheit widersteben konnten. Ein Jahr nachher tagte
der erste constitutionelle Landtag der deutschen Geschichte in einem der drei
Dornburger Schlösser, die von steiler Felswand über Rebenhänge und Gar-
tenterrassen auf das malerische Saalethal herabschauen. Hier in der länd-
lichen Stille, wo Goethe so oft das Glück der Dichtereinsamkeit gesucht hatte,
spielte sich die erste parlamentarische Idylle der Kleinstaaterei gemüthlich ab.
Der Großherzog hatte mit glücklichem Takt zwischen dem alten Stände-
wesen und dem neuen Repräsentativsysteme einen Mittelweg eingeschlagen
und der Ritterschaft, den Städten, den Landgemeinden besondere Vertreter

Die Weimariſche Verfaſſung.
Kopfe ferner als die Selbſtüberhebung der Kleinſtaaterei. Selbſt die Hul-
digungen der erſten Dichter der Epoche hatten einſt ſeinen ruhigen Stolz
nicht zur Eitelkeit verführt; wie ſollte er jetzt ſich bethören laſſen von den
überſchwänglichen Lobſprüchen der liberalen Zeitungen, welche ſein Weimar
als die Wiege deutſcher Kunſt und Freiheit zugleich feierten? Schlicht und
recht, aus Pflichtgefühl und ehrlichem Vertrauen gewährte er ſeinem Völk-
chen was er für unvermeidlich hielt.

In ſein Staatsminiſterium hatte er eine ganze Reihe tüchtiger Männer
berufen, faſt zu viel Talente für den kleinen Staat. Da ſaß neben
Goethes Stuhl, der ſchon ſeit Jahren leer blieb, des Dichters Freund,
der alte Voigt, ein edler, fein gebildeter Mann, der gleich ſeinem Freunde
die Fremdherrſchaft lange als eine unentrinnbare Nothwendigkeit betrachtet
hatte, jetzt aber, glücklicher als jener, ſich hoffnungsvoll der neuen Frei-
heit freute; dann Fritſch, ſchon der Dritte aus der langen Reihe treff-
licher Geſchäftsmänner, welche dieſe Leipziger Juriſtenfamilie in den Dienſt
der ſächſiſchen Häuſer ſtellte, auch er ein Stück Poet, wohl angeſehen in
der literariſchen Welt; dann der neuberufene geiſtreiche Deutſch-Ruſſe
Graf Edling; endlich der beſte politiſche Kopf unter Allen, der Lauſitzer
Gersdorff, der ſchon auf dem Wiener Congreſſe immer an Humboldts
Seite geſtanden hatte und dann während einer langen politiſchen Lauf-
bahn keinen Augenblick irre ward an dem Glauben, daß „Preußen die
deutſche Nationalität wiedergeboren habe und der Grundſtein ſei zu einem
künftigen Deutſchland“. Auf Gersdorffs Rath entſchloß ſich der Groß-
herzog die Verfaſſungsarbeit unverzüglich in Angriff zu nehmen.

Im April 1816 traten die alten Stände mit einigen Abgeordneten der
neu erworbenen Landestheile zu einem Landtage zuſammen; ſchon am
5. Mai wurde das neue, von dem Jenenſer Profeſſor Schweitzer redigirte
Grundgeſetz unterzeichnet, und der Präſident des Landtags feierte in herz-
licher Dankrede die beſte Tugend des deutſchen Kleinfürſtenſtandes: „noch
immer fanden wir in dieſem hohen Hauſe das altfürſtliche Gemüth, das Jedem
wohl will, auch den Geringſten nicht unwerth achtet.“ Die liberale Preſſe
frohlockte und erging ſich in behaglichem Selbſtlobe: wenn der fürſtliche
Freund Schillers und Goethes als der Bahnbrecher verfaſſungsmäßiger Frei-
heit auftrat, dann war doch ſonnenklar erwieſen, daß nur rohe Naturen der
conſtitutionellen Heilswahrheit widerſteben konnten. Ein Jahr nachher tagte
der erſte conſtitutionelle Landtag der deutſchen Geſchichte in einem der drei
Dornburger Schlöſſer, die von ſteiler Felswand über Rebenhänge und Gar-
tenterraſſen auf das maleriſche Saalethal herabſchauen. Hier in der länd-
lichen Stille, wo Goethe ſo oft das Glück der Dichtereinſamkeit geſucht hatte,
ſpielte ſich die erſte parlamentariſche Idylle der Kleinſtaaterei gemüthlich ab.
Der Großherzog hatte mit glücklichem Takt zwiſchen dem alten Stände-
weſen und dem neuen Repräſentativſyſteme einen Mittelweg eingeſchlagen
und der Ritterſchaft, den Städten, den Landgemeinden beſondere Vertreter

