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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe.
sätzlicher Widerspruch schien von keinem seiner Mitglieder zu erwarten.
Eichhorn und Daniels stimmten den Hauptsätzen des Entwurfs willig zu.
Humboldt fand in den kurzen Monaten seiner Ministerlaufbahn nur
zweimal die Gelegenheit, sich über die Prinzipienfragen des Verfassungs-
streites auszusprechen und bewies in beiden Fällen, daß Hardenbergs ver-
mittelnde Richtung auch die seine war. Als zwei verfallene Landarmen-
häuser, welche der Staat vor Zeiten den kurmärkischen Ständen zur Benutzung
überlassen, wieder eingezogen werden sollten und die Stände, nach ihrer Ge-
wohnheit, sich wider die angebliche Rechtsverletzung verwahrten, da ant-
wortete Humboldt: er leugne nicht, "daß meinem Gefühle nach Alles, was
nur entfernt mit ständischer Verfassung zusammenhängt, jetzt einer sehr
großen Schwierigkeit unterliegt", und rieth dem Monarchen einen Mittel-
weg einzuschlagen: die Regierung möge die unaufschiebliche Reform des kur-
märkischen Landarmenwesens sogleich selber vornehmen, aber den Ständen
versprechen, daß sie nachträglich gehört werden sollten, sobald die neue
Provinzialvertretung bestehe. Den Ständen der Grafschaft Mark, die noch-
mals um die Herstellung der markanischen Verfassung baten, erwiderte er
fest und freundlich: die Provinzen würden nicht ohne ständische Vertretung
bleiben; aber das Bedürfniß der Staatseinheit mache es unmöglich "das-
jenige, was bisher unter ganz verschiedenen Umständen obwaltete, auch jetzt
noch einzeln und unverändert stehen zu lassen."*) Es war als ob Harden-
berg selbst die Antwort diktirt hätte. Auch Ancillon zeigte sich dem Plane
des Staatskanzlers noch günstig; er hatte soeben in seinem Buche "über
die Staatswissenschaft" die Vorzüge des Zweikammersystems lebhaft em-
pfohlen. Selbst Schuckmann war bisher noch immer für den Verfassungs-
plan aufgetreten.

Sobald sich die Nachricht, daß Humboldt in einem neuen Verfassungs-
ausschuß thätig sei, im Publikum verbreitete, begannen die halb erloschenen
Hoffnungen der Liberalen wieder aufzuleben. Regierungsrath Grävell, der alte
unermüdliche publicistische Vorkämpfer der Verfassung, gab im November
jenes berufene Sendschreiben des jungen Gentz an König Friedrich Wilhelm
wieder heraus und meinte in seinem geharnischten Vorwort: "Zwei große
Tage erscheinen im Leben der Völker: der Tag der Thronbesteigung, wo
die Zeit -- und der Tag der Verfassungsverleihung, wo die Weisheit einen
neuen Bund schließt zwischen Fürst und Volk. Friedrich Wilhelms Volk
erlebt jetzt den zweiten großen Tag, das Jahr 1820 bringt ihm das Evan-
gelium der Zukunft, den Tag der Gründung einer ständischen Verfassung."
Sogar das radikale Weimarische Oppositionsblatt weissagte noch im De-
cember, daß im nächsten Jahre eine preußische Constitution den kühnsten
Wünschen entsprechend erscheinen werde.

Die herausfordernde Sprache der alten Stände, die seit den Karls-

*) Humboldt an Schuckmann 24. Okt.; an Bodelschwingh-Plettenberg 22. Sept. 1819.

II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
ſätzlicher Widerſpruch ſchien von keinem ſeiner Mitglieder zu erwarten.
Eichhorn und Daniels ſtimmten den Hauptſätzen des Entwurfs willig zu.
Humboldt fand in den kurzen Monaten ſeiner Miniſterlaufbahn nur
zweimal die Gelegenheit, ſich über die Prinzipienfragen des Verfaſſungs-
ſtreites auszuſprechen und bewies in beiden Fällen, daß Hardenbergs ver-
mittelnde Richtung auch die ſeine war. Als zwei verfallene Landarmen-
häuſer, welche der Staat vor Zeiten den kurmärkiſchen Ständen zur Benutzung
überlaſſen, wieder eingezogen werden ſollten und die Stände, nach ihrer Ge-
wohnheit, ſich wider die angebliche Rechtsverletzung verwahrten, da ant-
wortete Humboldt: er leugne nicht, „daß meinem Gefühle nach Alles, was
nur entfernt mit ſtändiſcher Verfaſſung zuſammenhängt, jetzt einer ſehr
großen Schwierigkeit unterliegt“, und rieth dem Monarchen einen Mittel-
weg einzuſchlagen: die Regierung möge die unaufſchiebliche Reform des kur-
märkiſchen Landarmenweſens ſogleich ſelber vornehmen, aber den Ständen
verſprechen, daß ſie nachträglich gehört werden ſollten, ſobald die neue
Provinzialvertretung beſtehe. Den Ständen der Grafſchaft Mark, die noch-
mals um die Herſtellung der markaniſchen Verfaſſung baten, erwiderte er
feſt und freundlich: die Provinzen würden nicht ohne ſtändiſche Vertretung
bleiben; aber das Bedürfniß der Staatseinheit mache es unmöglich „das-
jenige, was bisher unter ganz verſchiedenen Umſtänden obwaltete, auch jetzt
noch einzeln und unverändert ſtehen zu laſſen.“*) Es war als ob Harden-
berg ſelbſt die Antwort diktirt hätte. Auch Ancillon zeigte ſich dem Plane
des Staatskanzlers noch günſtig; er hatte ſoeben in ſeinem Buche „über
die Staatswiſſenſchaft“ die Vorzüge des Zweikammerſyſtems lebhaft em-
pfohlen. Selbſt Schuckmann war bisher noch immer für den Verfaſſungs-
plan aufgetreten.

