gart, die Russen binnen drei Monaten um Mainz versammelt sein. Von den belgischen Festungen besetzt England die westlichen, Ostende, Ypern und einige der Scheldeplätze, Preußen die Plätze an der Maas und Sambre, Namur, Charleroi, Marienburg u. s. w. Die kleinen deutschen Contingente dachte man wieder wie im Jahre 1815 nach der geographi- schen Lage unter die verschiedenen Armeen zu vertheilen, da ein Bundes- heer noch immer nicht bestand. Dies Protokoll ward genehmigt, und dann mußte Wellington auf Preußens Andringen auch noch die Zustimmung des Königs der Niederlande einholen.*)
Den preußischen Generalen war mit Alledem noch nicht genug ge- schehen. Sie täuschten sich nicht über die vollkommene Unbrauchbarkeit des gerühmten niederländischen "Polsterkissens", das nach der Absicht des Wiener Congresses den ersten Stoß der französischen Heere auffangen sollte; sie kannten den kläglichen Zustand der niederländischen Armee und wußten, daß sie nicht ausreichte, um auch nur die Hälfte von jenen fünfzig Festungen und Forts zu bewachen, welche Wellington soeben mit Hilfe der französischen Contributionsgelder an der belgischen Grenze aus- bauen ließ. Preußen beabsichtigte daher als der zunächst bedrohte Nach- barstaat am Niederrhein ein stehendes Observationscorps aufzustellen, das gegebenen Falls noch vor der Kriegserklärung gradeswegs in Belgien ein- rücken sollte. Um mit dem niederländischen Hofe das Nähere zu ver- abreden, wurde General Müffling von Aachen aus nach Brüssel gesendet; aber eine solche Schmälerung seiner Souveränität wollte König Wilhelm schlechterdings nicht zugeben. Schon seit Jahren hatte der Oranier, der seinen Thron den Waffen der Verbündeten verdankte, seine Vorliebe für Frankreich, seinen Haß gegen Preußen deutlich bekundet. Jetzt grollte er, weil König Friedrich Wilhelm ihn nicht von Aachen aus besucht hatte, und mehr noch weil Preußen, den Verträgen gemäß, den Oberbefehl in der Bundesfestung Luxemburg beanspruchte; und als der preußische Unterhändler nun gar auf die schwierige Stimmung der Belgier warnend hinwies, da fühlte sich der Brüsseler Hof tief beleidigt. Er wollte nichts wissen von dem furchtbaren, täglich wachsenden Grolle der katholischen Belgier wider die holländischen Ketzer und sah sich in seinem verblendeten Hochmuth bestärkt durch den englischen Gesandten Lord Clancarty, der dies künstliche Königreich, dies Meisterwerk englischer Staatsweisheit nicht genug bewundern konnte. Der Hochtory fand die Zustände in Belgien ganz vortrefflich und rieth dem Berliner Hofe mit englischer Bescheiden- heit: möge nur Preußen dem guten Beispiel, das die Holländer in Bel- gien geben, folgen und seine neuen Provinzen ebenso musterhaft regieren; dann wird für die preußischen Rheinlande nichts mehr zu fürchten sein!
*)Protocole militaire vom 15. November. Bernstorff an Lottum 9. November. Wolzogens Denkschrift 17. Okt. Boyens Denkschrift 15. Nov. 1818.
II. 8. Der Aachener Congreß.
gart, die Ruſſen binnen drei Monaten um Mainz verſammelt ſein. Von den belgiſchen Feſtungen beſetzt England die weſtlichen, Oſtende, Ypern und einige der Scheldeplätze, Preußen die Plätze an der Maas und Sambre, Namur, Charleroi, Marienburg u. ſ. w. Die kleinen deutſchen Contingente dachte man wieder wie im Jahre 1815 nach der geographi- ſchen Lage unter die verſchiedenen Armeen zu vertheilen, da ein Bundes- heer noch immer nicht beſtand. Dies Protokoll ward genehmigt, und dann mußte Wellington auf Preußens Andringen auch noch die Zuſtimmung des Königs der Niederlande einholen.*)
Den preußiſchen Generalen war mit Alledem noch nicht genug ge- ſchehen. Sie täuſchten ſich nicht über die vollkommene Unbrauchbarkeit des gerühmten niederländiſchen „Polſterkiſſens“, das nach der Abſicht des Wiener Congreſſes den erſten Stoß der franzöſiſchen Heere auffangen ſollte; ſie kannten den kläglichen Zuſtand der niederländiſchen Armee und wußten, daß ſie nicht ausreichte, um auch nur die Hälfte von jenen fünfzig Feſtungen und Forts zu bewachen, welche Wellington ſoeben mit Hilfe der franzöſiſchen Contributionsgelder an der belgiſchen Grenze aus- bauen ließ. Preußen beabſichtigte daher als der zunächſt bedrohte Nach- barſtaat am Niederrhein ein ſtehendes Obſervationscorps aufzuſtellen, das gegebenen Falls noch vor der Kriegserklärung gradeswegs in Belgien ein- rücken ſollte. Um mit dem niederländiſchen Hofe das Nähere zu ver- abreden, wurde General Müffling von Aachen aus nach Brüſſel geſendet; aber eine ſolche Schmälerung ſeiner Souveränität wollte König Wilhelm ſchlechterdings nicht zugeben. Schon ſeit Jahren hatte der Oranier, der ſeinen Thron den Waffen der Verbündeten verdankte, ſeine Vorliebe für Frankreich, ſeinen Haß gegen Preußen deutlich bekundet. Jetzt grollte er, weil König Friedrich Wilhelm ihn nicht von Aachen aus beſucht hatte, und mehr noch weil Preußen, den Verträgen gemäß, den Oberbefehl in der Bundesfeſtung Luxemburg beanſpruchte; und als der preußiſche Unterhändler nun gar auf die ſchwierige Stimmung der Belgier warnend hinwies, da fühlte ſich der Brüſſeler Hof tief beleidigt. Er wollte nichts wiſſen von dem furchtbaren, täglich wachſenden Grolle der katholiſchen Belgier wider die holländiſchen Ketzer und ſah ſich in ſeinem verblendeten Hochmuth beſtärkt durch den engliſchen Geſandten Lord Clancarty, der dies künſtliche Königreich, dies Meiſterwerk engliſcher Staatsweisheit nicht genug bewundern konnte. Der Hochtory fand die Zuſtände in Belgien ganz vortrefflich und rieth dem Berliner Hofe mit engliſcher Beſcheiden- heit: möge nur Preußen dem guten Beiſpiel, das die Holländer in Bel- gien geben, folgen und ſeine neuen Provinzen ebenſo muſterhaft regieren; dann wird für die preußiſchen Rheinlande nichts mehr zu fürchten ſein!
