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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Westöstlicher Divan.
Sammlung bildete doch eine stille, das irdische Treiben frei überschauende
Heiterkeit: "mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe." Die kunstvolle,
in bisher unerhörten Freiheiten sich ergehende Prosodie des Divans diente
den gedankenreicheren Lyrikern des folgenden Geschlechts zum Vorbilde.
Wohl fehlte dann und wann jener Zauber der unmittelbaren Eingebung,
der allen Jugendwerken Goethes ihre hinreißende Macht gab; einzelne
steife und gesuchte Wendungen erschienen mehr gedichtet und gedacht als
empfunden, manche künstliche Arabesken nur eingefügt um den fremd-
artigen Reiz des Gesammtbildes zu erhöhen. Dafür erschloß der Greis
im Divan, in den Orphischen Urworten, in den unzähligen Sprüchen
seiner letzten Jahre einen Schatz der Weisheit, der fast für jede Lebens-
frage des Gemüths und der Bildung das rechte Wort bot und erst von
dem heutigen Geschlechte allmählich verstanden wird. Viele Dichtungen
seines Alters gemahnten an jene räthselhaften Runen unseres Alterthums,
vor denen der germanische Held sinnen und träumen konnte bis an sei-
nen Tod. Zuweilen wagte er sich bis in die letzten geheimnißvollen Tiefen
des Daseins, bis dicht an die Grenzen des Sagbaren, wo das Wort ver-
stummt und die Musik einsetzt: so in jenem wunderbaren Liede, das immer
leise in der Seele widerklingt so oft ein Strahl himmlischer Glückseligkeit
in unser armes Leben fällt:

Und so lang Du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist Du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

So lebte er dahin in seiner einsamen Größe, unablässig schauend,
sammelnd, forschend, dichtend, in's Endliche nach allen Seiten schreitend
um das Unendliche ahnungsvoll zu ermessen, beglückt durch jeden Son-
nentag des Frühlings und jede Gabe des reichlichen Herbstes, wie durch
jedes gelungene Werk der Kunst und jeden neuen Fund im weiten Be-
reiche menschlichen Wissens. Schillers zarter Körper hatte sich vor der
Zeit aufgerieben im harten Dienste der Kantischen Pflichtenlehre; bei die-
sem Glücklichen und Kerngesunden erschien die ungeheure, allseitige Thätig-
keit nur wie die natürliche, mühelose Entfaltung angeborener Kräfte. Die
ihm ferne standen ahnten kaum, wie ernst er es selber nahm mit seinem
strengen Worte: nur wer immer wirkt vermag zu wirken; bald kommt
die Nacht wo Niemand kann! Sie ahnten noch weniger, welch ein festes
Gottvertrauen den verrufenen Heiden durch sein reiches Alter geleitete:
wie er sich in frommer Scheu hütete der Vorsehung vorzugreifen und in
jeder zufälligen Fügung des Tages das unmittelbare Eingreifen Gottes
erkannte -- denn nur so erschien dem Künstler die göttliche Weltregierung
denkbar. Und da er selber noch mit jedem Tage wuchs als ob dies Leben
nie ein Ende finden könnte, so blieb auch die Jugend immer sein Lieb-
ling. Mochte ihn die anmaßende Derbheit des jungen Geschlechts zuweilen

Weſtöſtlicher Divan.
Sammlung bildete doch eine ſtille, das irdiſche Treiben frei überſchauende
Heiterkeit: „mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe.“ Die kunſtvolle,
in bisher unerhörten Freiheiten ſich ergehende Proſodie des Divans diente
den gedankenreicheren Lyrikern des folgenden Geſchlechts zum Vorbilde.
Wohl fehlte dann und wann jener Zauber der unmittelbaren Eingebung,
der allen Jugendwerken Goethes ihre hinreißende Macht gab; einzelne
ſteife und geſuchte Wendungen erſchienen mehr gedichtet und gedacht als
empfunden, manche künſtliche Arabesken nur eingefügt um den fremd-
artigen Reiz des Geſammtbildes zu erhöhen. Dafür erſchloß der Greis
im Divan, in den Orphiſchen Urworten, in den unzähligen Sprüchen
ſeiner letzten Jahre einen Schatz der Weisheit, der faſt für jede Lebens-
frage des Gemüths und der Bildung das rechte Wort bot und erſt von
dem heutigen Geſchlechte allmählich verſtanden wird. Viele Dichtungen
ſeines Alters gemahnten an jene räthſelhaften Runen unſeres Alterthums,
vor denen der germaniſche Held ſinnen und träumen konnte bis an ſei-
nen Tod. Zuweilen wagte er ſich bis in die letzten geheimnißvollen Tiefen
des Daſeins, bis dicht an die Grenzen des Sagbaren, wo das Wort ver-
ſtummt und die Muſik einſetzt: ſo in jenem wunderbaren Liede, das immer
leiſe in der Seele widerklingt ſo oft ein Strahl himmliſcher Glückſeligkeit
in unſer armes Leben fällt:

Und ſo lang Du das nicht haſt,
Dieſes: Stirb und werde!
Biſt Du nur ein trüber Gaſt
Auf der dunklen Erde.

