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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 4. Der Ausgang des preußischen Verfassungskampfes.
rigkeit alle anderen Zweige der katholischen Kirche. Er verdankte diesen
Vorzug zum guten Theile der beständigen Berührung mit der protestan-
tischen Welt; denn in Oesterreich, wo diese Berührung fehlte, war auch
von wissenschaftlichem Leben wenig zu spüren. Seit dem Anfang der
zwanziger Jahre tauchte eine ganze Reihe junger theologischer Talente
auf, Hirscher, Drey, Staudenmaier, nachher Möhler und der jüngere
Windischmann, ein geistlicher Kreis, der bald den Namen der Tübinger
Schule erhielt.

Keiner dieser Gelehrten war irgend fanatisch, Hirscher sogar eine
weiche, friedfertige Natur. Aber sie alle standen dem Protestantismus
doch ganz anders gegenüber als jene läßlich duldsamen, weltmännisch auf-
geklärten Kleriker der guten alten Zeit, die über das Portal der Grau-
denzer katholischen Kirche die Inschrift gesetzt hatten: "Wir glauben all'
an einen Gott, und die Liebe vereinigt uns alle." Sie alle fühlten sich
als Vorkämpfer des alleinseligmachenden Glaubens wider die Irrlehren
der Ketzerei, und obgleich die meisten von ihnen noch vor der Gesellschaft
Jesu zurückschraken, so mußte doch eine Schule, welche jedes Zugeständniß
an das evangelische Christenthum grundsätzlich verwarf, kraft der gewal-
tigen Consequenz der römischen Kirche, zuletzt unaufhaltsam in den römi-
schen Papismus ausmünden. Wir Rückschauenden können nicht bezwei-
feln, was die Zeitgenossen freilich nicht zu ahnen vermochten, daß der
jesuitische Katholicismus unserer Tage in gerader Linie von jenen wohl-
meinenden und gemäßigten schwäbischen Theologen abstammt. Der geist-
vollste unter ihnen, Johann Adam Möhler, ein tief religiöser, edler Mann,
der aus schweren Seelenkämpfen sich ganz in die Welt der Ideale ge-
flüchtet hatte, trat schon in seiner ersten größeren Schrift über "die Ein-
heit in der Kirche" dem Protestantismus als Angreifer entgegen. Mit
Hilfe jener kunstreichen Geschichtsconstructionen, die er den protestantischen
Philosophen abgelernt, suchte er zu beweisen, daß die Tradition eine Macht
der Freiheit, die heilige Schrift selber erst aus ihr geschöpft und der Pri-
mat des Papstes schon in den Anfängen des Christenthums im Keime
vorhanden gewesen sei; sein Schluß war, die unsichtbare Kirche der Pro-
testanten setze den Tod an die Stelle des Lebens, ihre Grundsätze liefen
"allem Gemeinleben und in ihrer Consequenz nothwendig allem Christen-
thum zuwider." So mächtig war bereits der confessionelle Zug der Zeit,
daß selbst die rationalistische, den Eiferern längst verdächtige Theologen-
schule der Hermesianer sich ihm nicht ganz entziehen konnte. Wenn Hermes
das katholische Dogma durch die Formeln der Kantischen Philosophie ver-
nünftig zu begründen suchte, so blieb er doch fest auf dem Boden seiner
römischen Kirche, und nichts lag ihm ferner als die Absicht, mit Hilfe des
großen Königsberger Ketzers eine Brücke nach dem Protestantismus hin-
über zu schlagen. Sein Schüler Gratz in Bonn, der sich sogar einige
Hypothesen Lessing's zur Bibelkritik angeeignet hatte, begründete doch eine

III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
rigkeit alle anderen Zweige der katholiſchen Kirche. Er verdankte dieſen
Vorzug zum guten Theile der beſtändigen Berührung mit der proteſtan-
tiſchen Welt; denn in Oeſterreich, wo dieſe Berührung fehlte, war auch
von wiſſenſchaftlichem Leben wenig zu ſpüren. Seit dem Anfang der
zwanziger Jahre tauchte eine ganze Reihe junger theologiſcher Talente
auf, Hirſcher, Drey, Staudenmaier, nachher Möhler und der jüngere
Windiſchmann, ein geiſtlicher Kreis, der bald den Namen der Tübinger
Schule erhielt.

