II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
dem Jägervergnügen? Zur selben Zeit erhielt das deutsche Lied durch einen fromm bescheidenen Wiener Künstler, Franz Schubert, seine höchste Ausbildung; die ganze Tonleiter der geheimsten Seelenstimmungen stand ihm zu Gebote, namentlich die milde Schönheit der Goethischen Dichtung zog ihn an. Bald nachher fanden Uhlands Lieder an dem Schwaben Konradin Kreutzer einen congenialen Componisten.
Von jenem katholisirenden Wesen, das so viele Poeten der Romantik ankränkelte, hielt sich die romantische Musik völlig frei, obgleich die mei- sten unserer namhaften Tonsetzer der katholischen Kirche angehörten. Sie sprach schlicht und recht das Allen Gemeinsame aus, sie verwirklichte durch die That das von den romantischen Dichtern so oft gepriesene, aber nur von Uhland wirklich erreichte Ideal der volksthümlichen Kunst; und da der Dilettantismus in keiner Kunst ein so gutes Recht hat wie in der Musik, so zog sie auch bald das Volk selber zu freier Mitwirkung heran. Schon in den neunziger Jahren waren Berliner Musikfreunde zu der Singakademie zusammengetreten um bei der Aufführung Händelscher Ora- torien und ähnlicher Werke den Chorgesang zu übernehmen. Zelter, der derbe, warmherzige Freund Goethes stiftete dann im Jahre 1808 zu Berlin die erste deutsche Liedertafel, einen kleinen Kreis von Dichtern, Sängern und Componisten zur Pflege des Gesanges. Mehrere andere norddeutsche Städte folgten nach. In dem preußischen Volksheere nahm während der Kriege das fröhliche Singen kein Ende; die Lützowsche Frei- schaar besaß bereits einen geschulten Sängerchor, und ihr Beispiel fand nach dem Frieden in vielen preußischen Regimentern Nachahmung.
Da gab zur rechten Stunde (1817) der Schweizer Nägeli die Gesang- bildungslehre für Männerchor heraus; er nannte den Chorgesang "das eine, allgemein mögliche Volksleben im Reiche der höheren Kunst" und for- derte die ganze Nation zur Theilnahme auf. Sieben Jahre später entstand dann der Stuttgarter Liederkranz, das Vorbild für die zahlreichen Lieder- kränze Süd- und Mitteldeutschlands, die nach der zwanglosen, demokra- tischen Weise des Oberlandes von vornherein auf eine größere Mitglieder- zahl berechnet waren, als die mehr häuslich eingerichteten Liedertafeln des Nordens, und sich nicht scheuten mit öffentlichen Aufführungen und Sän- gerfesten vor das Volk hinauszutreten. Die Musik wurde die gesellige Kunst des neuen Jahrhunderts, wie die Beredsamkeit im Zeitalter des Cinquecento, ein unentbehrlicher Schmuck für jedes deutsche Fest, recht eigentlich ein Stolz der Nation. In allen Gauen erwachte die Sanges- lust, wie nie mehr seit den Tagen der Meistersinger. Man empfand lebhaft, wie mit dieser neuen edleren Geselligkeit ein freierer Luftzug in das Volksleben kam, und rühmte gern, daß "vor des Gesanges Macht der Stände lächerliche Schranken fielen". Unzählige kleine Leute empfingen allein durch den Gesang die Ahnung einer reinen, über dem Staub und Schweiß des Alltagslebens erhabenen Welt; und neben diesem reichen
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
dem Jägervergnügen? Zur ſelben Zeit erhielt das deutſche Lied durch einen fromm beſcheidenen Wiener Künſtler, Franz Schubert, ſeine höchſte Ausbildung; die ganze Tonleiter der geheimſten Seelenſtimmungen ſtand ihm zu Gebote, namentlich die milde Schönheit der Goethiſchen Dichtung zog ihn an. Bald nachher fanden Uhlands Lieder an dem Schwaben Konradin Kreutzer einen congenialen Componiſten.
Von jenem katholiſirenden Weſen, das ſo viele Poeten der Romantik ankränkelte, hielt ſich die romantiſche Muſik völlig frei, obgleich die mei- ſten unſerer namhaften Tonſetzer der katholiſchen Kirche angehörten. Sie ſprach ſchlicht und recht das Allen Gemeinſame aus, ſie verwirklichte durch die That das von den romantiſchen Dichtern ſo oft geprieſene, aber nur von Uhland wirklich erreichte Ideal der volksthümlichen Kunſt; und da der Dilettantismus in keiner Kunſt ein ſo gutes Recht hat wie in der Muſik, ſo zog ſie auch bald das Volk ſelber zu freier Mitwirkung heran. Schon in den neunziger Jahren waren Berliner Muſikfreunde zu der Singakademie zuſammengetreten um bei der Aufführung Händelſcher Ora- torien und ähnlicher Werke den Chorgeſang zu übernehmen. Zelter, der derbe, warmherzige Freund Goethes ſtiftete dann im Jahre 1808 zu Berlin die erſte deutſche Liedertafel, einen kleinen Kreis von Dichtern, Sängern und Componiſten zur Pflege des Geſanges. Mehrere andere norddeutſche Städte folgten nach. In dem preußiſchen Volksheere nahm während der Kriege das fröhliche Singen kein Ende; die Lützowſche Frei- ſchaar beſaß bereits einen geſchulten Sängerchor, und ihr Beiſpiel fand nach dem Frieden in vielen preußiſchen Regimentern Nachahmung.
