Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Niebuhr. Empfindung, den ganzen Ernst seines sittlichen Urtheils in die Darstel-lung jener Römerkämpfe, die den meisten seiner Vorgänger nur trockener Wissensstoff gewesen waren; jede Wendung des oftmals harten, immer edlen und ursprünglichen Stiles spiegelte die tiefe Bewegung einer großen Seele wieder. Den ersten Band, so gestand er selbst, hätte er niemals schreiben können ohne eine lebendige Anschauung vom englischen Staate; seitdem hatte er, im Innersten erschüttert, die Stürme einer ungeheueren Zeit über den Staat seiner Wahl dahinbrausen sehen; er fühlte, wie ihm durch solche Erlebnisse das Verständniß wuchs für die Geschichte Roms, welche einst, wie die See die Ströme, die Geschichte aller Völker in sich auf- genommen. Dann führte ihn sein diplomatischer Beruf nach Rom selbst. Jahrelang wohnte er dort in dem Palaste, der auf hohem Schuttberge mitten aus den grandiosen Trümmern des Marcellustheaters empor- steigt, und obwohl er die Sehnsucht nach der Heimath niemals überwand, so fand sich doch seine historische Phantasie, die das Ferne und Fremde aus dem Nahen und Vertrauten zu erklären liebte, auf Schritt und Tritt mächtig angeregt. Die alte Welt trat ihm sinnlich nahe; in der Gestalt der Aecker auf der Feldflur erkannte er noch die Kunstfertigkeit der alten Agrimensoren, in dem Elend der modernen Halbpächter sah er den Fluch des römischen Latifundienwesens fortwirken; und wenn er im Vatikan den alten Sarkophag mit dem rührenden Bilde des treuen Ehepaars beschaute, dann war ihm zu Muthe, als sähe er sich selber und seine verklärte erste Frau. So erhielt die langsam gereifte Umarbeitung und Fortsetzung des Und doch lag selbst in diesem freien Geiste ein Zug krankhafter, Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 5
Niebuhr. Empfindung, den ganzen Ernſt ſeines ſittlichen Urtheils in die Darſtel-lung jener Römerkämpfe, die den meiſten ſeiner Vorgänger nur trockener Wiſſensſtoff geweſen waren; jede Wendung des oftmals harten, immer edlen und urſprünglichen Stiles ſpiegelte die tiefe Bewegung einer großen Seele wieder. Den erſten Band, ſo geſtand er ſelbſt, hätte er niemals ſchreiben können ohne eine lebendige Anſchauung vom engliſchen Staate; ſeitdem hatte er, im Innerſten erſchüttert, die Stürme einer ungeheueren Zeit über den Staat ſeiner Wahl dahinbrauſen ſehen; er fühlte, wie ihm durch ſolche Erlebniſſe das Verſtändniß wuchs für die Geſchichte Roms, welche einſt, wie die See die Ströme, die Geſchichte aller Völker in ſich auf- genommen. Dann führte ihn ſein diplomatiſcher Beruf nach Rom ſelbſt. Jahrelang wohnte er dort in dem Palaſte, der auf hohem Schuttberge mitten aus den grandioſen Trümmern des Marcellustheaters empor- ſteigt, und obwohl er die Sehnſucht nach der Heimath niemals überwand, ſo fand ſich doch ſeine hiſtoriſche Phantaſie, die das Ferne und Fremde aus dem Nahen und Vertrauten zu erklären liebte, auf Schritt und Tritt mächtig angeregt. Die alte Welt trat ihm ſinnlich nahe; in der Geſtalt der Aecker auf der Feldflur erkannte er noch die Kunſtfertigkeit der alten Agrimenſoren, in dem Elend der modernen Halbpächter ſah er den Fluch des römiſchen Latifundienweſens fortwirken; und wenn er im Vatikan den alten Sarkophag mit dem rührenden Bilde des treuen Ehepaars beſchaute, dann war ihm zu Muthe, als ſähe er ſich ſelber und ſeine verklärte erſte Frau. So erhielt die langſam gereifte Umarbeitung und Fortſetzung des Und doch lag ſelbſt in dieſem freien Geiſte ein Zug krankhafter, Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 5
