freiheit wurde versprochen, "jedoch unter Beobachtung der gegen die Mißbräuche bestehenden oder künftig zu erlassenden Gesetze." Erst aus schmerzlichen Erfahrungen sollte das Volk lernen, daß mit solchen hoch- tönenden Verheißungen allgemeiner "Grundrechte" in Wahrheit gar nichts gesagt, ja selbst die Censur nicht gradezu beseitigt war. Zum Ueberfluß bestimmte der Art. 3, daß alle organischen Beschlüsse des Bundestags, wie billig, auch für Württemberg gelten sollten.
Trotz alledem ließen sich's die Württemberger nicht nehmen, daß ihr Grundgesetz das freisinnigste Deutschlands sei. Die Verfassung stand, gleich der badischen, mitteninne zwischen dem altständischen und dem Re- präsentativsysteme, da mindestens die Abgeordneten der Oberämter in der zweiten Kammer das gesammte Volk, mit Ausnahme des Adels und der Geistlichkeit, vertraten; sie besaß überdies in dem stehenden Landtags- ausschusse eine eigenthümliche Institution, welche sich zwar praktisch wenig bewährte, aber den Tagesmeinungen als ein furchtbares Bollwerk der Volksrechte erschien. Das Volk hatte durch zahlreiche, namentlich gegen das Zweikammersystem gerichtete Petitionen seine Theilnahme an den Arbeiten des Landtags bewiesen. Die merkwürdigste dieser Bittschriften war eine Eingabe der allezeit gut deutsch gesinnten Reutlinger, welche -- zum ersten male in dieser stillen Zeit -- die Einberufung eines deutschen Parlaments forderte, weil "nur so alle deutsche Staaten sich einer wirklichen Repräsentativ-Verfassung erfreuen könnten." Unter stür- mischem Jubel beschwor der Monarch am 25. September die Verfassung; auch die Prägung der unvermeidlichen Denkmünze ward beschlossen, und als drei Tage nachher König und Landtag auf dem Canstatter Volks- feste erschienen, da brach die schwäbische Freiheitsbegeisterung in hellen Flammen aus. Was der Bevollmächtigte dieses volksfreundlichen Königs unterdessen in Carlsbad getrieben hatte, blieb dem arglosen Volke zum Glück verborgen.
Der nationalen Gesinnung des schwäbischen Landes brachte die seltsame Entstehungsgeschichte des neuen Grundgesetzes schweren Schaden. Die Verfassung war aus einem geheimen Kampfe gegen den deutschen Bund hervorgegangen; alle Reden der Volksvertreter liefen hinaus auf die Mahnung, daß man die schwäbische Freiheit gegen die Tyrannei des Bundes sichern müsse. Unter solchen Erlebnissen gewann der ohnehin überstarke Stammesstolz der Schwaben neue Kraft. Da in der deutschen Centralgewalt nur die Kronen, in den Einzelstaaten auch die Unterthanen vertreten waren, so schlug der junge Liberalismus fast überall eine par- tikularistische Richtung ein, und nirgends war dieser Sondergeist mäch- tiger als in Württemberg, wo sich von vornherein die Ansicht bildete: das halb gegen den Willen des Deutschen Bundes entstandene Grundgesetz stehe über dem Bunde. --
Die württembergiſche Verfaſſung.
freiheit wurde verſprochen, „jedoch unter Beobachtung der gegen die Mißbräuche beſtehenden oder künftig zu erlaſſenden Geſetze.“ Erſt aus ſchmerzlichen Erfahrungen ſollte das Volk lernen, daß mit ſolchen hoch- tönenden Verheißungen allgemeiner „Grundrechte“ in Wahrheit gar nichts geſagt, ja ſelbſt die Cenſur nicht gradezu beſeitigt war. Zum Ueberfluß beſtimmte der Art. 3, daß alle organiſchen Beſchlüſſe des Bundestags, wie billig, auch für Württemberg gelten ſollten.
Trotz alledem ließen ſich’s die Württemberger nicht nehmen, daß ihr Grundgeſetz das freiſinnigſte Deutſchlands ſei. Die Verfaſſung ſtand, gleich der badiſchen, mitteninne zwiſchen dem altſtändiſchen und dem Re- präſentativſyſteme, da mindeſtens die Abgeordneten der Oberämter in der zweiten Kammer das geſammte Volk, mit Ausnahme des Adels und der Geiſtlichkeit, vertraten; ſie beſaß überdies in dem ſtehenden Landtags- ausſchuſſe eine eigenthümliche Inſtitution, welche ſich zwar praktiſch wenig bewährte, aber den Tagesmeinungen als ein furchtbares Bollwerk der Volksrechte erſchien. Das Volk hatte durch zahlreiche, namentlich gegen das Zweikammerſyſtem gerichtete Petitionen ſeine Theilnahme an den Arbeiten des Landtags bewieſen. Die merkwürdigſte dieſer Bittſchriften war eine Eingabe der allezeit gut deutſch geſinnten Reutlinger, welche — zum erſten male in dieſer ſtillen Zeit — die Einberufung eines deutſchen Parlaments forderte, weil „nur ſo alle deutſche Staaten ſich einer wirklichen Repräſentativ-Verfaſſung erfreuen könnten.“ Unter ſtür- miſchem Jubel beſchwor der Monarch am 25. September die Verfaſſung; auch die Prägung der unvermeidlichen Denkmünze ward beſchloſſen, und als drei Tage nachher König und Landtag auf dem Canſtatter Volks- feſte erſchienen, da brach die ſchwäbiſche Freiheitsbegeiſterung in hellen Flammen aus. Was der Bevollmächtigte dieſes volksfreundlichen Königs unterdeſſen in Carlsbad getrieben hatte, blieb dem argloſen Volke zum Glück verborgen.
