Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. rief Wilhelm dem Jüngeren zu: Du wobst aus dem was geistvoll Duerspähet ein reiches, Weltenall umschlingend Band! Auch dem Idealismus des Bruders stand Alexander weit näher als Schiller glaubte; denn wie Jener fand er den einzigen wirklichen Inhalt der Weltgeschichte in der Ent- wicklung des Menschengeistes, nur daß nach seiner Schätzung das Schauen, Bilden und Dichten hinter dem Forschen zurückstand. Und wie Jener durfte er sich des "freien, von der Gegenwart nie beschränkten Sinnes" rühmen, der Alles groß behandelte und in der peinlichen Einzelforschung immer den Blick auf das All gerichtet hielt. "Er sucht -- so sagte sein Bruder -- wirklich nur Alles zu umfassen, um Eines zu erforschen, dem man nur von allen Seiten zugleich beikommen kann." Die Erkenntniß galt ihm als das höchste der Güter; alle Kräfte seiner Seele erschienen beherrscht, fast aufgesogen von dem einen allumfassenden Wissensdrange. Niemals störte ihm die Liebe oder irgend eine andere starke persönliche Leidenschaft die Bahnen seiner Forschung; Keinen wählte er zum Freunde, der nicht mitbauen half an dem großen Werke seines Lebens. So blieb auch das schöne, innige Verhältniß zwischen den beiden In ihm fand der weltbürgerliche Zug des deutschen Geistes einen II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. rief Wilhelm dem Jüngeren zu: Du wobſt aus dem was geiſtvoll Duerſpähet ein reiches, Weltenall umſchlingend Band! Auch dem Idealismus des Bruders ſtand Alexander weit näher als Schiller glaubte; denn wie Jener fand er den einzigen wirklichen Inhalt der Weltgeſchichte in der Ent- wicklung des Menſchengeiſtes, nur daß nach ſeiner Schätzung das Schauen, Bilden und Dichten hinter dem Forſchen zurückſtand. Und wie Jener durfte er ſich des „freien, von der Gegenwart nie beſchränkten Sinnes“ rühmen, der Alles groß behandelte und in der peinlichen Einzelforſchung immer den Blick auf das All gerichtet hielt. „Er ſucht — ſo ſagte ſein Bruder — wirklich nur Alles zu umfaſſen, um Eines zu erforſchen, dem man nur von allen Seiten zugleich beikommen kann.“ Die Erkenntniß galt ihm als das höchſte der Güter; alle Kräfte ſeiner Seele erſchienen beherrſcht, faſt aufgeſogen von dem einen allumfaſſenden Wiſſensdrange. Niemals ſtörte ihm die Liebe oder irgend eine andere ſtarke perſönliche Leidenſchaft die Bahnen ſeiner Forſchung; Keinen wählte er zum Freunde, der nicht mitbauen half an dem großen Werke ſeines Lebens. So blieb auch das ſchöne, innige Verhältniß zwiſchen den beiden In ihm fand der weltbürgerliche Zug des deutſchen Geiſtes einen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0094" n="80"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 3. 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II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
rief Wilhelm dem Jüngeren zu: Du wobſt aus dem was geiſtvoll Du
erſpähet ein reiches, Weltenall umſchlingend Band! Auch dem Idealismus
des Bruders ſtand Alexander weit näher als Schiller glaubte; denn wie
Jener fand er den einzigen wirklichen Inhalt der Weltgeſchichte in der Ent-
wicklung des Menſchengeiſtes, nur daß nach ſeiner Schätzung das Schauen,
Bilden und Dichten hinter dem Forſchen zurückſtand. Und wie Jener
durfte er ſich des „freien, von der Gegenwart nie beſchränkten Sinnes“
rühmen, der Alles groß behandelte und in der peinlichen Einzelforſchung
immer den Blick auf das All gerichtet hielt. „Er ſucht — ſo ſagte ſein
Bruder — wirklich nur Alles zu umfaſſen, um Eines zu erforſchen, dem
man nur von allen Seiten zugleich beikommen kann.“ Die Erkenntniß
galt ihm als das höchſte der Güter; alle Kräfte ſeiner Seele erſchienen
beherrſcht, faſt aufgeſogen von dem einen allumfaſſenden Wiſſensdrange.
Niemals ſtörte ihm die Liebe oder irgend eine andere ſtarke perſönliche
Leidenſchaft die Bahnen ſeiner Forſchung; Keinen wählte er zum Freunde,
der nicht mitbauen half an dem großen Werke ſeines Lebens.
So blieb auch das ſchöne, innige Verhältniß zwiſchen den beiden
Brüdern mehr eine Gemeinſchaft der Geiſter als ein Herzensbündniß; ihre
Vertraulichkeit wuchs mit den Jahren, je mehr Wilhelm von ſeinen äſthe-
tiſchen Arbeiten zu der vergleichenden Sprachforſchung hinüberging und
alſo dem Gedankenkreiſe des Bruders ſich näherte. In dem Freundes-
bunde dieſes Bruderpaares gewann die Idee der universitas literarum
Fleiſch und Blut; er bewies der Welt die unzerſtörbare Einheit der exak-
ten und der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften, von deren Feindſchaft kleine Geiſter
fabeln. Alexander vermochte weder ſo tief wie Wilhelms ſchwerer und
ſtärker angelegter Genius in die verborgenen Abgründe des Seelenlebens
hinabzublicken, noch ſo kühn wie Jener zu den Höhen der Speculation
emporzuſteigen, auch die reine Mathematik lag der Richtung ſeines Den-
kens fern. Dafür überbot er den Bruder wie alle anderen Zeitgenoſſen
durch die wunderbare Beweglichkeit und Empfänglichkeit eines raſtloſen
Kopfes, der Alles, was Menſchen je geforſcht und gedacht in ſich aufzu-
nehmen und mit ſich zu verſchmelzen wußte.
In ihm fand der weltbürgerliche Zug des deutſchen Geiſtes einen
ſo vollkommenen Ausdruck wie vordem nur in Leibniz. Er hielt ſich be-
rufen, die ganze geiſtige Habe des Zeitalters aufzuſpeichern und zu be-
herrſchen, allen Völkern als ein Vermittler der modernen Bildung, als
ein Lehrer der Humanität zu dienen. Niemand verſtand wie er, Talente
aufzufinden und zu ermuthigen; mit unermüdlich liebenswürdigem Eifer
theilte er Allen mit aus der Fülle ſeines immer lebendigen und immer
bereiten Wiſſens. Goethe verglich ihn einem Brunnen mit vielen Röhren,
wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer
erquicklich und unerſchöpflich entgegenſtrömt. Selbſt die Schwächen des
Charakters, die er mit Leibniz theilte, kamen ſeinem Vermittlerberufe zu
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