Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe. seiner Vaterstadt unter dem Namen Innungshalle eine Handelskammer undeine rasch aufblühende Handelsschule. Endlich fand er ein weites Gebiet fruchtbarer Thätigkeit in dem Versicherungswesen, das noch ganz in der Botmäßigkeit des Auslandes stand. Fast an allen größeren deutschen Plätzen unterhielt der mächtige Londoner Phönix seine Agenturen und beutete die Deutschen durch unbillige Prämien aus, da die kleinen heimischen Ver- sicherungsgesellschaften, die in einzelnen Städten des Nordens bestanden, ihre Wirksamkeit auf die Vaterstadt beschränkten. Da wendete sich Arnoldi (1819) an die Nation mit der Frage, wie lange sie noch ihr Geld in die englische Sparbüchse legen wolle, und entwarf den Plan für eine deutsche, das gesammte Vaterland umfassende, auf Gegenseitigkeit beruhende Feuer- versicherungsbank. Zwei Jahre darauf trat diese Anstalt zu Gotha ins Leben, der erste Anfang der großartigen Entwickelung unseres nationalen Versicherungswesens. Der allgemeine Haß gegen Englands Handelsherr- schaft kam dem kühnen Unternehmer zu statten. Ueberall im Binnenlande schalt man auf England und die Hansestädte, die den Süddeutschen nur als englische Contore galten; der wiedererwachende Napoleonscultus und die französischen Sympathien der Liberalen des Südens wurden durch solche erregte Stimmungen gefördert. Ueber die Waffen freilich, welche den deutschen Gewerbfleiß vor einer erdrückenden ausländischen Mitwerbung sichern konnten, hatten die Wenigsten auch nur nachgedacht. Nur so viel schien Allen unzweifelhaft, daß sämmtliche neu eingeführte Zölle sofort wieder aufgehoben und die im Art. 19 der Bundesakte verheißene Verkehrsfreiheit durch den Bundestag angeordnet werden müsse. Selbst jener hochherzige, geistvolle Agitator, der mit dem ganzen Un- II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe. ſeiner Vaterſtadt unter dem Namen Innungshalle eine Handelskammer undeine raſch aufblühende Handelsſchule. Endlich fand er ein weites Gebiet fruchtbarer Thätigkeit in dem Verſicherungsweſen, das noch ganz in der Botmäßigkeit des Auslandes ſtand. Faſt an allen größeren deutſchen Plätzen unterhielt der mächtige Londoner Phönix ſeine Agenturen und beutete die Deutſchen durch unbillige Prämien aus, da die kleinen heimiſchen Ver- ſicherungsgeſellſchaften, die in einzelnen Städten des Nordens beſtanden, ihre Wirkſamkeit auf die Vaterſtadt beſchränkten. Da wendete ſich Arnoldi (1819) an die Nation mit der Frage, wie lange ſie noch ihr Geld in die engliſche Sparbüchſe legen wolle, und entwarf den Plan für eine deutſche, das geſammte Vaterland umfaſſende, auf Gegenſeitigkeit beruhende Feuer- verſicherungsbank. Zwei Jahre darauf trat dieſe Anſtalt zu Gotha ins Leben, der erſte Anfang der großartigen Entwickelung unſeres nationalen Verſicherungsweſens. Der allgemeine Haß gegen Englands Handelsherr- ſchaft kam dem kühnen Unternehmer zu ſtatten. Ueberall im Binnenlande ſchalt man auf England und die Hanſeſtädte, die den Süddeutſchen nur als engliſche Contore galten; der wiedererwachende Napoleonscultus und die franzöſiſchen Sympathien der Liberalen des Südens wurden durch ſolche erregte Stimmungen gefördert. Ueber die Waffen freilich, welche den deutſchen Gewerbfleiß vor einer erdrückenden ausländiſchen Mitwerbung ſichern konnten, hatten die Wenigſten auch nur nachgedacht. Nur ſo viel ſchien Allen unzweifelhaft, daß ſämmtliche neu eingeführte Zölle ſofort wieder aufgehoben und die im Art. 19 der Bundesakte verheißene Verkehrsfreiheit durch den Bundestag angeordnet werden müſſe. Selbſt jener hochherzige, geiſtvolle Agitator, der mit dem ganzen Un- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0624" n="610"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 10. 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II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