So lebte er dahin in ſeiner einſamen Größe, unabläſſig ſchauend,
ſammelnd, forſchend, dichtend, in’s Endliche nach allen Seiten ſchreitend
um das Unendliche ahnungsvoll zu ermeſſen, beglückt durch jeden Son-
nentag des Frühlings und jede Gabe des reichlichen Herbſtes, wie durch
jedes gelungene Werk der Kunſt und jeden neuen Fund im weiten Be-
reiche menſchlichen Wiſſens. Schillers zarter Körper hatte ſich vor der
Zeit aufgerieben im harten Dienſte der Kantiſchen Pflichtenlehre; bei die-
ſem Glücklichen und Kerngeſunden erſchien die ungeheure, allſeitige Thätig-
keit nur wie die natürliche, müheloſe Entfaltung angeborener Kräfte. Die
ihm ferne ſtanden ahnten kaum, wie ernſt er es ſelber nahm mit ſeinem
ſtrengen Worte: nur wer immer wirkt vermag zu wirken; bald kommt
die Nacht wo Niemand kann! Sie ahnten noch weniger, welch ein feſtes
Gottvertrauen den verrufenen Heiden durch ſein reiches Alter geleitete:
wie er ſich in frommer Scheu hütete der Vorſehung vorzugreifen und in
jeder zufälligen Fügung des Tages das unmittelbare Eingreifen Gottes
erkannte — denn nur ſo erſchien dem Künſtler die göttliche Weltregierung
denkbar. Und da er ſelber noch mit jedem Tage wuchs als ob dies Leben
nie ein Ende finden könnte, ſo blieb auch die Jugend immer ſein Lieb-
ling. Mochte ihn die anmaßende Derbheit des jungen Geſchlechts zuweilen

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[43/0057] Weſtöſtlicher Divan. Sammlung bildete doch eine ſtille, das irdiſche Treiben frei überſchauende Heiterkeit: „mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe.“ Die kunſtvolle, in bisher unerhörten Freiheiten ſich ergehende Proſodie des Divans diente den gedankenreicheren Lyrikern des folgenden Geſchlechts zum Vorbilde. Wohl fehlte dann und wann jener Zauber der unmittelbaren Eingebung, der allen Jugendwerken Goethes ihre hinreißende Macht gab; einzelne ſteife und geſuchte Wendungen erſchienen mehr gedichtet und gedacht als empfunden, manche künſtliche Arabesken nur eingefügt um den fremd- artigen Reiz des Geſammtbildes zu erhöhen. Dafür erſchloß der Greis im Divan, in den Orphiſchen Urworten, in den unzähligen Sprüchen ſeiner letzten Jahre einen Schatz der Weisheit, der faſt für jede Lebens- frage des Gemüths und der Bildung das rechte Wort bot und erſt von dem heutigen Geſchlechte allmählich verſtanden wird. Viele Dichtungen ſeines Alters gemahnten an jene räthſelhaften Runen unſeres Alterthums, vor denen der germaniſche Held ſinnen und träumen konnte bis an ſei- nen Tod. Zuweilen wagte er ſich bis in die letzten geheimnißvollen Tiefen des Daſeins, bis dicht an die Grenzen des Sagbaren, wo das Wort ver- ſtummt und die Muſik einſetzt: ſo in jenem wunderbaren Liede, das immer leiſe in der Seele widerklingt ſo oft ein Strahl himmliſcher Glückſeligkeit in unſer armes Leben fällt: Und ſo lang Du das nicht haſt, Dieſes: Stirb und werde! Biſt Du nur ein trüber Gaſt Auf der dunklen Erde. So lebte er dahin in ſeiner einſamen Größe, unabläſſig ſchauend, ſammelnd, forſchend, dichtend, in’s Endliche nach allen Seiten ſchreitend um das Unendliche ahnungsvoll zu ermeſſen, beglückt durch jeden Son- nentag des Frühlings und jede Gabe des reichlichen Herbſtes, wie durch jedes gelungene Werk der Kunſt und jeden neuen Fund im weiten Be- reiche menſchlichen Wiſſens. Schillers zarter Körper hatte ſich vor der Zeit aufgerieben im harten Dienſte der Kantiſchen Pflichtenlehre; bei die- ſem Glücklichen und Kerngeſunden erſchien die ungeheure, allſeitige Thätig- keit nur wie die natürliche, müheloſe Entfaltung angeborener Kräfte. Die ihm ferne ſtanden ahnten kaum, wie ernſt er es ſelber nahm mit ſeinem ſtrengen Worte: nur wer immer wirkt vermag zu wirken; bald kommt die Nacht wo Niemand kann! Sie ahnten noch weniger, welch ein feſtes Gottvertrauen den verrufenen Heiden durch ſein reiches Alter geleitete: wie er ſich in frommer Scheu hütete der Vorſehung vorzugreifen und in jeder zufälligen Fügung des Tages das unmittelbare Eingreifen Gottes erkannte — denn nur ſo erſchien dem Künſtler die göttliche Weltregierung denkbar. Und da er ſelber noch mit jedem Tage wuchs als ob dies Leben nie ein Ende finden könnte, ſo blieb auch die Jugend immer ſein Lieb- ling. Mochte ihn die anmaßende Derbheit des jungen Geſchlechts zuweilen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/57>, abgerufen am 23.11.2024.