*)Protocole militaire vom 15. November. Bernſtorff an Lottum 9. November. Wolzogens Denkſchrift 17. Okt. Boyens Denkſchrift 15. Nov. 1818.
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II. 8. Der Aachener Congreß.
gart, die Ruſſen binnen drei Monaten um Mainz verſammelt ſein. Von
den belgiſchen Feſtungen beſetzt England die weſtlichen, Oſtende, Ypern
und einige der Scheldeplätze, Preußen die Plätze an der Maas und
Sambre, Namur, Charleroi, Marienburg u. ſ. w. Die kleinen deutſchen
Contingente dachte man wieder wie im Jahre 1815 nach der geographi-
ſchen Lage unter die verſchiedenen Armeen zu vertheilen, da ein Bundes-
heer noch immer nicht beſtand. Dies Protokoll ward genehmigt, und dann
mußte Wellington auf Preußens Andringen auch noch die Zuſtimmung
des Königs der Niederlande einholen. *)
Den preußiſchen Generalen war mit Alledem noch nicht genug ge-
ſchehen. Sie täuſchten ſich nicht über die vollkommene Unbrauchbarkeit des
gerühmten niederländiſchen „Polſterkiſſens“, das nach der Abſicht des
Wiener Congreſſes den erſten Stoß der franzöſiſchen Heere auffangen
ſollte; ſie kannten den kläglichen Zuſtand der niederländiſchen Armee und
wußten, daß ſie nicht ausreichte, um auch nur die Hälfte von jenen
fünfzig Feſtungen und Forts zu bewachen, welche Wellington ſoeben mit
Hilfe der franzöſiſchen Contributionsgelder an der belgiſchen Grenze aus-
bauen ließ. Preußen beabſichtigte daher als der zunächſt bedrohte Nach-
barſtaat am Niederrhein ein ſtehendes Obſervationscorps aufzuſtellen, das
gegebenen Falls noch vor der Kriegserklärung gradeswegs in Belgien ein-
rücken ſollte. Um mit dem niederländiſchen Hofe das Nähere zu ver-
abreden, wurde General Müffling von Aachen aus nach Brüſſel geſendet;
aber eine ſolche Schmälerung ſeiner Souveränität wollte König Wilhelm
ſchlechterdings nicht zugeben. Schon ſeit Jahren hatte der Oranier, der
ſeinen Thron den Waffen der Verbündeten verdankte, ſeine Vorliebe für
Frankreich, ſeinen Haß gegen Preußen deutlich bekundet. Jetzt grollte er,
weil König Friedrich Wilhelm ihn nicht von Aachen aus beſucht hatte,
und mehr noch weil Preußen, den Verträgen gemäß, den Oberbefehl
in der Bundesfeſtung Luxemburg beanſpruchte; und als der preußiſche
Unterhändler nun gar auf die ſchwierige Stimmung der Belgier warnend
hinwies, da fühlte ſich der Brüſſeler Hof tief beleidigt. Er wollte nichts
wiſſen von dem furchtbaren, täglich wachſenden Grolle der katholiſchen
Belgier wider die holländiſchen Ketzer und ſah ſich in ſeinem verblendeten
Hochmuth beſtärkt durch den engliſchen Geſandten Lord Clancarty, der dies
künſtliche Königreich, dies Meiſterwerk engliſcher Staatsweisheit nicht
genug bewundern konnte. Der Hochtory fand die Zuſtände in Belgien
ganz vortrefflich und rieth dem Berliner Hofe mit engliſcher Beſcheiden-
heit: möge nur Preußen dem guten Beiſpiel, das die Holländer in Bel-
gien geben, folgen und ſeine neuen Provinzen ebenſo muſterhaft regieren;
dann wird für die preußiſchen Rheinlande nichts mehr zu fürchten ſein!
*) Protocole militaire vom 15. November. Bernſtorff an Lottum 9. November.
Wolzogens Denkſchrift 17. Okt. Boyens Denkſchrift 15. Nov. 1818.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/486>, abgerufen am 22.11.2024.
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