ſeiner Vaterſtadt unter dem Namen Innungshalle eine Handelskammer und
eine raſch aufblühende Handelsſchule. Endlich fand er ein weites Gebiet
fruchtbarer Thätigkeit in dem Verſicherungsweſen, das noch ganz in der
Botmäßigkeit des Auslandes ſtand. Faſt an allen größeren deutſchen Plätzen
unterhielt der mächtige Londoner Phönix ſeine Agenturen und beutete die
Deutſchen durch unbillige Prämien aus, da die kleinen heimiſchen Ver-
ſicherungsgeſellſchaften, die in einzelnen Städten des Nordens beſtanden,
ihre Wirkſamkeit auf die Vaterſtadt beſchränkten. Da wendete ſich Arnoldi
(1819) an die Nation mit der Frage, wie lange ſie noch ihr Geld in die
engliſche Sparbüchſe legen wolle, und entwarf den Plan für eine deutſche,
das geſammte Vaterland umfaſſende, auf Gegenſeitigkeit beruhende Feuer-
verſicherungsbank. Zwei Jahre darauf trat dieſe Anſtalt zu Gotha ins
Leben, der erſte Anfang der großartigen Entwickelung unſeres nationalen
Verſicherungsweſens. Der allgemeine Haß gegen Englands Handelsherr-
ſchaft kam dem kühnen Unternehmer zu ſtatten. Ueberall im Binnenlande
ſchalt man auf England und die Hanſeſtädte, die den Süddeutſchen nur
als engliſche Contore galten; der wiedererwachende Napoleonscultus und
die franzöſiſchen Sympathien der Liberalen des Südens wurden durch
ſolche erregte Stimmungen gefördert. Ueber die Waffen freilich, welche den
deutſchen Gewerbfleiß vor einer erdrückenden ausländiſchen Mitwerbung
ſichern konnten, hatten die Wenigſten auch nur nachgedacht. Nur ſo viel
ſchien Allen unzweifelhaft, daß ſämmtliche neu eingeführte Zölle ſofort wieder
aufgehoben und die im Art. 19 der Bundesakte verheißene Verkehrsfreiheit
durch den Bundestag angeordnet werden müſſe.
Selbſt jener hochherzige, geiſtvolle Agitator, der mit dem ganzen Un-
geſtüm ſeiner Thatkraft gegen die Binnenmauthen auftrat, auch Friedrich
Liſt theilte den allgemeinen Irrthum. Wie Görres einſt im Rheiniſchen
Mercur die Idee der politiſchen Macht und Einheit des Vaterlandes ver-
trat, ſo verfocht Liſt die Idee der handelspolitiſchen Einheit — eine ver-
wandte Natur, feurig, hochbegeiſtert, ein Meiſter der bewegten Rede, voll
tiefer und echter Leidenſchaft, leicht hingeriſſen zu phantaſtiſchen Verirrungen.
Ein echter Reichsſtädter war er im freiheitsſtolzen Reutlingen aufgewachſen,
unter ewigen Händeln mit den württembergiſchen Schreibern; er zählte zu
jenen geborenen Kämpfern, denen das Schickſal immer neuen Hader ſendet
auch wenn ſie den Streit nicht ſuchen. Seine Mutter, ſeinen einzigen
Bruder ſah er plötzlich ſterben in Folge der Roheit brutaler Beamten;
und als er dann ſelber einige Jahre in der geiſttödenden Scheinthätig-
keit der württembergiſchen Schreibſtuben verbracht hatte, da ward ſein
Haß gegen die Herrſchſucht des rheinbündiſchen Beamtenthums grenzenlos,
und er ſetzte ſich zum Ziele ſeines Lebens den Bürger und Bauersmann
zur Selbſtthätigkeit zu erwecken, ihn aufzuklären über ſeine nächſten Inter-
eſſen, die Volkswirthſchaftslehre von den Formeln des Katheders zu be-
freien und ſie die Sprache des Volkes reden zu laſſen. Schon durch die
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