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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 5. Die Großmächte und die Trias.
überströmenden Artikel, der die liberalen Pläne des Abgeordneten Keßler,
"des Letzten der Römer" und vornehmlich die hehren Absichten des Königs
selber schilderte: König Wilhelm sei bereit, sein Heer zu vermindern, auf
ein Drittel seiner Civilliste, welche den achten Theil des Staatseinkom-
mens verschlinge, hochherzig zu verzichten und insbesondere das unnütze
Ministerium des Auswärtigen aufzuheben; "dann gäbe es keine jener
Rundschreiben mehr, welche für nichts und wieder nichts so viel Lärm er-
regen, die Regierung bloßstellen und den Staat gefährden." Mit dieser
Selbstkritik nahm der Staatsmann, der vier Jahre lang mittelstaatliche
Großmachtspolitik getrieben, von seinem Wirken Abschied! Der Verfasser
des Artikels wurde bald entlarot und hatte sich für immer in der diplo-
matischen Welt unmöglich gemacht. Also waren bereits zwei Opfer dem
Grimme der Großmächte geschlachtet worden. Beiden Entlassenen ließ der
König unverbrüchliches Stillschweigen auferlegen; denn wollten sie reden,
so konnten sie leicht beweisen, daß der Monarch in dem kleinen Kriege
wider die Großmächte allezeit noch streitlustiger gewesen war als seine
Räthe.*)

Mit Alledem war das diplomatische Zerwürfniß noch immer nicht
ausgeglichen, da König Wilhelm sich schlechterdings nicht entschließen konnte,
den beleidigten Monarchen ein versöhnliches Wort zu schreiben. Vergeb-
lich versuchte er, bald durch seinen Gesandten Beroldingen in Petersburg,
bald durch Tatistscheff in Wien, die guten Dienste seines kaiserlichen Schwa-
gers zu erbitten. Der Czar meinte: am Besten, wenn man den Schmol-
lenden eine Weile seinem eigenen Nachdenken überlasse; strecke man ihm
auch nur einen Finger entgegen, so werde er sich sogleich zu neuem Streite
begeistert und in dem Gefühle seiner Wichtigkeit bestärkt fühlen.**) Mehr
als ein Jahr lang verharrte der Württembergische Hof in seiner Verein-
samung: seine Gesandten führten in den Hauptstädten des Ostens ein
wenig beneidenswerthes Dasein, während in Stuttgart nur drei junge
Geschäftsträger der Ostmächte saßen, die sich mit dem Visiren der Pässe
begnügten und niemals bei Hofe erschienen. Die Hofbälle ohne Diplo-
maten boten einen herzzerreißenden Anblick. Auf Augenblicke tröstete den
König wohl die Gunst des Volks, das Märchen von der schwäbischen Frei-
heit war noch nicht ganz vergessen. Als er einmal durch Heidelberg kam,
schaarten sich die Studenten zusammen um "dem Vertheidiger der natio-
nalen Freiheit" ein Hoch zu bringen. Im December eröffnete er seinen
Landtag mit einer freiheitsstolzen Rede, obwohl die Kammer der Stan-
desherren wieder einmal nicht erschienen und das Schauspiel dieses un-

*) Geh. Rath Vellnagel an Wangenheim, 28. Dec. 1823. Wangenheim's Ant-
wort, 3. Jan.; Küster's Bericht, 7. Febr. 1824.
**) Tatistscheff an Nesselrode, [Formel 1] Juli; Antwort Nesselrode's, 2. Aug. 1823.

III. 5. Die Großmächte und die Trias.
überſtrömenden Artikel, der die liberalen Pläne des Abgeordneten Keßler,
„des Letzten der Römer“ und vornehmlich die hehren Abſichten des Königs
ſelber ſchilderte: König Wilhelm ſei bereit, ſein Heer zu vermindern, auf
ein Drittel ſeiner Civilliſte, welche den achten Theil des Staatseinkom-
mens verſchlinge, hochherzig zu verzichten und insbeſondere das unnütze
Miniſterium des Auswärtigen aufzuheben; „dann gäbe es keine jener
Rundſchreiben mehr, welche für nichts und wieder nichts ſo viel Lärm er-
regen, die Regierung bloßſtellen und den Staat gefährden.“ Mit dieſer
Selbſtkritik nahm der Staatsmann, der vier Jahre lang mittelſtaatliche
Großmachtspolitik getrieben, von ſeinem Wirken Abſchied! Der Verfaſſer
des Artikels wurde bald entlarot und hatte ſich für immer in der diplo-
matiſchen Welt unmöglich gemacht. Alſo waren bereits zwei Opfer dem
Grimme der Großmächte geſchlachtet worden. Beiden Entlaſſenen ließ der
König unverbrüchliches Stillſchweigen auferlegen; denn wollten ſie reden,
ſo konnten ſie leicht beweiſen, daß der Monarch in dem kleinen Kriege
wider die Großmächte allezeit noch ſtreitluſtiger geweſen war als ſeine
Räthe.*)

