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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Des Epimenides Erwachen.
die ihm in diesen stürmischen Jahren die Reinheit der Empfindung bewahrt
hatten. Freier, heiterer blickte Goethe fortan auf den Befreiungskrieg
zurück, und für das Standbild, das die Stände Mecklenburgs in Rostock
ihrem Blücher errichteten, schrieb er die Zeilen:

In Harren und Krieg,
In Sturz und Sieg
Bewußt und groß,
So riß er uns
Vom Feinde los!

Sobald die Waffen schwiegen machte er sich auf "zu des Rheins
gestreckten Hügeln, hochgesegneten Gebreiten". Zwei glückliche Sommer,
1814 und 1815 verbrachte er in den befreiten rheinischen Landen, die
ihn mit ihrem sonnenhellen Leben immer vor allen anderen deutschen
Gauen anheimelten. Das Herz ging ihm auf, da er überall den alten
rheinländischen Frohsinn, den freundnachbarlichen Verkehr zwischen den
beiden Ufern wiedererwachen sah, und droben auf dem Rochusberge bei
Bingen, wo die französischen Vorposten so lange ihren Lugaus gehalten,
das Volk wieder zum heiteren Kirchenfeste zusammenströmte. In den Blät-
tern, die er zum Gedächtniß dieser frohen Tage schrieb, erschien der Greis
wieder ganz so lebensfroh und weinselig wie einst der Straßburger Stu-
dent. Auch die Forschungen jener Straßburger Zeit nahm er jetzt im
freundlichen Verkehre mit Bertram und den Gebrüdern Boisseree wieder
auf. Er freute sich an dem Kölner Dome, besuchte alle die alten Bau-
werke am Main und Rhein und verweilte lange in Heidelberg: dort stand
jetzt die altdeutsche Gemäldesammlung der Gebrüder Boisseree mit den
Dürerschen Aposteln und dem gewaltigen Bilde des heiligen Christophorus,
ein Wanderziel für alle jungen Teutonen, die Wiege unserer neuen Kunst-
forschung. Die Gestalten Dürers, "ihr festes Leben und Männlichkeit, ihre
innere Kraft und Ständigkeit" hatten den Dichter schon in seiner Jugend
mächtig angezogen; wie that es ihm wohl, jetzt auch an den Werken der
altniederländischen und der kölnischen Malerschule den Fleiß, die Bedeut-
samkeit, die Einfalt der deutschen Altvordern zu bewundern. Ach Kinder,
rief er aus, was sind wir dumm: wir bilden uns ein, unsere Großmütter
seien nicht auch schön gewesen! Auch der Nibelungen nahm er sich nach-
drücklich an, gegen Kotzebue und die anderen platten Gesellen, die über
die reckenhafte Großheit des germanischen Alterthums ihre Witze rissen.
Den Drillingsfreunden in Köln, den Boisserees und ihrem Genossen Ber-
tram, "die zum Vergangenen muthig sich kehren", sendete er zum An-
denken sein Bild mit freundlichen Versen. Die christlich-germanischen
Schwarmgeister frohlockten, nun sei dieser Berg zu Thal gekommen, nun
habe der alte Heidenkönig dem deutschen Festkinde, dem Kölner Dome
huldigen müssen; sie rechneten den Dichter bereits zu den Ihren und
hofften demnächst eine christliche Iphigenie erscheinen zu sehen.

Des Epimenides Erwachen.
die ihm in dieſen ſtürmiſchen Jahren die Reinheit der Empfindung bewahrt
hatten. Freier, heiterer blickte Goethe fortan auf den Befreiungskrieg
zurück, und für das Standbild, das die Stände Mecklenburgs in Roſtock
ihrem Blücher errichteten, ſchrieb er die Zeilen:

In Harren und Krieg,
In Sturz und Sieg
Bewußt und groß,
So riß er uns
Vom Feinde los!

