Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. eine für die östlichen Provinzen. Die letzteren sechs sagten im Wesent-lichen alle dasselbe und wurden nur darum nicht zu einem einzigen Ge- setze zusammengefaßt, weil die historische Romantik sich an Provinzialge- setzen absonderlich ergötzte. Die neuen Kreistage hatten "die Kreisver- waltung des Landraths" zu begleiten und zu unterstützen, Wünsche und Rathschläge kundzugeben, auch für die Vertheilung einiger Staatssteuern zu sorgen, jedoch die erste Vorbedingung lebendiger Selbstverwaltung, die Verfügung über selbständige eigene Einkünfte blieb ihnen versagt. Nur dieser Ohnmacht der Kreistage war es zu verdanken, daß die Virilstimmen der Ritterschaft den Bürgern und Bauern nicht völlig unerträglich wurden. Auf den Kreistagen der Monarchie tagten etwa 10,000 Rittergutsbesitzer neben 979 städtischen und 975 bäuerlichen Bevollmächtigten; im Regie- rungsbezirke Cöslin, wo die Macht der Ritterschaft am stärksten war, zählte der erste Stand 729, der zweite 36, der dritte 45 Stimmen. Eine solche Unbilligkeit mußte die socialen Gegensätze verschärfen. Der stille Groll gegen den Adel nahm im Bürgerthum und Bauernstande mit den Jahren zu, obwohl die Ritterschaft fast überall tüchtige Männer für die Landrathsstellen vorschlug und die fortschreitende Ablösung der bäuerlichen Lasten manchen Anlaß zum Unfrieden beseitigte. -- Dergestalt hatte die altständische Partei noch einmal einen vollen Auch weitere Kreise betheiligten sich lebhaft an dem Streite. Die Reform III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. eine für die öſtlichen Provinzen. Die letzteren ſechs ſagten im Weſent-lichen alle daſſelbe und wurden nur darum nicht zu einem einzigen Ge- ſetze zuſammengefaßt, weil die hiſtoriſche Romantik ſich an Provinzialge- ſetzen abſonderlich ergötzte. Die neuen Kreistage hatten „die Kreisver- waltung des Landraths“ zu begleiten und zu unterſtützen, Wünſche und Rathſchläge kundzugeben, auch für die Vertheilung einiger Staatsſteuern zu ſorgen, jedoch die erſte Vorbedingung lebendiger Selbſtverwaltung, die Verfügung über ſelbſtändige eigene Einkünfte blieb ihnen verſagt. Nur dieſer Ohnmacht der Kreistage war es zu verdanken, daß die Virilſtimmen der Ritterſchaft den Bürgern und Bauern nicht völlig unerträglich wurden. Auf den Kreistagen der Monarchie tagten etwa 10,000 Rittergutsbeſitzer neben 979 ſtädtiſchen und 975 bäuerlichen Bevollmächtigten; im Regie- rungsbezirke Cöslin, wo die Macht der Ritterſchaft am ſtärkſten war, zählte der erſte Stand 729, der zweite 36, der dritte 45 Stimmen. Eine ſolche Unbilligkeit mußte die ſocialen Gegenſätze verſchärfen. Der ſtille Groll gegen den Adel nahm im Bürgerthum und Bauernſtande mit den Jahren zu, obwohl die Ritterſchaft faſt überall tüchtige Männer für die Landrathsſtellen vorſchlug und die fortſchreitende Ablöſung der bäuerlichen Laſten manchen Anlaß zum Unfrieden beſeitigte. — Dergeſtalt hatte die altſtändiſche Partei noch einmal einen vollen Auch weitere Kreiſe betheiligten ſich lebhaft an dem Streite. Die Reform <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0390" n="374"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.</fw><lb/> eine für die öſtlichen Provinzen. Die letzteren ſechs ſagten im Weſent-<lb/> lichen alle daſſelbe und wurden nur darum nicht zu einem einzigen Ge-<lb/> ſetze zuſammengefaßt, weil die hiſtoriſche Romantik ſich an Provinzialge-<lb/> ſetzen abſonderlich ergötzte. 