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0079" n="65"/><fw place="top" type="header">Niebuhr.</fw><lb/> Empfindung, den ganzen Ernſt ſeines ſittlichen Urtheils in die Darſtel-<lb/> lung jener Römerkämpfe, die den meiſten ſeiner Vorgänger nur trockener<lb/> Wiſſensſtoff geweſen waren; jede Wendung des oftmals harten, immer<lb/> edlen und urſprünglichen Stiles ſpiegelte die tiefe Bewegung einer großen<lb/> Seele wieder. Den erſten Band, ſo geſtand er ſelbſt, hätte er niemals<lb/> ſchreiben können ohne eine lebendige Anſchauung vom engliſchen Staate;<lb/> ſeitdem hatte er, im Innerſten erſchüttert, die Stürme einer ungeheueren<lb/> Zeit über den Staat ſeiner Wahl dahinbrauſen ſehen; er fühlte, wie<lb/> ihm durch ſolche Erlebniſſe das Verſtändniß wuchs für die Geſchichte Roms,<lb/> welche einſt, wie die See die Ströme, die Geſchichte aller Völker in ſich auf-<lb/> genommen. Dann führte ihn ſein diplomatiſcher Beruf nach Rom ſelbſt.<lb/> Jahrelang wohnte er dort in dem Palaſte, der auf hohem Schuttberge<lb/> mitten aus den grandioſen Trümmern des Marcellustheaters empor-<lb/> ſteigt, und obwohl er die Sehnſucht nach der Heimath niemals überwand,<lb/> ſo fand ſich doch ſeine hiſtoriſche Phantaſie, die das Ferne und Fremde<lb/> aus dem Nahen und Vertrauten zu erklären liebte, auf Schritt und Tritt<lb/> mächtig angeregt. Die alte Welt trat ihm ſinnlich nahe; in der Geſtalt<lb/> der Aecker auf der Feldflur erkannte er noch die Kunſtfertigkeit der alten<lb/> Agrimenſoren, in dem Elend der modernen Halbpächter ſah er den Fluch des<lb/> römiſchen Latifundienweſens fortwirken; und wenn er im Vatikan den alten<lb/> Sarkophag mit dem rührenden Bilde des treuen Ehepaars beſchaute, dann<lb/> war ihm zu Muthe, als ſähe er ſich ſelber und ſeine verklärte erſte Frau.</p><lb/> <p>So erhielt die langſam gereifte Umarbeitung und Fortſetzung des<lb/> Werkes jenen eigenthümlich warmen Ton, der ſelbſt trockenen Zahlenreihen<lb/> und umſtändlichen kritiſchen Excurſen den Reiz des Lebens gab. Das<lb/> Alterthum hatte bisher als eine von der unſeren völlig abgetrennte Welt<lb/> gegolten; hier aber erſchien Alles vertraut und verſtändlich, der Hiſtoriker<lb/> ſchilderte das Schickſal des C. Pontius und des Pyrrhus ebenſo einfach<lb/> menſchlich wie er vor Kurzem, in einer meiſterhaften Skizze, das Leben ſeines<lb/> Vaters, des großen Reiſenden Carſten Niebuhr erzählt hatte. Den recht-<lb/> gläubigen Philologen der alten Schule war der kühne Kritiker, der die Ueber-<lb/> lieferungen der römiſchen Königsgeſchichte zerſtört hatte, längſt ein Dorn im<lb/> Auge. Welches Entſetzen vollends, da er nunmehr mit ſtaatsmänniſcher<lb/> Einſicht die Nothwendigkeit jener langſamen Revolution, welche die Plebes<lb/> zur Herrſchaft führte, und ſogar die Berechtigung der verrufenen Acker-<lb/> geſetze darlegte; ja er ſcheute ſich nicht, die neue Lehre der Romantiker,<lb/> daß nur die nationale Dichtung wahrhaft lebe, ſelbſt auf die Claſſiker<lb/> Roms anzuwenden und ſagte rundheraus: „wenn Form überhaupt tödet,<lb/> ſo noch mehr die fremde; daher war die römiſche Literatur in einem ge-<lb/> wiſſen Sinne todtgeboren!“</p><lb/> <p>Und doch lag ſelbſt in dieſem freien Geiſte ein Zug krankhafter,<lb/> ſchwarzſichtiger Aengſtlichkeit, der ihn zuweilen die lebendigen Kräfte der<lb/> Zeit völlig verkennen ließ. In finſteren Augenblicken beklagte der Leiden-<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Treitſchke</hi>, Deutſche Geſchichte. <hi rendition="#aq">II.</hi> 5</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [65/0079]
Niebuhr.