Keiner dieſer Gelehrten war irgend fanatiſch, Hirſcher ſogar eine
weiche, friedfertige Natur. Aber ſie alle ſtanden dem Proteſtantismus
doch ganz anders gegenüber als jene läßlich duldſamen, weltmänniſch auf-
geklärten Kleriker der guten alten Zeit, die über das Portal der Grau-
denzer katholiſchen Kirche die Inſchrift geſetzt hatten: „Wir glauben all’
an einen Gott, und die Liebe vereinigt uns alle.“ Sie alle fühlten ſich
als Vorkämpfer des alleinſeligmachenden Glaubens wider die Irrlehren
der Ketzerei, und obgleich die meiſten von ihnen noch vor der Geſellſchaft
Jeſu zurückſchraken, ſo mußte doch eine Schule, welche jedes Zugeſtändniß
an das evangeliſche Chriſtenthum grundſätzlich verwarf, kraft der gewal-
tigen Conſequenz der römiſchen Kirche, zuletzt unaufhaltſam in den römi-
ſchen Papismus ausmünden. Wir Rückſchauenden können nicht bezwei-
feln, was die Zeitgenoſſen freilich nicht zu ahnen vermochten, daß der
jeſuitiſche Katholicismus unſerer Tage in gerader Linie von jenen wohl-
meinenden und gemäßigten ſchwäbiſchen Theologen abſtammt. Der geiſt-
vollſte unter ihnen, Johann Adam Möhler, ein tief religiöſer, edler Mann,
der aus ſchweren Seelenkämpfen ſich ganz in die Welt der Ideale ge-
flüchtet hatte, trat ſchon in ſeiner erſten größeren Schrift über „die Ein-
heit in der Kirche“ dem Proteſtantismus als Angreifer entgegen. Mit
Hilfe jener kunſtreichen Geſchichtsconſtructionen, die er den proteſtantiſchen
Philoſophen abgelernt, ſuchte er zu beweiſen, daß die Tradition eine Macht
der Freiheit, die heilige Schrift ſelber erſt aus ihr geſchöpft und der Pri-
mat des Papſtes ſchon in den Anfängen des Chriſtenthums im Keime
vorhanden geweſen ſei; ſein Schluß war, die unſichtbare Kirche der Pro-
teſtanten ſetze den Tod an die Stelle des Lebens, ihre Grundſätze liefen
„allem Gemeinleben und in ihrer Conſequenz nothwendig allem Chriſten-
thum zuwider.“ So mächtig war bereits der confeſſionelle Zug der Zeit,
daß ſelbſt die rationaliſtiſche, den Eiferern längſt verdächtige Theologen-
ſchule der Hermeſianer ſich ihm nicht ganz entziehen konnte. Wenn Hermes
das katholiſche Dogma durch die Formeln der Kantiſchen Philoſophie ver-
nünftig zu begründen ſuchte, ſo blieb er doch feſt auf dem Boden ſeiner
römiſchen Kirche, und nichts lag ihm ferner als die Abſicht, mit Hilfe des
großen Königsberger Ketzers eine Brücke nach dem Proteſtantismus hin-
über zu ſchlagen. Sein Schüler Gratz in Bonn, der ſich ſogar einige
Hypotheſen Leſſing’s zur Bibelkritik angeeignet hatte, begründete doch eine

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[208/0224] III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes. rigkeit alle anderen Zweige der katholiſchen Kirche. Er verdankte dieſen Vorzug zum guten Theile der beſtändigen Berührung mit der proteſtan- tiſchen Welt; denn in Oeſterreich, wo dieſe Berührung fehlte, war auch von wiſſenſchaftlichem Leben wenig zu ſpüren. Seit dem Anfang der zwanziger Jahre tauchte eine ganze Reihe junger theologiſcher Talente auf, Hirſcher, Drey, Staudenmaier, nachher Möhler und der jüngere Windiſchmann, ein geiſtlicher Kreis, der bald den Namen der Tübinger Schule erhielt. Keiner dieſer Gelehrten war irgend fanatiſch, Hirſcher ſogar eine weiche, friedfertige Natur. Aber ſie alle ſtanden dem Proteſtantismus doch ganz anders gegenüber als jene läßlich duldſamen, weltmänniſch auf- geklärten Kleriker der guten alten Zeit, die über das Portal der Grau- denzer katholiſchen Kirche die Inſchrift geſetzt hatten: „Wir glauben all’ an einen Gott, und die Liebe vereinigt uns alle.“ Sie alle fühlten ſich als Vorkämpfer des alleinſeligmachenden Glaubens wider die Irrlehren der Ketzerei, und obgleich die meiſten von ihnen noch vor der Geſellſchaft Jeſu zurückſchraken, ſo mußte doch eine Schule, welche jedes Zugeſtändniß an das evangeliſche Chriſtenthum grundſätzlich verwarf, kraft der gewal- tigen Conſequenz der römiſchen Kirche, zuletzt unaufhaltſam in den römi- ſchen Papismus ausmünden. Wir Rückſchauenden können nicht bezwei- feln, was die Zeitgenoſſen freilich nicht zu ahnen vermochten, daß der jeſuitiſche Katholicismus unſerer Tage in gerader Linie von jenen wohl- meinenden und gemäßigten ſchwäbiſchen Theologen abſtammt. Der geiſt- vollſte unter ihnen, Johann Adam Möhler, ein tief religiöſer, edler Mann, der aus ſchweren Seelenkämpfen ſich ganz in die Welt der Ideale ge- flüchtet hatte, trat ſchon in ſeiner erſten größeren Schrift über „die Ein- heit in der Kirche“ dem Proteſtantismus als Angreifer entgegen. Mit Hilfe jener kunſtreichen Geſchichtsconſtructionen, die er den proteſtantiſchen Philoſophen abgelernt, ſuchte er zu beweiſen, daß die Tradition eine Macht der Freiheit, die heilige Schrift ſelber erſt aus ihr geſchöpft und der Pri- mat des Papſtes ſchon in den Anfängen des Chriſtenthums im Keime vorhanden geweſen ſei; ſein Schluß war, die unſichtbare Kirche der Pro- teſtanten ſetze den Tod an die Stelle des Lebens, ihre Grundſätze liefen „allem Gemeinleben und in ihrer Conſequenz nothwendig allem Chriſten- thum zuwider.“ So mächtig war bereits der confeſſionelle Zug der Zeit, daß ſelbſt die rationaliſtiſche, den Eiferern längſt verdächtige Theologen- ſchule der Hermeſianer ſich ihm nicht ganz entziehen konnte. Wenn Hermes das katholiſche Dogma durch die Formeln der Kantiſchen Philoſophie ver- nünftig zu begründen ſuchte, ſo blieb er doch feſt auf dem Boden ſeiner römiſchen Kirche, und nichts lag ihm ferner als die Abſicht, mit Hilfe des großen Königsberger Ketzers eine Brücke nach dem Proteſtantismus hin- über zu ſchlagen. Sein Schüler Gratz in Bonn, der ſich ſogar einige Hypotheſen Leſſing’s zur Bibelkritik angeeignet hatte, begründete doch eine

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/224>, abgerufen am 21.11.2024.