Da gab zur rechten Stunde (1817) der Schweizer Nägeli die Geſang- bildungslehre für Männerchor heraus; er nannte den Chorgeſang „das eine, allgemein mögliche Volksleben im Reiche der höheren Kunſt“ und for- derte die ganze Nation zur Theilnahme auf. Sieben Jahre ſpäter entſtand dann der Stuttgarter Liederkranz, das Vorbild für die zahlreichen Lieder- kränze Süd- und Mitteldeutſchlands, die nach der zwangloſen, demokra- tiſchen Weiſe des Oberlandes von vornherein auf eine größere Mitglieder- zahl berechnet waren, als die mehr häuslich eingerichteten Liedertafeln des Nordens, und ſich nicht ſcheuten mit öffentlichen Aufführungen und Sän- gerfeſten vor das Volk hinauszutreten. Die Muſik wurde die geſellige Kunſt des neuen Jahrhunderts, wie die Beredſamkeit im Zeitalter des Cinquecento, ein unentbehrlicher Schmuck für jedes deutſche Feſt, recht eigentlich ein Stolz der Nation. In allen Gauen erwachte die Sanges- luſt, wie nie mehr ſeit den Tagen der Meiſterſinger. Man empfand lebhaft, wie mit dieſer neuen edleren Geſelligkeit ein freierer Luftzug in das Volksleben kam, und rühmte gern, daß „vor des Geſanges Macht der Stände lächerliche Schranken fielen“. Unzählige kleine Leute empfingen allein durch den Geſang die Ahnung einer reinen, über dem Staub und Schweiß des Alltagslebens erhabenen Welt; und neben dieſem reichen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0070"n="56"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">II.</hi> 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.</fw><lb/>
dem Jägervergnügen? Zur ſelben Zeit erhielt das deutſche Lied durch<lb/>
einen fromm beſcheidenen Wiener Künſtler, Franz Schubert, ſeine höchſte<lb/>
Ausbildung; die ganze Tonleiter der geheimſten Seelenſtimmungen ſtand<lb/>
ihm zu Gebote, namentlich die milde Schönheit der Goethiſchen Dichtung<lb/>
zog ihn an. Bald nachher fanden Uhlands Lieder an dem Schwaben<lb/>
Konradin Kreutzer einen congenialen Componiſten.</p><lb/><p>Von jenem katholiſirenden Weſen, das ſo viele Poeten der Romantik<lb/>
ankränkelte, hielt ſich die romantiſche Muſik völlig frei, obgleich die mei-<lb/>ſten unſerer namhaften Tonſetzer der katholiſchen Kirche angehörten. Sie<lb/>ſprach ſchlicht und recht das Allen Gemeinſame aus, ſie verwirklichte<lb/>
durch die That das von den romantiſchen Dichtern ſo oft geprieſene, aber<lb/>
nur von Uhland wirklich erreichte Ideal der volksthümlichen Kunſt; und<lb/>
da der Dilettantismus in keiner Kunſt ein ſo gutes Recht hat wie in der<lb/>
Muſik, ſo zog ſie auch bald das Volk ſelber zu freier Mitwirkung heran.<lb/>
Schon in den neunziger Jahren waren Berliner Muſikfreunde zu der<lb/>
Singakademie zuſammengetreten um bei der Aufführung Händelſcher Ora-<lb/>
torien und ähnlicher Werke den Chorgeſang zu übernehmen. Zelter, der<lb/>
derbe, warmherzige Freund Goethes ſtiftete dann im Jahre 1808 zu<lb/>
Berlin die erſte deutſche Liedertafel, einen kleinen Kreis von Dichtern,<lb/>
Sängern und Componiſten zur Pflege des Geſanges. Mehrere andere<lb/>
norddeutſche Städte folgten nach. In dem preußiſchen Volksheere nahm<lb/>
während der Kriege das fröhliche Singen kein Ende; die Lützowſche Frei-<lb/>ſchaar beſaß bereits einen geſchulten Sängerchor, und ihr Beiſpiel fand<lb/>
nach dem Frieden in vielen preußiſchen Regimentern Nachahmung.</p><lb/><p>Da gab zur rechten Stunde (1817) der Schweizer Nägeli die Geſang-<lb/>
bildungslehre für Männerchor heraus; er nannte den Chorgeſang „das<lb/>
eine, allgemein mögliche Volksleben im Reiche der höheren Kunſt“ und for-<lb/>
derte die ganze Nation zur Theilnahme auf. Sieben Jahre ſpäter entſtand<lb/>
dann der Stuttgarter Liederkranz, das Vorbild für die zahlreichen Lieder-<lb/>
kränze Süd- und Mitteldeutſchlands, die nach der zwangloſen, demokra-<lb/>
tiſchen Weiſe des Oberlandes von vornherein auf eine größere Mitglieder-<lb/>
zahl berechnet waren, als die mehr häuslich eingerichteten Liedertafeln des<lb/>
Nordens, und ſich nicht ſcheuten mit öffentlichen Aufführungen und Sän-<lb/>
gerfeſten vor das Volk hinauszutreten. Die Muſik wurde die geſellige<lb/>
Kunſt des neuen Jahrhunderts, wie die Beredſamkeit im Zeitalter des<lb/>
Cinquecento, ein unentbehrlicher Schmuck für jedes deutſche Feſt, recht<lb/>
eigentlich ein Stolz der Nation. In allen Gauen erwachte die Sanges-<lb/>
luſt, wie nie mehr ſeit den Tagen der Meiſterſinger. Man empfand<lb/>
lebhaft, wie mit dieſer neuen edleren Geſelligkeit ein freierer Luftzug in<lb/>
das Volksleben kam, und rühmte gern, daß „vor des Geſanges Macht der<lb/>
Stände lächerliche Schranken fielen“. Unzählige kleine Leute empfingen<lb/>
allein durch den Geſang die Ahnung einer reinen, über dem Staub und<lb/>
Schweiß des Alltagslebens erhabenen Welt; und neben dieſem reichen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[56/0070]
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
dem Jägervergnügen? Zur ſelben Zeit erhielt das deutſche Lied durch
einen fromm beſcheidenen Wiener Künſtler, Franz Schubert, ſeine höchſte
Ausbildung; die ganze Tonleiter der geheimſten Seelenſtimmungen ſtand
ihm zu Gebote, namentlich die milde Schönheit der Goethiſchen Dichtung
zog ihn an. Bald nachher fanden Uhlands Lieder an dem Schwaben
Konradin Kreutzer einen congenialen Componiſten.
Von jenem katholiſirenden Weſen, das ſo viele Poeten der Romantik
ankränkelte, hielt ſich die romantiſche Muſik völlig frei, obgleich die mei-
ſten unſerer namhaften Tonſetzer der katholiſchen Kirche angehörten. Sie
ſprach ſchlicht und recht das Allen Gemeinſame aus, ſie verwirklichte
durch die That das von den romantiſchen Dichtern ſo oft geprieſene, aber
nur von Uhland wirklich erreichte Ideal der volksthümlichen Kunſt; und
da der Dilettantismus in keiner Kunſt ein ſo gutes Recht hat wie in der
Muſik, ſo zog ſie auch bald das Volk ſelber zu freier Mitwirkung heran.
Schon in den neunziger Jahren waren Berliner Muſikfreunde zu der
Singakademie zuſammengetreten um bei der Aufführung Händelſcher Ora-
torien und ähnlicher Werke den Chorgeſang zu übernehmen. Zelter, der
derbe, warmherzige Freund Goethes ſtiftete dann im Jahre 1808 zu
Berlin die erſte deutſche Liedertafel, einen kleinen Kreis von Dichtern,
Sängern und Componiſten zur Pflege des Geſanges. Mehrere andere
norddeutſche Städte folgten nach. In dem preußiſchen Volksheere nahm
während der Kriege das fröhliche Singen kein Ende; die Lützowſche Frei-
ſchaar beſaß bereits einen geſchulten Sängerchor, und ihr Beiſpiel fand
nach dem Frieden in vielen preußiſchen Regimentern Nachahmung.
Da gab zur rechten Stunde (1817) der Schweizer Nägeli die Geſang-
bildungslehre für Männerchor heraus; er nannte den Chorgeſang „das
eine, allgemein mögliche Volksleben im Reiche der höheren Kunſt“ und for-
derte die ganze Nation zur Theilnahme auf. Sieben Jahre ſpäter entſtand
dann der Stuttgarter Liederkranz, das Vorbild für die zahlreichen Lieder-
kränze Süd- und Mitteldeutſchlands, die nach der zwangloſen, demokra-
tiſchen Weiſe des Oberlandes von vornherein auf eine größere Mitglieder-
zahl berechnet waren, als die mehr häuslich eingerichteten Liedertafeln des
Nordens, und ſich nicht ſcheuten mit öffentlichen Aufführungen und Sän-
gerfeſten vor das Volk hinauszutreten. Die Muſik wurde die geſellige
Kunſt des neuen Jahrhunderts, wie die Beredſamkeit im Zeitalter des
Cinquecento, ein unentbehrlicher Schmuck für jedes deutſche Feſt, recht
eigentlich ein Stolz der Nation. In allen Gauen erwachte die Sanges-
luſt, wie nie mehr ſeit den Tagen der Meiſterſinger. Man empfand
lebhaft, wie mit dieſer neuen edleren Geſelligkeit ein freierer Luftzug in
das Volksleben kam, und rühmte gern, daß „vor des Geſanges Macht der
Stände lächerliche Schranken fielen“. Unzählige kleine Leute empfingen
allein durch den Geſang die Ahnung einer reinen, über dem Staub und
Schweiß des Alltagslebens erhabenen Welt; und neben dieſem reichen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/70>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.