Empfindung, den ganzen Ernſt ſeines ſittlichen Urtheils in die Darſtel-
lung jener Römerkämpfe, die den meiſten ſeiner Vorgänger nur trockener
Wiſſensſtoff geweſen waren; jede Wendung des oftmals harten, immer
edlen und urſprünglichen Stiles ſpiegelte die tiefe Bewegung einer großen
Seele wieder. Den erſten Band, ſo geſtand er ſelbſt, hätte er niemals
ſchreiben können ohne eine lebendige Anſchauung vom engliſchen Staate;
ſeitdem hatte er, im Innerſten erſchüttert, die Stürme einer ungeheueren
Zeit über den Staat ſeiner Wahl dahinbrauſen ſehen; er fühlte, wie
ihm durch ſolche Erlebniſſe das Verſtändniß wuchs für die Geſchichte Roms,
welche einſt, wie die See die Ströme, die Geſchichte aller Völker in ſich auf-
genommen. Dann führte ihn ſein diplomatiſcher Beruf nach Rom ſelbſt.
Jahrelang wohnte er dort in dem Palaſte, der auf hohem Schuttberge
mitten aus den grandioſen Trümmern des Marcellustheaters empor-
ſteigt, und obwohl er die Sehnſucht nach der Heimath niemals überwand,
ſo fand ſich doch ſeine hiſtoriſche Phantaſie, die das Ferne und Fremde
aus dem Nahen und Vertrauten zu erklären liebte, auf Schritt und Tritt
mächtig angeregt. Die alte Welt trat ihm ſinnlich nahe; in der Geſtalt
der Aecker auf der Feldflur erkannte er noch die Kunſtfertigkeit der alten
Agrimenſoren, in dem Elend der modernen Halbpächter ſah er den Fluch des
römiſchen Latifundienweſens fortwirken; und wenn er im Vatikan den alten
Sarkophag mit dem rührenden Bilde des treuen Ehepaars beſchaute, dann
war ihm zu Muthe, als ſähe er ſich ſelber und ſeine verklärte erſte Frau.
So erhielt die langſam gereifte Umarbeitung und Fortſetzung des
Werkes jenen eigenthümlich warmen Ton, der ſelbſt trockenen Zahlenreihen
und umſtändlichen kritiſchen Excurſen den Reiz des Lebens gab. Das
Alterthum hatte bisher als eine von der unſeren völlig abgetrennte Welt
gegolten; hier aber erſchien Alles vertraut und verſtändlich, der Hiſtoriker
ſchilderte das Schickſal des C. Pontius und des Pyrrhus ebenſo einfach
menſchlich wie er vor Kurzem, in einer meiſterhaften Skizze, das Leben ſeines
Vaters, des großen Reiſenden Carſten Niebuhr erzählt hatte. Den recht-
gläubigen Philologen der alten Schule war der kühne Kritiker, der die Ueber-
lieferungen der römiſchen Königsgeſchichte zerſtört hatte, längſt ein Dorn im
Auge. Welches Entſetzen vollends, da er nunmehr mit ſtaatsmänniſcher
Einſicht die Nothwendigkeit jener langſamen Revolution, welche die Plebes
zur Herrſchaft führte, und ſogar die Berechtigung der verrufenen Acker-
geſetze darlegte; ja er ſcheute ſich nicht, die neue Lehre der Romantiker,
daß nur die nationale Dichtung wahrhaft lebe, ſelbſt auf die Claſſiker
Roms anzuwenden und ſagte rundheraus: „wenn Form überhaupt tödet,
ſo noch mehr die fremde; daher war die römiſche Literatur in einem ge-
wiſſen Sinne todtgeboren!“
Und doch lag ſelbſt in dieſem freien Geiſte ein Zug krankhafter,
ſchwarzſichtiger Aengſtlichkeit, der ihn zuweilen die lebendigen Kräfte der
Zeit völlig verkennen ließ. In finſteren Augenblicken beklagte der Leiden-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 5
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |