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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Isis und Nemesis.
der politische Text zuweilen fast so bunt aussah wie die Kupfertafeln mit
den Bildern der Quallen und Knorpelfische daneben. Aus den politischen
Aufsätzen sprach ein schrullenhafter Radikalismus und zugleich ein naiver
Gelehrtendünkel: die Weimarische Verfassung verdiente gar nicht den
Namen einer Verfassung, weil sie von den dreiundzwanzig unentbehrlichen
Grundrechten jeder wahren Charte nur ein einziges, die Preßfreiheit ge-
währte und -- weil sie den Nährstand, die dummen "von den Pandek-
tenhengsten gereitelten" Bürger und Bauern, so unbillig vor dem Wehr-
und Lehrstande, dem Adel und den Professoren, bevorzugte! Kein einziger
politischer Artikel in diesem ungeheuerlichen Gepolter, der die Leser belehrt
oder ihren Willen auf ein bestimmtes Ziel gerichtet hätte. Immer nur
fanatische Anklagen gegen die Fürsten und Diplomaten, welche unser "Ge-
sammtvolk zu einem Provinzialvölkleins-Schober gemacht" haben; immer
nur Hohn über die unverbesserliche Faulheit des lebenden Geschlechts:
"nur von der Jugend ist noch etwas zu erwarten."

Das beste publicistische Talent in diesem Kreise war der Kurländer
Lindner, der das Oppositionsblatt mit Gewandtheit leitete und die poli-
tische Arbeit als ernsten Lebensberuf betrieb. Aber grade in seinen Auf-
sätzen bekundete sich am deutlichsten jene politische Thorheit, welche den
deutschen Liberalismus nunmehr von einem Fehler zum andern treiben
sollte: die schnöde Undankbarkeit gegen Preußen. Es ist nicht wahr, was
die Parteihistoriker erzählen, daß die Verunglimpfung des preußischen
Staats erst seit der Demagogenverfolgung im liberalen Lager üblich ge-
worden sei. Sogleich nach dem Frieden, als der Degen von Belle-Alliance
kaum erst wieder in die Scheide fuhr, setzten diese Kleinen den Staat, dem
sie ihre Freiheit, ihr Alles dankten, auf die Anklagebank und überschütteten
ihn mit Vorwürfen, in einem Augenblicke, da er durch sein Wehrgesetz
und sein Zollgesetz den festen Grund legte für die Einheit des Vaterlandes.

Luden hatte bereits in dem Handbuche der Staatsweisheit die preußische
Monarchie immer als abschreckendes Beispiel aufgeführt und mit dem be-
kannten Freiheitsdünkel des englischen Hannoveraners über den Militär-
staat abgeurtheilt. Jetzt brachte seine Nemesis Gedichte zum Preise des
Hauses Wittelsbach und Artikel zur Vertheidigung der sächsischen Politik
von 1813; für Preußen hatte sie nur Tadel und eine prahlerische Ge-
ringschätzung, die in jedem anderen Volke allgemeines Gelächter erregt
hätte: vor den Musen in Thüringen, meinte sie stolz, haben die Musen
der Mark niemals bestehen mögen, nun wollen wir doch sehen, ob die
preußische Politik ebenso Großes leistet wie die thüringische! Darum ward
auch der ehrliche Liberale Benzenberg als der Finsterling unter den deut-
schen Publicisten verlästert; man konnte ihm nicht verzeihen, daß er ein
treuer Preuße war und über die Gesetze dieses Staates, welche der Je-
nenser Professor niemals eines Blickes würdigte, mit Sachkenntniß schrieb.
Nun gar Oken, ein Vorderösterreicher aus der Ortenau, betrachtete die

Iſis und Nemeſis.
der politiſche Text zuweilen faſt ſo bunt ausſah wie die Kupfertafeln mit
den Bildern der Quallen und Knorpelfiſche daneben. Aus den politiſchen
Aufſätzen ſprach ein ſchrullenhafter Radikalismus und zugleich ein naiver
Gelehrtendünkel: die Weimariſche Verfaſſung verdiente gar nicht den
Namen einer Verfaſſung, weil ſie von den dreiundzwanzig unentbehrlichen
Grundrechten jeder wahren Charte nur ein einziges, die Preßfreiheit ge-
währte und — weil ſie den Nährſtand, die dummen „von den Pandek-
tenhengſten gereitelten“ Bürger und Bauern, ſo unbillig vor dem Wehr-
und Lehrſtande, dem Adel und den Profeſſoren, bevorzugte! Kein einziger
politiſcher Artikel in dieſem ungeheuerlichen Gepolter, der die Leſer belehrt
oder ihren Willen auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet hätte. Immer nur
fanatiſche Anklagen gegen die Fürſten und Diplomaten, welche unſer „Ge-
ſammtvolk zu einem Provinzialvölkleins-Schober gemacht“ haben; immer
nur Hohn über die unverbeſſerliche Faulheit des lebenden Geſchlechts:
„nur von der Jugend iſt noch etwas zu erwarten.“

Das beſte publiciſtiſche Talent in dieſem Kreiſe war der Kurländer
Lindner, der das Oppoſitionsblatt mit Gewandtheit leitete und die poli-
tiſche Arbeit als ernſten Lebensberuf betrieb. Aber grade in ſeinen Auf-
ſätzen bekundete ſich am deutlichſten jene politiſche Thorheit, welche den
deutſchen Liberalismus nunmehr von einem Fehler zum andern treiben
ſollte: die ſchnöde Undankbarkeit gegen Preußen. Es iſt nicht wahr, was
die Parteihiſtoriker erzählen, daß die Verunglimpfung des preußiſchen
Staats erſt ſeit der Demagogenverfolgung im liberalen Lager üblich ge-
worden ſei. Sogleich nach dem Frieden, als der Degen von Belle-Alliance
kaum erſt wieder in die Scheide fuhr, ſetzten dieſe Kleinen den Staat, dem
ſie ihre Freiheit, ihr Alles dankten, auf die Anklagebank und überſchütteten
ihn mit Vorwürfen, in einem Augenblicke, da er durch ſein Wehrgeſetz
und ſein Zollgeſetz den feſten Grund legte für die Einheit des Vaterlandes.