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Denn auf<lb/> Schritt und Tritt ſah ſich die Geſetzgebung gehemmt durch die widerſpre-<lb/> chenden Anträge dieſer acht Landtage. Die Rheinländer dachten mindeſtens<lb/> die Grundzüge ihres franzöſiſchen Munizipalweſens zu retten, die Bran-<lb/> denburger und Altpommern verlangten Beſchränkung der Zahl der Bürger,<lb/> die Sachſen erweiterte Rechte für den Magiſtrat. Die Neuvorpommern<lb/> endlich wollten ſich aus dem ehrwürdigen Bau ihrer alten, ſchwerfälligen,<lb/> aber volksthümlich tüchtigen Städteverfaſſung keinen Stein ausbrechen<lb/> laſſen; jeder Stralſunder dachte mit Stolz an die ruhmreiche Geſchichte<lb/> ſeiner Achtundvierziger und Hundertmänner und hielt ſtreng darauf, daß<lb/> der königliche Commandant nach althanſiſchem Brauche noch allabendlich<lb/> die Schlüſſel der Feſtung dem regierenden Bürgermeiſter übergab.</p><lb/> <p>Auch weitere Kreiſe betheiligten ſich lebhaft an dem Streite. 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III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
eine für die öſtlichen Provinzen. Die letzteren ſechs ſagten im Weſent-
lichen alle daſſelbe und wurden nur darum nicht zu einem einzigen Ge-
ſetze zuſammengefaßt, weil die hiſtoriſche Romantik ſich an Provinzialge-
ſetzen abſonderlich ergötzte. Die neuen Kreistage hatten „die Kreisver-
waltung des Landraths“ zu begleiten und zu unterſtützen, Wünſche und
Rathſchläge kundzugeben, auch für die Vertheilung einiger Staatsſteuern
zu ſorgen, jedoch die erſte Vorbedingung lebendiger Selbſtverwaltung, die
Verfügung über ſelbſtändige eigene Einkünfte blieb ihnen verſagt. Nur
dieſer Ohnmacht der Kreistage war es zu verdanken, daß die Virilſtimmen
der Ritterſchaft den Bürgern und Bauern nicht völlig unerträglich wurden.
Auf den Kreistagen der Monarchie tagten etwa 10,000 Rittergutsbeſitzer
neben 979 ſtädtiſchen und 975 bäuerlichen Bevollmächtigten; im Regie-
rungsbezirke Cöslin, wo die Macht der Ritterſchaft am ſtärkſten war,
zählte der erſte Stand 729, der zweite 36, der dritte 45 Stimmen. Eine
ſolche Unbilligkeit mußte die ſocialen Gegenſätze verſchärfen. Der ſtille
Groll gegen den Adel nahm im Bürgerthum und Bauernſtande mit den
Jahren zu, obwohl die Ritterſchaft faſt überall tüchtige Männer für die
Landrathsſtellen vorſchlug und die fortſchreitende Ablöſung der bäuerlichen
Laſten manchen Anlaß zum Unfrieden beſeitigte. —
Dergeſtalt hatte die altſtändiſche Partei noch einmal einen vollen
Sieg davon getragen. An die Neuordnung des Landgemeindeweſens war
nun nicht mehr zu denken, da Kreisſtandſchaft und Gutsherrſchaft ein-
ander wechſelſeitig bedingten und der Adel auf einigen Provinzialland-
tagen ſogar die Verſtärkung ſeiner gutsherrlichen Polizeigewalt beantragte.
Darum blieb dieſer Reformplan Hardenberg’s vorläufig liegen. Nur an der
Umgeſtaltung der Städteordnung ward im Staatsrath weiter gearbeitet,
aber auch nur langſam und zunächſt noch ohne Ergebniß. Denn auf
Schritt und Tritt ſah ſich die Geſetzgebung gehemmt durch die widerſpre-
chenden Anträge dieſer acht Landtage. Die Rheinländer dachten mindeſtens
die Grundzüge ihres franzöſiſchen Munizipalweſens zu retten, die Bran-
denburger und Altpommern verlangten Beſchränkung der Zahl der Bürger,
die Sachſen erweiterte Rechte für den Magiſtrat. Die Neuvorpommern
endlich wollten ſich aus dem ehrwürdigen Bau ihrer alten, ſchwerfälligen,
aber volksthümlich tüchtigen Städteverfaſſung keinen Stein ausbrechen
laſſen; jeder Stralſunder dachte mit Stolz an die ruhmreiche Geſchichte
ſeiner Achtundvierziger und Hundertmänner und hielt ſtreng darauf, daß
der königliche Commandant nach althanſiſchem Brauche noch allabendlich
die Schlüſſel der Feſtung dem regierenden Bürgermeiſter übergab.
Auch weitere Kreiſe betheiligten ſich lebhaft an dem Streite. Die Reform
der Städteordnung war in dieſen ſtillen Jahren die einzige öffentliche Ange-
legenheit, welche die preußiſche Preſſe ernſtlich beſchäftigte. Streckfuß und
der ſchleſiſche Bürgermeiſter Perſchke vertheidigten in gründlichen Schriften
die Städteordnung Stein’s — die politiſche Bibel der Preußen, wie ihre
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