Mit Alledem war das diplomatiſche Zerwürfniß noch immer nicht
ausgeglichen, da König Wilhelm ſich ſchlechterdings nicht entſchließen konnte,
den beleidigten Monarchen ein verſöhnliches Wort zu ſchreiben. Vergeb-
lich verſuchte er, bald durch ſeinen Geſandten Beroldingen in Petersburg,
bald durch Tatiſtſcheff in Wien, die guten Dienſte ſeines kaiſerlichen Schwa-
gers zu erbitten. Der Czar meinte: am Beſten, wenn man den Schmol-
lenden eine Weile ſeinem eigenen Nachdenken überlaſſe; ſtrecke man ihm
auch nur einen Finger entgegen, ſo werde er ſich ſogleich zu neuem Streite
begeiſtert und in dem Gefühle ſeiner Wichtigkeit beſtärkt fühlen.**) Mehr
als ein Jahr lang verharrte der Württembergiſche Hof in ſeiner Verein-
ſamung: ſeine Geſandten führten in den Hauptſtädten des Oſtens ein
wenig beneidenswerthes Daſein, während in Stuttgart nur drei junge
Geſchäftsträger der Oſtmächte ſaßen, die ſich mit dem Viſiren der Päſſe
begnügten und niemals bei Hofe erſchienen. Die Hofbälle ohne Diplo-
maten boten einen herzzerreißenden Anblick. Auf Augenblicke tröſtete den
König wohl die Gunſt des Volks, das Märchen von der ſchwäbiſchen Frei-
heit war noch nicht ganz vergeſſen. Als er einmal durch Heidelberg kam,
ſchaarten ſich die Studenten zuſammen um „dem Vertheidiger der natio-
nalen Freiheit“ ein Hoch zu bringen. Im December eröffnete er ſeinen
Landtag mit einer freiheitsſtolzen Rede, obwohl die Kammer der Stan-
desherren wieder einmal nicht erſchienen und das Schauſpiel dieſes un-

*) Geh. Rath Vellnagel an Wangenheim, 28. Dec. 1823. Wangenheim’s Ant-
wort, 3. Jan.; Küſter’s Bericht, 7. Febr. 1824.
**) Tatiſtſcheff an Neſſelrode, [Formel 1] Juli; Antwort Neſſelrode’s, 2. Aug. 1823.
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[322/0338] III. 5. Die Großmächte und die Trias. überſtrömenden Artikel, der die liberalen Pläne des Abgeordneten Keßler, „des Letzten der Römer“ und vornehmlich die hehren Abſichten des Königs ſelber ſchilderte: König Wilhelm ſei bereit, ſein Heer zu vermindern, auf ein Drittel ſeiner Civilliſte, welche den achten Theil des Staatseinkom- mens verſchlinge, hochherzig zu verzichten und insbeſondere das unnütze Miniſterium des Auswärtigen aufzuheben; „dann gäbe es keine jener Rundſchreiben mehr, welche für nichts und wieder nichts ſo viel Lärm er- regen, die Regierung bloßſtellen und den Staat gefährden.“ Mit dieſer Selbſtkritik nahm der Staatsmann, der vier Jahre lang mittelſtaatliche Großmachtspolitik getrieben, von ſeinem Wirken Abſchied! Der Verfaſſer des Artikels wurde bald entlarot und hatte ſich für immer in der diplo- matiſchen Welt unmöglich gemacht. Alſo waren bereits zwei Opfer dem Grimme der Großmächte geſchlachtet worden. Beiden Entlaſſenen ließ der König unverbrüchliches Stillſchweigen auferlegen; denn wollten ſie reden, ſo konnten ſie leicht beweiſen, daß der Monarch in dem kleinen Kriege wider die Großmächte allezeit noch ſtreitluſtiger geweſen war als ſeine Räthe. *) Mit Alledem war das diplomatiſche Zerwürfniß noch immer nicht ausgeglichen, da König Wilhelm ſich ſchlechterdings nicht entſchließen konnte, den beleidigten Monarchen ein verſöhnliches Wort zu ſchreiben. Vergeb- lich verſuchte er, bald durch ſeinen Geſandten Beroldingen in Petersburg, bald durch Tatiſtſcheff in Wien, die guten Dienſte ſeines kaiſerlichen Schwa- gers zu erbitten. Der Czar meinte: am Beſten, wenn man den Schmol- lenden eine Weile ſeinem eigenen Nachdenken überlaſſe; ſtrecke man ihm auch nur einen Finger entgegen, ſo werde er ſich ſogleich zu neuem Streite begeiſtert und in dem Gefühle ſeiner Wichtigkeit beſtärkt fühlen. **) Mehr als ein Jahr lang verharrte der Württembergiſche Hof in ſeiner Verein- ſamung: ſeine Geſandten führten in den Hauptſtädten des Oſtens ein wenig beneidenswerthes Daſein, während in Stuttgart nur drei junge Geſchäftsträger der Oſtmächte ſaßen, die ſich mit dem Viſiren der Päſſe begnügten und niemals bei Hofe erſchienen. Die Hofbälle ohne Diplo- maten boten einen herzzerreißenden Anblick. Auf Augenblicke tröſtete den König wohl die Gunſt des Volks, das Märchen von der ſchwäbiſchen Frei- heit war noch nicht ganz vergeſſen. Als er einmal durch Heidelberg kam, ſchaarten ſich die Studenten zuſammen um „dem Vertheidiger der natio- nalen Freiheit“ ein Hoch zu bringen. Im December eröffnete er ſeinen Landtag mit einer freiheitsſtolzen Rede, obwohl die Kammer der Stan- desherren wieder einmal nicht erſchienen und das Schauſpiel dieſes un- *) Geh. Rath Vellnagel an Wangenheim, 28. Dec. 1823. Wangenheim’s Ant- wort, 3. Jan.; Küſter’s Bericht, 7. Febr. 1824. **) Tatiſtſcheff an Neſſelrode, [FORMEL] Juli; Antwort Neſſelrode’s, 2. Aug. 1823.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/338>, abgerufen am 22.11.2024.