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[405/0419] Die Weimariſche Verfaſſung. Kopfe ferner als die Selbſtüberhebung der Kleinſtaaterei. Selbſt die Hul- digungen der erſten Dichter der Epoche hatten einſt ſeinen ruhigen Stolz nicht zur Eitelkeit verführt; wie ſollte er jetzt ſich bethören laſſen von den überſchwänglichen Lobſprüchen der liberalen Zeitungen, welche ſein Weimar als die Wiege deutſcher Kunſt und Freiheit zugleich feierten? Schlicht und recht, aus Pflichtgefühl und ehrlichem Vertrauen gewährte er ſeinem Völk- chen was er für unvermeidlich hielt. In ſein Staatsminiſterium hatte er eine ganze Reihe tüchtiger Männer berufen, faſt zu viel Talente für den kleinen Staat. Da ſaß neben Goethes Stuhl, der ſchon ſeit Jahren leer blieb, des Dichters Freund, der alte Voigt, ein edler, fein gebildeter Mann, der gleich ſeinem Freunde die Fremdherrſchaft lange als eine unentrinnbare Nothwendigkeit betrachtet hatte, jetzt aber, glücklicher als jener, ſich hoffnungsvoll der neuen Frei- heit freute; dann Fritſch, ſchon der Dritte aus der langen Reihe treff- licher Geſchäftsmänner, welche dieſe Leipziger Juriſtenfamilie in den Dienſt der ſächſiſchen Häuſer ſtellte, auch er ein Stück Poet, wohl angeſehen in der literariſchen Welt; dann der neuberufene geiſtreiche Deutſch-Ruſſe Graf Edling; endlich der beſte politiſche Kopf unter Allen, der Lauſitzer Gersdorff, der ſchon auf dem Wiener Congreſſe immer an Humboldts Seite geſtanden hatte und dann während einer langen politiſchen Lauf- bahn keinen Augenblick irre ward an dem Glauben, daß „Preußen die deutſche Nationalität wiedergeboren habe und der Grundſtein ſei zu einem künftigen Deutſchland“. Auf Gersdorffs Rath entſchloß ſich der Groß- herzog die Verfaſſungsarbeit unverzüglich in Angriff zu nehmen. Im April 1816 traten die alten Stände mit einigen Abgeordneten der neu erworbenen Landestheile zu einem Landtage zuſammen; ſchon am 5. Mai wurde das neue, von dem Jenenſer Profeſſor Schweitzer redigirte Grundgeſetz unterzeichnet, und der Präſident des Landtags feierte in herz- licher Dankrede die beſte Tugend des deutſchen Kleinfürſtenſtandes: „noch immer fanden wir in dieſem hohen Hauſe das altfürſtliche Gemüth, das Jedem wohl will, auch den Geringſten nicht unwerth achtet.“ Die liberale Preſſe frohlockte und erging ſich in behaglichem Selbſtlobe: wenn der fürſtliche Freund Schillers und Goethes als der Bahnbrecher verfaſſungsmäßiger Frei- heit auftrat, dann war doch ſonnenklar erwieſen, daß nur rohe Naturen der conſtitutionellen Heilswahrheit widerſteben konnten. Ein Jahr nachher tagte der erſte conſtitutionelle Landtag der deutſchen Geſchichte in einem der drei Dornburger Schlöſſer, die von ſteiler Felswand über Rebenhänge und Gar- tenterraſſen auf das maleriſche Saalethal herabſchauen. Hier in der länd- lichen Stille, wo Goethe ſo oft das Glück der Dichtereinſamkeit geſucht hatte, ſpielte ſich die erſte parlamentariſche Idylle der Kleinſtaaterei gemüthlich ab. Der Großherzog hatte mit glücklichem Takt zwiſchen dem alten Stände- weſen und dem neuen Repräſentativſyſteme einen Mittelweg eingeſchlagen und der Ritterſchaft, den Städten, den Landgemeinden beſondere Vertreter

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/419>, abgerufen am 22.11.2024.