Sobald ſich die Nachricht, daß Humboldt in einem neuen Verfaſſungs-
ausſchuß thätig ſei, im Publikum verbreitete, begannen die halb erloſchenen
Hoffnungen der Liberalen wieder aufzuleben. Regierungsrath Grävell, der alte
unermüdliche publiciſtiſche Vorkämpfer der Verfaſſung, gab im November
jenes berufene Sendſchreiben des jungen Gentz an König Friedrich Wilhelm
wieder heraus und meinte in ſeinem geharniſchten Vorwort: „Zwei große
Tage erſcheinen im Leben der Völker: der Tag der Thronbeſteigung, wo
die Zeit — und der Tag der Verfaſſungsverleihung, wo die Weisheit einen
neuen Bund ſchließt zwiſchen Fürſt und Volk. Friedrich Wilhelms Volk
erlebt jetzt den zweiten großen Tag, das Jahr 1820 bringt ihm das Evan-
gelium der Zukunft, den Tag der Gründung einer ſtändiſchen Verfaſſung.“
Sogar das radikale Weimariſche Oppoſitionsblatt weiſſagte noch im De-
cember, daß im nächſten Jahre eine preußiſche Conſtitution den kühnſten
Wünſchen entſprechend erſcheinen werde.

Die herausfordernde Sprache der alten Stände, die ſeit den Karls-

*) Humboldt an Schuckmann 24. Okt.; an Bodelſchwingh-Plettenberg 22. Sept. 1819.
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[592/0606] II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe. ſätzlicher Widerſpruch ſchien von keinem ſeiner Mitglieder zu erwarten. Eichhorn und Daniels ſtimmten den Hauptſätzen des Entwurfs willig zu. Humboldt fand in den kurzen Monaten ſeiner Miniſterlaufbahn nur zweimal die Gelegenheit, ſich über die Prinzipienfragen des Verfaſſungs- ſtreites auszuſprechen und bewies in beiden Fällen, daß Hardenbergs ver- mittelnde Richtung auch die ſeine war. Als zwei verfallene Landarmen- häuſer, welche der Staat vor Zeiten den kurmärkiſchen Ständen zur Benutzung überlaſſen, wieder eingezogen werden ſollten und die Stände, nach ihrer Ge- wohnheit, ſich wider die angebliche Rechtsverletzung verwahrten, da ant- wortete Humboldt: er leugne nicht, „daß meinem Gefühle nach Alles, was nur entfernt mit ſtändiſcher Verfaſſung zuſammenhängt, jetzt einer ſehr großen Schwierigkeit unterliegt“, und rieth dem Monarchen einen Mittel- weg einzuſchlagen: die Regierung möge die unaufſchiebliche Reform des kur- märkiſchen Landarmenweſens ſogleich ſelber vornehmen, aber den Ständen verſprechen, daß ſie nachträglich gehört werden ſollten, ſobald die neue Provinzialvertretung beſtehe. Den Ständen der Grafſchaft Mark, die noch- mals um die Herſtellung der markaniſchen Verfaſſung baten, erwiderte er feſt und freundlich: die Provinzen würden nicht ohne ſtändiſche Vertretung bleiben; aber das Bedürfniß der Staatseinheit mache es unmöglich „das- jenige, was bisher unter ganz verſchiedenen Umſtänden obwaltete, auch jetzt noch einzeln und unverändert ſtehen zu laſſen.“ *) Es war als ob Harden- berg ſelbſt die Antwort diktirt hätte. Auch Ancillon zeigte ſich dem Plane des Staatskanzlers noch günſtig; er hatte ſoeben in ſeinem Buche „über die Staatswiſſenſchaft“ die Vorzüge des Zweikammerſyſtems lebhaft em- pfohlen. Selbſt Schuckmann war bisher noch immer für den Verfaſſungs- plan aufgetreten. Sobald ſich die Nachricht, daß Humboldt in einem neuen Verfaſſungs- ausſchuß thätig ſei, im Publikum verbreitete, begannen die halb erloſchenen Hoffnungen der Liberalen wieder aufzuleben. Regierungsrath Grävell, der alte unermüdliche publiciſtiſche Vorkämpfer der Verfaſſung, gab im November jenes berufene Sendſchreiben des jungen Gentz an König Friedrich Wilhelm wieder heraus und meinte in ſeinem geharniſchten Vorwort: „Zwei große Tage erſcheinen im Leben der Völker: der Tag der Thronbeſteigung, wo die Zeit — und der Tag der Verfaſſungsverleihung, wo die Weisheit einen neuen Bund ſchließt zwiſchen Fürſt und Volk. Friedrich Wilhelms Volk erlebt jetzt den zweiten großen Tag, das Jahr 1820 bringt ihm das Evan- gelium der Zukunft, den Tag der Gründung einer ſtändiſchen Verfaſſung.“ Sogar das radikale Weimariſche Oppoſitionsblatt weiſſagte noch im De- cember, daß im nächſten Jahre eine preußiſche Conſtitution den kühnſten Wünſchen entſprechend erſcheinen werde. Die herausfordernde Sprache der alten Stände, die ſeit den Karls- *) Humboldt an Schuckmann 24. Okt.; an Bodelſchwingh-Plettenberg 22. Sept. 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/606>, abgerufen am 22.11.2024.