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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Der Federkrieg wegen der Städteordnung.
Bewunderer sagten; Fr. v. Raumer rügte einzelne Mißstände ohne das
Gesetz selber zu bekämpfen, Ulmenstein vertrat die rheinländische, Wiese
die hochconservative kurmärkische Ansicht. Man konnte nicht leugnen, daß
manche Stadtverordnetenversammlung sich roh und engherzig benahm, zu-
mal bei der Einrichtung der Gemeindeschulen. Man bemerkte mit Be-
fremden, daß allmählich -- ganz gegen Stein's Absicht -- eine neue Be-
amtenklasse heranwuchs, eine Communalbureaukratie von besoldeten Bür-
germeistern und Stadträthen, welche bereitwillig von einer Stadt zur andern
wandernd, fast ebenso heimathlos wie das Staatsbeamtenthum, sich gleich-
wohl berufen glaubte, den Municipalgeist gegen die Staatsgewalt zu ver-
treten. Aber was man auch tadeln mochte, im Ganzen bestand Stein's
Werk die Feuerprobe dieses literarischen Kampfes glänzend.

Alle ruhigen Beurtheiler, und auch die Regierung selbst, begegneten
sich in der Erkenntniß, daß doch nur die Verbesserung einzelner Mängel
nöthig sei, und Raumer meinte stolz: wer Preußens Beamtenthum,
Heer und Städtewesen mit dem constitutionellen Präfektenstaate Frank-
reichs vergleiche, der müsse bekennen, daß die Preußen das Wesen der
Freiheit besäßen, die Franzosen nur den Schein. Wie weit aus ein-
ander gingen doch die politischen Bahnen der beiden Nationen! Zur näm-
lichen Zeit (1829), da die Preußen, vom Ausland gänzlich unbeachtet,
sich nüchtern über die Grundsätze ihrer Selbstverwaltung zu verständigen
suchten, wurde den französischen Kammern ein neues Gemeindegesetz vor-
gelegt. Bewundernd lauschte Europa der prächtigen Redeschlacht, die mit
der Verwerfung des Gesetzes und dem Rücktritt der Minister endigte.
Und doch lag in diesen tönenden Reden weniger Gehalt als in jenen
schmucklosen, geschäftsmäßigen preußischen Schriften; denn Niemand in
Frankreich hielt es der Mühe werth, die Lebensbedingungen der Gemeinde-
freiheit zu prüfen; von dem Despotismus der napoleonischen Verwaltung
wollte keine Partei das Mindeste missen, die ganze Leidenschaft des par-
lamentarischen Streites warf sich auf die untergeordnete Frage, wie viele
Wähler an den Gemeinderathswahlen theilnehmen sollten. Hier stürmische
Kämpfe um die Ministersessel und unwürdige Unterwerfung unter die
Allmacht der Präfekten, dort ein fast kindliches Vertrauen auf die abso-
lute Krone, sehr wenig Empfänglichkeit für die constitutionellen Lehren
und daneben ein helles Verständniß für die Pflichten der Selbstverwal-
tung: -- der ganze Gegensatz romanischer und germanischer Staatsgesin-
nung trat grell hervor. Erst die Zukunft sollte lehren, daß die ruhigere
Entwicklung die gesündere war.

Sehr langsam freilich war diese Entwicklung; die Kräfte des Beharrens
zeigten sich so stark, daß die Krone vollauf zu thun hatte, nur das Er-
rungene zu behaupten. Sie beabsichtigte, da bereits eine gemeinsame Ge-
werbesteuer bestand, nunmehr auch eine Gewerbeordnung für den ge-
sammten Staat einzuführen; doch als sie die Gutachten der Provinzial-

Der Federkrieg wegen der Städteordnung.
Bewunderer ſagten; Fr. v. Raumer rügte einzelne Mißſtände ohne das
Geſetz ſelber zu bekämpfen, Ulmenſtein vertrat die rheinländiſche, Wieſe
die hochconſervative kurmärkiſche Anſicht. Man konnte nicht leugnen, daß
manche Stadtverordnetenverſammlung ſich roh und engherzig benahm, zu-
mal bei der Einrichtung der Gemeindeſchulen. Man bemerkte mit Be-
fremden, daß allmählich — ganz gegen Stein’s Abſicht — eine neue Be-
amtenklaſſe heranwuchs, eine Communalbureaukratie von beſoldeten Bür-
germeiſtern und Stadträthen, welche bereitwillig von einer Stadt zur andern
wandernd, faſt ebenſo heimathlos wie das Staatsbeamtenthum, ſich gleich-
wohl berufen glaubte, den Municipalgeiſt gegen die Staatsgewalt zu ver-
treten. Aber was man auch tadeln mochte, im Ganzen beſtand Stein’s
Werk die Feuerprobe dieſes literariſchen Kampfes glänzend.

