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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Circumscriptionsbulle für Preußen.
rüstet. Dennoch fühlte sie sich unsicher, denn befangen in dem protestan-
tischen Gesichtskreise des Nordostens vermochte sie nicht zu verstehen, welche
folgenschwere Wandlung sich in den Gesinnungen der katholischen Welt
allmählich vorbereitete. --

Das classische Zeitalter unserer Literatur hatte den deutschen Katho-
licismus nur oberflächlich berührt, doch ihn immerhin mit einigen prote-
stantischen Ideen befruchtet und durch das neue Ideal der Humanität
überall die Schroffheit der confessionellen Gesinnung gemildert. Erst die
romantische Schule weckte wieder den Schaffensdrang in dieser schlum-
mernden Welt und führte eine dichte Schaar begabter Katholiken in die
Reihen unserer Dichter und Denker ein. Sie wirkte verbindend, indem
sie die Ergebnisse einer wesentlich protestantischen Gedankenarbeit dem katho-
lischen Deutschland mittheilte; aber leider auch trennend, denn alle Reli-
gion ist positiv, mit der Kraft des religiösen Gefühls, das sich seit Schleier-
macher's erstem Auftreten, seit den erschütternden Erfahrungen der Be-
freiungskriege so mächtig erhob, erwachte daher auch in ungeahnter Stärke
das Bewußtsein der kirchlichen Gegensätze. In dem widerspruchsvollen deut-
schen Leben zeigte der Stammbaum der Ideen zu allen Zeiten seltsame Ver-
ästelungen. Wie oft war es schon geschehen, daß grundverschiedene geistige
Mächte von demselben Aste sich abzweigten oder auch auf kurze Zeit mit
einander verwuchsen, um dann wieder auseinanderzugehen. So sproßte
jetzt aus dem kräftigen Zweige der Romantik neben der weltlich freien
historisch-philologischen Forschung zu gleicher Zeit ein ganz anderes Reis
hervor, eine streng katholische Wissenschaft, unduldsam, streitbar, confessionell
von Grund aus, eine Weltanschauung, die in nothwendigem Wachsthum
schließlich dahin gelangte, das romantische Ideal mit dem römischen zu
vertauschen und die gesammte moderne deutsche Bildung bis aufs Blut
zu bekämpfen. Abermals wie einst in den Zeiten der Gegenreformation
verstand die römische Kirche dem Protestantismus mit seinen eigenen
Waffen entgegenzutreten, mit den Waffen, welche ihr Friedrich Schlegel
und die anderen Convertiten des romantischen Dichterkreises zuerst ge-
schliffen hatten.

Auf den Hochschulen Tübingen und Freiburg war die katholische Theo-
logie durch die protestantischen Landesherren mit Lehrkräften und Lehr-
mitteln reich ausgestattet worden. Unter dem Schutze einer akademischen
Freiheit, welche den katholischen Universitäten des achtzehnten Jahrhunderts
fast unbekannt gewesen, entfaltete sie nunmehr eine achtungswerthe ge-
lehrte Thätigkeit. Sie brach gänzlich mit der lateinischen Bildung des
alten Jesuitismus und eignete sich die Sprache der neuen Literatur, das
vormals streng verpönte lutherische Deutsch gelehrig an; sie handhabte
für ihre Zwecke das ganze Rüstzeug der protestantischen Kritik -- so weit
Kritik möglich war im Bereiche der Kirche der Autorität -- und nicht
lange, so übertraf der deutsche Katholicismus durch wissenschaftliche Rüh-

Die Circumſcriptionsbulle für Preußen.
rüſtet. Dennoch fühlte ſie ſich unſicher, denn befangen in dem proteſtan-
tiſchen Geſichtskreiſe des Nordoſtens vermochte ſie nicht zu verſtehen, welche
folgenſchwere Wandlung ſich in den Geſinnungen der katholiſchen Welt
allmählich vorbereitete. —

Das claſſiſche Zeitalter unſerer Literatur hatte den deutſchen Katho-
licismus nur oberflächlich berührt, doch ihn immerhin mit einigen prote-
ſtantiſchen Ideen befruchtet und durch das neue Ideal der Humanität
überall die Schroffheit der confeſſionellen Geſinnung gemildert. Erſt die
romantiſche Schule weckte wieder den Schaffensdrang in dieſer ſchlum-
mernden Welt und führte eine dichte Schaar begabter Katholiken in die
Reihen unſerer Dichter und Denker ein. Sie wirkte verbindend, indem
ſie die Ergebniſſe einer weſentlich proteſtantiſchen Gedankenarbeit dem katho-
liſchen Deutſchland mittheilte; aber leider auch trennend, denn alle Reli-
gion iſt poſitiv, mit der Kraft des religiöſen Gefühls, das ſich ſeit Schleier-
macher’s erſtem Auftreten, ſeit den erſchütternden Erfahrungen der Be-
freiungskriege ſo mächtig erhob, erwachte daher auch in ungeahnter Stärke
das Bewußtſein der kirchlichen Gegenſätze. In dem widerſpruchsvollen deut-
ſchen Leben zeigte der Stammbaum der Ideen zu allen Zeiten ſeltſame Ver-
äſtelungen. Wie oft war es ſchon geſchehen, daß grundverſchiedene geiſtige
Mächte von demſelben Aſte ſich abzweigten oder auch auf kurze Zeit mit
einander verwuchſen, um dann wieder auseinanderzugehen. So ſproßte
jetzt aus dem kräftigen Zweige der Romantik neben der weltlich freien
hiſtoriſch-philologiſchen Forſchung zu gleicher Zeit ein ganz anderes Reis
hervor, eine ſtreng katholiſche Wiſſenſchaft, unduldſam, ſtreitbar, confeſſionell
von Grund aus, eine Weltanſchauung, die in nothwendigem Wachsthum
ſchließlich dahin gelangte, das romantiſche Ideal mit dem römiſchen zu
vertauſchen und die geſammte moderne deutſche Bildung bis aufs Blut
zu bekämpfen. Abermals wie einſt in den Zeiten der Gegenreformation
verſtand die römiſche Kirche dem Proteſtantismus mit ſeinen eigenen
Waffen entgegenzutreten, mit den Waffen, welche ihr Friedrich Schlegel
und die anderen Convertiten des romantiſchen Dichterkreiſes zuerſt ge-
ſchliffen hatten.