Luden hatte bereits in dem Handbuche der Staatsweisheit die preußiſche
Monarchie immer als abſchreckendes Beiſpiel aufgeführt und mit dem be-
kannten Freiheitsdünkel des engliſchen Hannoveraners über den Militär-
ſtaat abgeurtheilt. Jetzt brachte ſeine Nemeſis Gedichte zum Preiſe des
Hauſes Wittelsbach und Artikel zur Vertheidigung der ſächſiſchen Politik
von 1813; für Preußen hatte ſie nur Tadel und eine prahleriſche Ge-
ringſchätzung, die in jedem anderen Volke allgemeines Gelächter erregt
hätte: vor den Muſen in Thüringen, meinte ſie ſtolz, haben die Muſen
der Mark niemals beſtehen mögen, nun wollen wir doch ſehen, ob die
preußiſche Politik ebenſo Großes leiſtet wie die thüringiſche! Darum ward
auch der ehrliche Liberale Benzenberg als der Finſterling unter den deut-
ſchen Publiciſten verläſtert; man konnte ihm nicht verzeihen, daß er ein
treuer Preuße war und über die Geſetze dieſes Staates, welche der Je-
nenſer Profeſſor niemals eines Blickes würdigte, mit Sachkenntniß ſchrieb.
Nun gar Oken, ein Vorderöſterreicher aus der Ortenau, betrachtete die

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[409/0423] Iſis und Nemeſis. der politiſche Text zuweilen faſt ſo bunt ausſah wie die Kupfertafeln mit den Bildern der Quallen und Knorpelfiſche daneben. Aus den politiſchen Aufſätzen ſprach ein ſchrullenhafter Radikalismus und zugleich ein naiver Gelehrtendünkel: die Weimariſche Verfaſſung verdiente gar nicht den Namen einer Verfaſſung, weil ſie von den dreiundzwanzig unentbehrlichen Grundrechten jeder wahren Charte nur ein einziges, die Preßfreiheit ge- währte und — weil ſie den Nährſtand, die dummen „von den Pandek- tenhengſten gereitelten“ Bürger und Bauern, ſo unbillig vor dem Wehr- und Lehrſtande, dem Adel und den Profeſſoren, bevorzugte! Kein einziger politiſcher Artikel in dieſem ungeheuerlichen Gepolter, der die Leſer belehrt oder ihren Willen auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet hätte. Immer nur fanatiſche Anklagen gegen die Fürſten und Diplomaten, welche unſer „Ge- ſammtvolk zu einem Provinzialvölkleins-Schober gemacht“ haben; immer nur Hohn über die unverbeſſerliche Faulheit des lebenden Geſchlechts: „nur von der Jugend iſt noch etwas zu erwarten.“ Das beſte publiciſtiſche Talent in dieſem Kreiſe war der Kurländer Lindner, der das Oppoſitionsblatt mit Gewandtheit leitete und die poli- tiſche Arbeit als ernſten Lebensberuf betrieb. Aber grade in ſeinen Auf- ſätzen bekundete ſich am deutlichſten jene politiſche Thorheit, welche den deutſchen Liberalismus nunmehr von einem Fehler zum andern treiben ſollte: die ſchnöde Undankbarkeit gegen Preußen. Es iſt nicht wahr, was die Parteihiſtoriker erzählen, daß die Verunglimpfung des preußiſchen Staats erſt ſeit der Demagogenverfolgung im liberalen Lager üblich ge- worden ſei. Sogleich nach dem Frieden, als der Degen von Belle-Alliance kaum erſt wieder in die Scheide fuhr, ſetzten dieſe Kleinen den Staat, dem ſie ihre Freiheit, ihr Alles dankten, auf die Anklagebank und überſchütteten ihn mit Vorwürfen, in einem Augenblicke, da er durch ſein Wehrgeſetz und ſein Zollgeſetz den feſten Grund legte für die Einheit des Vaterlandes. Luden hatte bereits in dem Handbuche der Staatsweisheit die preußiſche Monarchie immer als abſchreckendes Beiſpiel aufgeführt und mit dem be- kannten Freiheitsdünkel des engliſchen Hannoveraners über den Militär- ſtaat abgeurtheilt. Jetzt brachte ſeine Nemeſis Gedichte zum Preiſe des Hauſes Wittelsbach und Artikel zur Vertheidigung der ſächſiſchen Politik von 1813; für Preußen hatte ſie nur Tadel und eine prahleriſche Ge- ringſchätzung, die in jedem anderen Volke allgemeines Gelächter erregt hätte: vor den Muſen in Thüringen, meinte ſie ſtolz, haben die Muſen der Mark niemals beſtehen mögen, nun wollen wir doch ſehen, ob die preußiſche Politik ebenſo Großes leiſtet wie die thüringiſche! Darum ward auch der ehrliche Liberale Benzenberg als der Finſterling unter den deut- ſchen Publiciſten verläſtert; man konnte ihm nicht verzeihen, daß er ein treuer Preuße war und über die Geſetze dieſes Staates, welche der Je- nenſer Profeſſor niemals eines Blickes würdigte, mit Sachkenntniß ſchrieb. Nun gar Oken, ein Vorderöſterreicher aus der Ortenau, betrachtete die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/423>, abgerufen am 22.11.2024.