Alle ruhigen Beurtheiler, und auch die Regierung ſelbſt, begegneten
ſich in der Erkenntniß, daß doch nur die Verbeſſerung einzelner Mängel
nöthig ſei, und Raumer meinte ſtolz: wer Preußens Beamtenthum,
Heer und Städteweſen mit dem conſtitutionellen Präfektenſtaate Frank-
reichs vergleiche, der müſſe bekennen, daß die Preußen das Weſen der
Freiheit beſäßen, die Franzoſen nur den Schein. Wie weit aus ein-
ander gingen doch die politiſchen Bahnen der beiden Nationen! Zur näm-
lichen Zeit (1829), da die Preußen, vom Ausland gänzlich unbeachtet,
ſich nüchtern über die Grundſätze ihrer Selbſtverwaltung zu verſtändigen
ſuchten, wurde den franzöſiſchen Kammern ein neues Gemeindegeſetz vor-
gelegt. Bewundernd lauſchte Europa der prächtigen Redeſchlacht, die mit
der Verwerfung des Geſetzes und dem Rücktritt der Miniſter endigte.
Und doch lag in dieſen tönenden Reden weniger Gehalt als in jenen
ſchmuckloſen, geſchäftsmäßigen preußiſchen Schriften; denn Niemand in
Frankreich hielt es der Mühe werth, die Lebensbedingungen der Gemeinde-
freiheit zu prüfen; von dem Despotismus der napoleoniſchen Verwaltung
wollte keine Partei das Mindeſte miſſen, die ganze Leidenſchaft des par-
lamentariſchen Streites warf ſich auf die untergeordnete Frage, wie viele
Wähler an den Gemeinderathswahlen theilnehmen ſollten. Hier ſtürmiſche
Kämpfe um die Miniſterſeſſel und unwürdige Unterwerfung unter die
Allmacht der Präfekten, dort ein faſt kindliches Vertrauen auf die abſo-
lute Krone, ſehr wenig Empfänglichkeit für die conſtitutionellen Lehren
und daneben ein helles Verſtändniß für die Pflichten der Selbſtverwal-
tung: — der ganze Gegenſatz romaniſcher und germaniſcher Staatsgeſin-
nung trat grell hervor. Erſt die Zukunft ſollte lehren, daß die ruhigere
Entwicklung die geſündere war.

Sehr langſam freilich war dieſe Entwicklung; die Kräfte des Beharrens
zeigten ſich ſo ſtark, daß die Krone vollauf zu thun hatte, nur das Er-
rungene zu behaupten. Sie beabſichtigte, da bereits eine gemeinſame Ge-
werbeſteuer beſtand, nunmehr auch eine Gewerbeordnung für den ge-
ſammten Staat einzuführen; doch als ſie die Gutachten der Provinzial-

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[375/0391] Der Federkrieg wegen der Städteordnung. Bewunderer ſagten; Fr. v. Raumer rügte einzelne Mißſtände ohne das Geſetz ſelber zu bekämpfen, Ulmenſtein vertrat die rheinländiſche, Wieſe die hochconſervative kurmärkiſche Anſicht. Man konnte nicht leugnen, daß manche Stadtverordnetenverſammlung ſich roh und engherzig benahm, zu- mal bei der Einrichtung der Gemeindeſchulen. Man bemerkte mit Be- fremden, daß allmählich — ganz gegen Stein’s Abſicht — eine neue Be- amtenklaſſe heranwuchs, eine Communalbureaukratie von beſoldeten Bür- germeiſtern und Stadträthen, welche bereitwillig von einer Stadt zur andern wandernd, faſt ebenſo heimathlos wie das Staatsbeamtenthum, ſich gleich- wohl berufen glaubte, den Municipalgeiſt gegen die Staatsgewalt zu ver- treten. Aber was man auch tadeln mochte, im Ganzen beſtand Stein’s Werk die Feuerprobe dieſes literariſchen Kampfes glänzend. Alle ruhigen Beurtheiler, und auch die Regierung ſelbſt, begegneten ſich in der Erkenntniß, daß doch nur die Verbeſſerung einzelner Mängel nöthig ſei, und Raumer meinte ſtolz: wer Preußens Beamtenthum, Heer und Städteweſen mit dem conſtitutionellen Präfektenſtaate Frank- reichs vergleiche, der müſſe bekennen, daß die Preußen das Weſen der Freiheit beſäßen, die Franzoſen nur den Schein. Wie weit aus ein- ander gingen doch die politiſchen Bahnen der beiden Nationen! Zur näm- lichen Zeit (1829), da die Preußen, vom Ausland gänzlich unbeachtet, ſich nüchtern über die Grundſätze ihrer Selbſtverwaltung zu verſtändigen ſuchten, wurde den franzöſiſchen Kammern ein neues Gemeindegeſetz vor- gelegt. Bewundernd lauſchte Europa der prächtigen Redeſchlacht, die mit der Verwerfung des Geſetzes und dem Rücktritt der Miniſter endigte. Und doch lag in dieſen tönenden Reden weniger Gehalt als in jenen ſchmuckloſen, geſchäftsmäßigen preußiſchen Schriften; denn Niemand in Frankreich hielt es der Mühe werth, die Lebensbedingungen der Gemeinde- freiheit zu prüfen; von dem Despotismus der napoleoniſchen Verwaltung wollte keine Partei das Mindeſte miſſen, die ganze Leidenſchaft des par- lamentariſchen Streites warf ſich auf die untergeordnete Frage, wie viele Wähler an den Gemeinderathswahlen theilnehmen ſollten. Hier ſtürmiſche Kämpfe um die Miniſterſeſſel und unwürdige Unterwerfung unter die Allmacht der Präfekten, dort ein faſt kindliches Vertrauen auf die abſo- lute Krone, ſehr wenig Empfänglichkeit für die conſtitutionellen Lehren und daneben ein helles Verſtändniß für die Pflichten der Selbſtverwal- tung: — der ganze Gegenſatz romaniſcher und germaniſcher Staatsgeſin- nung trat grell hervor. Erſt die Zukunft ſollte lehren, daß die ruhigere Entwicklung die geſündere war. Sehr langſam freilich war dieſe Entwicklung; die Kräfte des Beharrens zeigten ſich ſo ſtark, daß die Krone vollauf zu thun hatte, nur das Er- rungene zu behaupten. Sie beabſichtigte, da bereits eine gemeinſame Ge- werbeſteuer beſtand, nunmehr auch eine Gewerbeordnung für den ge- ſammten Staat einzuführen; doch als ſie die Gutachten der Provinzial-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/391>, abgerufen am 24.11.2024.