Der nationalen Geſinnung des ſchwäbiſchen Landes brachte die ſeltſame Entſtehungsgeſchichte des neuen Grundgeſetzes ſchweren Schaden. Die Verfaſſung war aus einem geheimen Kampfe gegen den deutſchen Bund hervorgegangen; alle Reden der Volksvertreter liefen hinaus auf die Mahnung, daß man die ſchwäbiſche Freiheit gegen die Tyrannei des Bundes ſichern müſſe. Unter ſolchen Erlebniſſen gewann der ohnehin überſtarke Stammesſtolz der Schwaben neue Kraft. Da in der deutſchen Centralgewalt nur die Kronen, in den Einzelſtaaten auch die Unterthanen vertreten waren, ſo ſchlug der junge Liberalismus faſt überall eine par- tikulariſtiſche Richtung ein, und nirgends war dieſer Sondergeiſt mäch- tiger als in Württemberg, wo ſich von vornherein die Anſicht bildete: das halb gegen den Willen des Deutſchen Bundes entſtandene Grundgeſetz ſtehe über dem Bunde. —
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0563"n="549"/><fwplace="top"type="header">Die württembergiſche Verfaſſung.</fw><lb/>
freiheit wurde verſprochen, „jedoch unter Beobachtung der gegen die<lb/>
Mißbräuche beſtehenden oder künftig zu erlaſſenden Geſetze.“ Erſt aus<lb/>ſchmerzlichen Erfahrungen ſollte das Volk lernen, daß mit ſolchen hoch-<lb/>
tönenden Verheißungen allgemeiner „Grundrechte“ in Wahrheit gar nichts<lb/>
geſagt, ja ſelbſt die Cenſur nicht gradezu beſeitigt war. Zum Ueberfluß<lb/>
beſtimmte der Art. 3, daß alle organiſchen Beſchlüſſe des Bundestags,<lb/>
wie billig, auch für Württemberg gelten ſollten.</p><lb/><p>Trotz alledem ließen ſich’s die Württemberger nicht nehmen, daß ihr<lb/>
Grundgeſetz das freiſinnigſte Deutſchlands ſei. Die Verfaſſung ſtand,<lb/>
gleich der badiſchen, mitteninne zwiſchen dem altſtändiſchen und dem Re-<lb/>
präſentativſyſteme, da mindeſtens die Abgeordneten der Oberämter in<lb/>
der zweiten Kammer das geſammte Volk, mit Ausnahme des Adels und<lb/>
der Geiſtlichkeit, vertraten; ſie beſaß überdies in dem ſtehenden Landtags-<lb/>
ausſchuſſe eine eigenthümliche Inſtitution, welche ſich zwar praktiſch wenig<lb/>
bewährte, aber den Tagesmeinungen als ein furchtbares Bollwerk der<lb/>
Volksrechte erſchien. Das Volk hatte durch zahlreiche, namentlich gegen<lb/>
das Zweikammerſyſtem gerichtete Petitionen ſeine Theilnahme an den<lb/>
Arbeiten des Landtags bewieſen. Die merkwürdigſte dieſer Bittſchriften<lb/>
war eine Eingabe der allezeit gut deutſch geſinnten Reutlinger, welche<lb/>— zum erſten male in dieſer ſtillen Zeit — die Einberufung eines<lb/>
deutſchen Parlaments forderte, weil „nur ſo alle deutſche Staaten ſich<lb/>
einer wirklichen Repräſentativ-Verfaſſung erfreuen könnten.“ Unter ſtür-<lb/>
miſchem Jubel beſchwor der Monarch am 25. September die Verfaſſung;<lb/>
auch die Prägung der unvermeidlichen Denkmünze ward beſchloſſen, und<lb/>
als drei Tage nachher König und Landtag auf dem Canſtatter Volks-<lb/>
feſte erſchienen, da brach die ſchwäbiſche Freiheitsbegeiſterung in hellen<lb/>
Flammen aus. Was der Bevollmächtigte dieſes volksfreundlichen Königs<lb/>
unterdeſſen in Carlsbad getrieben hatte, blieb dem argloſen Volke zum<lb/>
Glück verborgen.</p><lb/><p>Der nationalen Geſinnung des ſchwäbiſchen Landes brachte die<lb/>ſeltſame Entſtehungsgeſchichte des neuen Grundgeſetzes ſchweren Schaden.<lb/>
Die Verfaſſung war aus einem geheimen Kampfe gegen den deutſchen<lb/>
Bund hervorgegangen; alle Reden der Volksvertreter liefen hinaus auf<lb/>
die Mahnung, daß man die ſchwäbiſche Freiheit gegen die Tyrannei des<lb/>
Bundes ſichern müſſe. Unter ſolchen Erlebniſſen gewann der ohnehin<lb/>
überſtarke Stammesſtolz der Schwaben neue Kraft. Da in der deutſchen<lb/>
Centralgewalt nur die Kronen, in den Einzelſtaaten auch die Unterthanen<lb/>
vertreten waren, ſo ſchlug der junge Liberalismus faſt überall eine par-<lb/>
tikulariſtiſche Richtung ein, und nirgends war dieſer Sondergeiſt mäch-<lb/>
tiger als in Württemberg, wo ſich von vornherein die Anſicht bildete: das<lb/>
halb gegen den Willen des Deutſchen Bundes entſtandene Grundgeſetz<lb/>ſtehe über dem Bunde. —</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div></body></text></TEI>
[549/0563]
Die württembergiſche Verfaſſung.
