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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 8. Der Aachener Congreß.
Adler nach einem halben Jahrhundert wiedersehen sollte. In den Tuilerien
zeigte der Czar wieder seine schauspielerischen Künste; er blieb nur einen
Tag und hielt, sobald sein preußischer Freund ins Theater gefahren war,
mit König Ludwig eine lange feierliche Unterredung, wobei es an pathe-
tischen Worten und gönnerhaftem Wohlwollen nicht fehlte. Aber bindende
Zusagen gab er dem Könige nicht, und als er am 31. Oktober nach
Aachen zurückkehrte, fand er die Staatsmänner in einer Stimmung, welche
für Frankreich nichts Gutes verhieß.

Die soeben vollzogenen Ergänzungswahlen für die französischen Kam-
mern hatten keinem einzigen Ultraroyalisten ein Mandat gebracht, da-
gegen waren selbst in den Hochburgen der legitimistischen Partei, in der
Bretagne und der Vendee erklärte Demokraten wie Lafayette und Manuel
gewählt; und zudem die beunruhigenden Nachrichten von der Pariser Börse.
Frankreichs Zukunft erschien Allen unsicherer denn je, und mit Nachdruck
hob Metternich in einer Denkschrift vom 1. November hervor, daß dieses
Land sich noch immer nicht in der gleichen Lage befinde wie die übrigen
Mächte. Niemand wolle das ruhige und constitutionelle Frankreich be-
drohen; aber dieser Staat sei aus einer Revolution hervorgegangen und
von Parteien zerrissen; es bestehe zwischen den vier Mächten eine Ver-
pflichtung ihn zu beobachten, ob er wieder in revolutionäre Zuckungen
verfallen sollte, "eine Verpflichtung, welche gegen keinen anderen Staat
besteht"; deshalb könne Frankreich nicht in einen förmlichen Bund ein-
treten, zumal da es an einem casus foederis fehle, sondern nur zur
Theilnahme an den Berathungen der vier Mächte aufgefordert werden.
Diese Ansicht drang durch, obwohl Rußland einige mehr gegen die Form
als gegen die Sache gerichtete Einwendungen erhob*), und hierauf wurde
der Allerchristlichste König durch eine schmeichelhafte Note der vier Mächte
an Richelieu vom 4. Novbr. eingeladen, fortan seine Rathschläge mit den
ihrigen zu vereinigen. Am 12. erklärte der französische Minister in einer
Antwortsnote die lebhafte Dankbarkeit seines Königs für diesen neuen
Beweis von Vertrauen und Freundschaft und versprach, daß Frankreich
sich "mit der ihm eigenthümlichen Ehrlichkeit" an die Union der Mächte
anschließen werde.

Am 15. unterzeichneten sodann die nunmehr vereinigten fünf Mächte
ein Protokoll, worin sie den Beitritt Frankreichs zu dem Systeme des
allgemeinen Friedens feierlich aussprachen und zugleich sich verpflichteten,
von Zeit zu Zeit, nach Vereinbarung, persönliche Zusammenkünfte zur
gemeinsamen Berathung ihrer Angelegenheiten zu halten; sollten auf
diesen Zusammenkünften die Interessen anderer Mächte zur Verhandlung

*) Protokoll der 22. Sitzung vom 4. Nov. Metternichs Apercu de la situation,
1. Nov. 1818. Das in Metternichs nachgelassenen Papieren III. 161 abgedruckte Akten-
stück ist nur das erste Concept dieser nachher noch stark umgearbeiteten Denkschrift.

II. 8. Der Aachener Congreß.
Adler nach einem halben Jahrhundert wiederſehen ſollte. In den Tuilerien
zeigte der Czar wieder ſeine ſchauſpieleriſchen Künſte; er blieb nur einen
Tag und hielt, ſobald ſein preußiſcher Freund ins Theater gefahren war,
mit König Ludwig eine lange feierliche Unterredung, wobei es an pathe-
tiſchen Worten und gönnerhaftem Wohlwollen nicht fehlte. Aber bindende
Zuſagen gab er dem Könige nicht, und als er am 31. Oktober nach
Aachen zurückkehrte, fand er die Staatsmänner in einer Stimmung, welche
für Frankreich nichts Gutes verhieß.

Die ſoeben vollzogenen Ergänzungswahlen für die franzöſiſchen Kam-
mern hatten keinem einzigen Ultraroyaliſten ein Mandat gebracht, da-
gegen waren ſelbſt in den Hochburgen der legitimiſtiſchen Partei, in der
Bretagne und der Vendee erklärte Demokraten wie Lafayette und Manuel
gewählt; und zudem die beunruhigenden Nachrichten von der Pariſer Börſe.
Frankreichs Zukunft erſchien Allen unſicherer denn je, und mit Nachdruck
hob Metternich in einer Denkſchrift vom 1. November hervor, daß dieſes
Land ſich noch immer nicht in der gleichen Lage befinde wie die übrigen
Mächte. Niemand wolle das ruhige und conſtitutionelle Frankreich be-
drohen; aber dieſer Staat ſei aus einer Revolution hervorgegangen und
von Parteien zerriſſen; es beſtehe zwiſchen den vier Mächten eine Ver-
pflichtung ihn zu beobachten, ob er wieder in revolutionäre Zuckungen
verfallen ſollte, „eine Verpflichtung, welche gegen keinen anderen Staat
beſteht“; deshalb könne Frankreich nicht in einen förmlichen Bund ein-
treten, zumal da es an einem casus foederis fehle, ſondern nur zur
Theilnahme an den Berathungen der vier Mächte aufgefordert werden.
Dieſe Anſicht drang durch, obwohl Rußland einige mehr gegen die Form
als gegen die Sache gerichtete Einwendungen erhob*), und hierauf wurde
der Allerchriſtlichſte König durch eine ſchmeichelhafte Note der vier Mächte
an Richelieu vom 4. Novbr. eingeladen, fortan ſeine Rathſchläge mit den
ihrigen zu vereinigen. Am 12. erklärte der franzöſiſche Miniſter in einer
Antwortsnote die lebhafte Dankbarkeit ſeines Königs für dieſen neuen
Beweis von Vertrauen und Freundſchaft und verſprach, daß Frankreich
ſich „mit der ihm eigenthümlichen Ehrlichkeit“ an die Union der Mächte
anſchließen werde.

Am 15. unterzeichneten ſodann die nunmehr vereinigten fünf Mächte
ein Protokoll, worin ſie den Beitritt Frankreichs zu dem Syſteme des
allgemeinen Friedens feierlich ausſprachen und zugleich ſich verpflichteten,
von Zeit zu Zeit, nach Vereinbarung, perſönliche Zuſammenkünfte zur
gemeinſamen Berathung ihrer Angelegenheiten zu halten; ſollten auf
dieſen Zuſammenkünften die Intereſſen anderer Mächte zur Verhandlung

*) Protokoll der 22. Sitzung vom 4. Nov. Metternichs Aperçu de la situation,
1. Nov. 1818. Das in Metternichs nachgelaſſenen Papieren III. 161 abgedruckte Akten-
ſtück iſt nur das erſte Concept dieſer nachher noch ſtark umgearbeiteten Denkſchrift.
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[470/0484] II. 8. Der Aachener Congreß. Adler nach einem halben Jahrhundert wiederſehen ſollte. In den Tuilerien zeigte der Czar wieder ſeine ſchauſpieleriſchen Künſte; er blieb nur einen Tag und hielt, ſobald ſein preußiſcher Freund ins Theater gefahren war, mit König Ludwig eine lange feierliche Unterredung, wobei es an pathe- tiſchen Worten und gönnerhaftem Wohlwollen nicht fehlte. Aber bindende Zuſagen gab er dem Könige nicht, und als er am 31. Oktober nach Aachen zurückkehrte, fand er die Staatsmänner in einer Stimmung, welche für Frankreich nichts Gutes verhieß. Die ſoeben vollzogenen Ergänzungswahlen für die franzöſiſchen Kam- mern hatten keinem einzigen Ultraroyaliſten ein Mandat gebracht, da- gegen waren ſelbſt in den Hochburgen der legitimiſtiſchen Partei, in der Bretagne und der Vendee erklärte Demokraten wie Lafayette und Manuel gewählt; und zudem die beunruhigenden Nachrichten von der Pariſer Börſe. Frankreichs Zukunft erſchien Allen unſicherer denn je, und mit Nachdruck hob Metternich in einer Denkſchrift vom 1. November hervor, daß dieſes Land ſich noch immer nicht in der gleichen Lage befinde wie die übrigen Mächte. Niemand wolle das ruhige und conſtitutionelle Frankreich be- drohen; aber dieſer Staat ſei aus einer Revolution hervorgegangen und von Parteien zerriſſen; es beſtehe zwiſchen den vier Mächten eine Ver- pflichtung ihn zu beobachten, ob er wieder in revolutionäre Zuckungen verfallen ſollte, „eine Verpflichtung, welche gegen keinen anderen Staat beſteht“; deshalb könne Frankreich nicht in einen förmlichen Bund ein- treten, zumal da es an einem casus foederis fehle, ſondern nur zur Theilnahme an den Berathungen der vier Mächte aufgefordert werden. Dieſe Anſicht drang durch, obwohl Rußland einige mehr gegen die Form als gegen die Sache gerichtete Einwendungen erhob *), und hierauf wurde der Allerchriſtlichſte König durch eine ſchmeichelhafte Note der vier Mächte an Richelieu vom 4. Novbr. eingeladen, fortan ſeine Rathſchläge mit den ihrigen zu vereinigen. Am 12. erklärte der franzöſiſche Miniſter in einer Antwortsnote die lebhafte Dankbarkeit ſeines Königs für dieſen neuen Beweis von Vertrauen und Freundſchaft und verſprach, daß Frankreich ſich „mit der ihm eigenthümlichen Ehrlichkeit“ an die Union der Mächte anſchließen werde. Am 15. unterzeichneten ſodann die nunmehr vereinigten fünf Mächte ein Protokoll, worin ſie den Beitritt Frankreichs zu dem Syſteme des allgemeinen Friedens feierlich ausſprachen und zugleich ſich verpflichteten, von Zeit zu Zeit, nach Vereinbarung, perſönliche Zuſammenkünfte zur gemeinſamen Berathung ihrer Angelegenheiten zu halten; ſollten auf dieſen Zuſammenkünften die Intereſſen anderer Mächte zur Verhandlung *) Protokoll der 22. Sitzung vom 4. Nov. Metternichs Aperçu de la situation, 1. Nov. 1818. Das in Metternichs nachgelaſſenen Papieren III. 161 abgedruckte Akten- ſtück iſt nur das erſte Concept dieſer nachher noch ſtark umgearbeiteten Denkſchrift.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/484>, abgerufen am 22.11.2024.