Auf den Hochſchulen Tübingen und Freiburg war die katholiſche Theo-
logie durch die proteſtantiſchen Landesherren mit Lehrkräften und Lehr-
mitteln reich ausgeſtattet worden. Unter dem Schutze einer akademiſchen
Freiheit, welche den katholiſchen Univerſitäten des achtzehnten Jahrhunderts
faſt unbekannt geweſen, entfaltete ſie nunmehr eine achtungswerthe ge-
lehrte Thätigkeit. Sie brach gänzlich mit der lateiniſchen Bildung des
alten Jeſuitismus und eignete ſich die Sprache der neuen Literatur, das
vormals ſtreng verpönte lutheriſche Deutſch gelehrig an; ſie handhabte
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lange, ſo übertraf der deutſche Katholicismus durch wiſſenſchaftliche Rüh-

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[207/0223] Die Circumſcriptionsbulle für Preußen. rüſtet. Dennoch fühlte ſie ſich unſicher, denn befangen in dem proteſtan- tiſchen Geſichtskreiſe des Nordoſtens vermochte ſie nicht zu verſtehen, welche folgenſchwere Wandlung ſich in den Geſinnungen der katholiſchen Welt allmählich vorbereitete. — Das claſſiſche Zeitalter unſerer Literatur hatte den deutſchen Katho- licismus nur oberflächlich berührt, doch ihn immerhin mit einigen prote- ſtantiſchen Ideen befruchtet und durch das neue Ideal der Humanität überall die Schroffheit der confeſſionellen Geſinnung gemildert. Erſt die romantiſche Schule weckte wieder den Schaffensdrang in dieſer ſchlum- mernden Welt und führte eine dichte Schaar begabter Katholiken in die Reihen unſerer Dichter und Denker ein. Sie wirkte verbindend, indem ſie die Ergebniſſe einer weſentlich proteſtantiſchen Gedankenarbeit dem katho- liſchen Deutſchland mittheilte; aber leider auch trennend, denn alle Reli- gion iſt poſitiv, mit der Kraft des religiöſen Gefühls, das ſich ſeit Schleier- macher’s erſtem Auftreten, ſeit den erſchütternden Erfahrungen der Be- freiungskriege ſo mächtig erhob, erwachte daher auch in ungeahnter Stärke das Bewußtſein der kirchlichen Gegenſätze. In dem widerſpruchsvollen deut- ſchen Leben zeigte der Stammbaum der Ideen zu allen Zeiten ſeltſame Ver- äſtelungen. Wie oft war es ſchon geſchehen, daß grundverſchiedene geiſtige Mächte von demſelben Aſte ſich abzweigten oder auch auf kurze Zeit mit einander verwuchſen, um dann wieder auseinanderzugehen. So ſproßte jetzt aus dem kräftigen Zweige der Romantik neben der weltlich freien hiſtoriſch-philologiſchen Forſchung zu gleicher Zeit ein ganz anderes Reis hervor, eine ſtreng katholiſche Wiſſenſchaft, unduldſam, ſtreitbar, confeſſionell von Grund aus, eine Weltanſchauung, die in nothwendigem Wachsthum ſchließlich dahin gelangte, das romantiſche Ideal mit dem römiſchen zu vertauſchen und die geſammte moderne deutſche Bildung bis aufs Blut zu bekämpfen. Abermals wie einſt in den Zeiten der Gegenreformation verſtand die römiſche Kirche dem Proteſtantismus mit ſeinen eigenen Waffen entgegenzutreten, mit den Waffen, welche ihr Friedrich Schlegel und die anderen Convertiten des romantiſchen Dichterkreiſes zuerſt ge- ſchliffen hatten. Auf den Hochſchulen Tübingen und Freiburg war die katholiſche Theo- logie durch die proteſtantiſchen Landesherren mit Lehrkräften und Lehr- mitteln reich ausgeſtattet worden. Unter dem Schutze einer akademiſchen Freiheit, welche den katholiſchen Univerſitäten des achtzehnten Jahrhunderts faſt unbekannt geweſen, entfaltete ſie nunmehr eine achtungswerthe ge- lehrte Thätigkeit. Sie brach gänzlich mit der lateiniſchen Bildung des alten Jeſuitismus und eignete ſich die Sprache der neuen Literatur, das vormals ſtreng verpönte lutheriſche Deutſch gelehrig an; ſie handhabte für ihre Zwecke das ganze Rüſtzeug der proteſtantiſchen Kritik — ſo weit Kritik möglich war im Bereiche der Kirche der Autorität — und nicht lange, ſo übertraf der deutſche Katholicismus durch wiſſenſchaftliche Rüh-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/223>, abgerufen am 24.11.2024.