freiheit wurde verſprochen, „jedoch unter Beobachtung der gegen die
Mißbräuche beſtehenden oder künftig zu erlaſſenden Geſetze.“ Erſt aus
ſchmerzlichen Erfahrungen ſollte das Volk lernen, daß mit ſolchen hoch-
tönenden Verheißungen allgemeiner „Grundrechte“ in Wahrheit gar nichts
geſagt, ja ſelbſt die Cenſur nicht gradezu beſeitigt war. Zum Ueberfluß
beſtimmte der Art. 3, daß alle organiſchen Beſchlüſſe des Bundestags,
wie billig, auch für Württemberg gelten ſollten.
Trotz alledem ließen ſich’s die Württemberger nicht nehmen, daß ihr
Grundgeſetz das freiſinnigſte Deutſchlands ſei. Die Verfaſſung ſtand,
gleich der badiſchen, mitteninne zwiſchen dem altſtändiſchen und dem Re-
präſentativſyſteme, da mindeſtens die Abgeordneten der Oberämter in
der zweiten Kammer das geſammte Volk, mit Ausnahme des Adels und
der Geiſtlichkeit, vertraten; ſie beſaß überdies in dem ſtehenden Landtags-
ausſchuſſe eine eigenthümliche Inſtitution, welche ſich zwar praktiſch wenig
bewährte, aber den Tagesmeinungen als ein furchtbares Bollwerk der
Volksrechte erſchien. Das Volk hatte durch zahlreiche, namentlich gegen
das Zweikammerſyſtem gerichtete Petitionen ſeine Theilnahme an den
Arbeiten des Landtags bewieſen. Die merkwürdigſte dieſer Bittſchriften
war eine Eingabe der allezeit gut deutſch geſinnten Reutlinger, welche
— zum erſten male in dieſer ſtillen Zeit — die Einberufung eines
deutſchen Parlaments forderte, weil „nur ſo alle deutſche Staaten ſich
einer wirklichen Repräſentativ-Verfaſſung erfreuen könnten.“ Unter ſtür-
miſchem Jubel beſchwor der Monarch am 25. September die Verfaſſung;
auch die Prägung der unvermeidlichen Denkmünze ward beſchloſſen, und
als drei Tage nachher König und Landtag auf dem Canſtatter Volks-
feſte erſchienen, da brach die ſchwäbiſche Freiheitsbegeiſterung in hellen
Flammen aus. Was der Bevollmächtigte dieſes volksfreundlichen Königs
unterdeſſen in Carlsbad getrieben hatte, blieb dem argloſen Volke zum
Glück verborgen.
Der nationalen Geſinnung des ſchwäbiſchen Landes brachte die
ſeltſame Entſtehungsgeſchichte des neuen Grundgeſetzes ſchweren Schaden.
Die Verfaſſung war aus einem geheimen Kampfe gegen den deutſchen
Bund hervorgegangen; alle Reden der Volksvertreter liefen hinaus auf
die Mahnung, daß man die ſchwäbiſche Freiheit gegen die Tyrannei des
Bundes ſichern müſſe. Unter ſolchen Erlebniſſen gewann der ohnehin
überſtarke Stammesſtolz der Schwaben neue Kraft. Da in der deutſchen
Centralgewalt nur die Kronen, in den Einzelſtaaten auch die Unterthanen
vertreten waren, ſo ſchlug der junge Liberalismus faſt überall eine par-
tikulariſtiſche Richtung ein, und nirgends war dieſer Sondergeiſt mäch-
tiger als in Württemberg, wo ſich von vornherein die Anſicht bildete: das
halb gegen den Willen des Deutſchen Bundes entſtandene Grundgeſetz
ſtehe über dem Bunde. —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 549. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/563>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.