Sobald die Waffen ſchwiegen machte er ſich auf „zu des Rheins
geſtreckten Hügeln, hochgeſegneten Gebreiten“. Zwei glückliche Sommer,
1814 und 1815 verbrachte er in den befreiten rheiniſchen Landen, die
ihn mit ihrem ſonnenhellen Leben immer vor allen anderen deutſchen
Gauen anheimelten. Das Herz ging ihm auf, da er überall den alten
rheinländiſchen Frohſinn, den freundnachbarlichen Verkehr zwiſchen den
beiden Ufern wiedererwachen ſah, und droben auf dem Rochusberge bei
Bingen, wo die franzöſiſchen Vorpoſten ſo lange ihren Lugaus gehalten,
das Volk wieder zum heiteren Kirchenfeſte zuſammenſtrömte. In den Blät-
tern, die er zum Gedächtniß dieſer frohen Tage ſchrieb, erſchien der Greis
wieder ganz ſo lebensfroh und weinſelig wie einſt der Straßburger Stu-
dent. Auch die Forſchungen jener Straßburger Zeit nahm er jetzt im
freundlichen Verkehre mit Bertram und den Gebrüdern Boiſſeree wieder
auf. Er freute ſich an dem Kölner Dome, beſuchte alle die alten Bau-
werke am Main und Rhein und verweilte lange in Heidelberg: dort ſtand
jetzt die altdeutſche Gemäldeſammlung der Gebrüder Boiſſeree mit den
Dürerſchen Apoſteln und dem gewaltigen Bilde des heiligen Chriſtophorus,
ein Wanderziel für alle jungen Teutonen, die Wiege unſerer neuen Kunſt-
forſchung. Die Geſtalten Dürers, „ihr feſtes Leben und Männlichkeit, ihre
innere Kraft und Ständigkeit“ hatten den Dichter ſchon in ſeiner Jugend
mächtig angezogen; wie that es ihm wohl, jetzt auch an den Werken der
altniederländiſchen und der kölniſchen Malerſchule den Fleiß, die Bedeut-
ſamkeit, die Einfalt der deutſchen Altvordern zu bewundern. Ach Kinder,
rief er aus, was ſind wir dumm: wir bilden uns ein, unſere Großmütter
ſeien nicht auch ſchön geweſen! Auch der Nibelungen nahm er ſich nach-
drücklich an, gegen Kotzebue und die anderen platten Geſellen, die über
die reckenhafte Großheit des germaniſchen Alterthums ihre Witze riſſen.
Den Drillingsfreunden in Köln, den Boiſſerees und ihrem Genoſſen Ber-
tram, „die zum Vergangenen muthig ſich kehren“, ſendete er zum An-
denken ſein Bild mit freundlichen Verſen. Die chriſtlich-germaniſchen
Schwarmgeiſter frohlockten, nun ſei dieſer Berg zu Thal gekommen, nun
habe der alte Heidenkönig dem deutſchen Feſtkinde, dem Kölner Dome
huldigen müſſen; ſie rechneten den Dichter bereits zu den Ihren und
hofften demnächſt eine chriſtliche Iphigenie erſcheinen zu ſehen.

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[37/0051] Des Epimenides Erwachen. die ihm in dieſen ſtürmiſchen Jahren die Reinheit der Empfindung bewahrt hatten. Freier, heiterer blickte Goethe fortan auf den Befreiungskrieg zurück, und für das Standbild, das die Stände Mecklenburgs in Roſtock ihrem Blücher errichteten, ſchrieb er die Zeilen: In Harren und Krieg, In Sturz und Sieg Bewußt und groß, So riß er uns Vom Feinde los! Sobald die Waffen ſchwiegen machte er ſich auf „zu des Rheins geſtreckten Hügeln, hochgeſegneten Gebreiten“. Zwei glückliche Sommer, 1814 und 1815 verbrachte er in den befreiten rheiniſchen Landen, die ihn mit ihrem ſonnenhellen Leben immer vor allen anderen deutſchen Gauen anheimelten. Das Herz ging ihm auf, da er überall den alten rheinländiſchen Frohſinn, den freundnachbarlichen Verkehr zwiſchen den beiden Ufern wiedererwachen ſah, und droben auf dem Rochusberge bei Bingen, wo die franzöſiſchen Vorpoſten ſo lange ihren Lugaus gehalten, das Volk wieder zum heiteren Kirchenfeſte zuſammenſtrömte. In den Blät- tern, die er zum Gedächtniß dieſer frohen Tage ſchrieb, erſchien der Greis wieder ganz ſo lebensfroh und weinſelig wie einſt der Straßburger Stu- dent. Auch die Forſchungen jener Straßburger Zeit nahm er jetzt im freundlichen Verkehre mit Bertram und den Gebrüdern Boiſſeree wieder auf. Er freute ſich an dem Kölner Dome, beſuchte alle die alten Bau- werke am Main und Rhein und verweilte lange in Heidelberg: dort ſtand jetzt die altdeutſche Gemäldeſammlung der Gebrüder Boiſſeree mit den Dürerſchen Apoſteln und dem gewaltigen Bilde des heiligen Chriſtophorus, ein Wanderziel für alle jungen Teutonen, die Wiege unſerer neuen Kunſt- forſchung. Die Geſtalten Dürers, „ihr feſtes Leben und Männlichkeit, ihre innere Kraft und Ständigkeit“ hatten den Dichter ſchon in ſeiner Jugend mächtig angezogen; wie that es ihm wohl, jetzt auch an den Werken der altniederländiſchen und der kölniſchen Malerſchule den Fleiß, die Bedeut- ſamkeit, die Einfalt der deutſchen Altvordern zu bewundern. Ach Kinder, rief er aus, was ſind wir dumm: wir bilden uns ein, unſere Großmütter ſeien nicht auch ſchön geweſen! Auch der Nibelungen nahm er ſich nach- drücklich an, gegen Kotzebue und die anderen platten Geſellen, die über die reckenhafte Großheit des germaniſchen Alterthums ihre Witze riſſen. Den Drillingsfreunden in Köln, den Boiſſerees und ihrem Genoſſen Ber- tram, „die zum Vergangenen muthig ſich kehren“, ſendete er zum An- denken ſein Bild mit freundlichen Verſen. Die chriſtlich-germaniſchen Schwarmgeiſter frohlockten, nun ſei dieſer Berg zu Thal gekommen, nun habe der alte Heidenkönig dem deutſchen Feſtkinde, dem Kölner Dome huldigen müſſen; ſie rechneten den Dichter bereits zu den Ihren und hofften demnächſt eine chriſtliche Iphigenie erſcheinen zu ſehen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/51>, abgerufen am 21.11.2024.